Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1880 Nr. 6

Spalte:

136-137

Autor/Hrsg.:

Paludan-Müller, B.

Titel/Untertitel:

Das Sichtbare und das Unsichtbare. Versuch einer schiedlich-friedlichen Auseinandersetzung mit dem modernen Rationalismus 1880

Rezensent:

Hartung, Bruno

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

135

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 6.

136

teriellen und der geiftigen Thatfachen zerfällt, in den
Makrokosmos der räumlichen Aufsenwelt und den Mikrokosmos
des Seelenlebens, deren wechfelfeitiger Zu-
fammenhang bekanntlich zu den hartnäckigften Räthfeln
gehört (S. 12 f.). In ganz concreter Genalt laffen die
Abfchnitte über ,die Affociation der Vorftellungen'
(S. 435 f.), über ,Menfchen- und Thierverftand' (S. 494 f.)
und über ,Gehirn und Geift' (S. 509 f.) diefes Räthfel
vor uns hintreten. Verfaffer fucht hier nach den unter
der Oberfläche des Bewufstfeins verborgenen Wurzeln
jener bunt verfchlungenen Vorftellungsgewächfe, deren
letzte Blüthen auf dem Seefpiegel fleh fchaukeln und j
der Beobachtung zugänglich erfcheinen (S. 451). Das
Ergebnifs eines folchen Taucherexperimentes lautet,
trotzdem dafs der Verf. dem Gedanken einer pfycholo-
gifchen Mechanik die Anerkennung eines Ideals von
Pfychologie fpendet, dahin: .Nicht fo verhält es fleh,
dafs der vom unwillkürlichen Vorftellungswechfel gelieferte
Bewufstfeinsinhalt das Urtheil erzeugte, fondern
fo, dafs das über dem Vorftellungswechfel fchwebende
Subject den durch Affociation und Reproduction gelieferten
Vorftellungscombinationen entweder affen-
tirend die Genehmigung ertheilt oder diffentirend die
Genehmigung verweigert. Uebrigens bleibt fowohl
die Natur jenes Subjects, als der letzte Grund feiner
logifchen Ratifications -Ertheilungen und Ratifications-
Verweigerungen in Dunkel gehüllt' (S. 469). ,Wie kann
fleh an gewiffe Erzitterungen in einem gewiffen Specialorgan
des thierifchen Organismus dasjenige knüpfen,
was wir Empfindung, Gedanke, Affect, Leidenfchaft,
Willen nennen? Diefe Dinge find von Atombewegungen !
toto genere verfchieden' (S. 364).

So werden die mannigfachften Probleme — das
Ganze umfafst 25 Abhandlungen, unter welchen wir hier
als befonders intereffant nur noch die ,über fubjective,
objective und abfolute Zeit' (S. 84 f.), über ,die Metamorphofen
des Apriori' (S. 208 f.), über .Platonismus
und Darwinismus' (S. 313 f.) und ,über den Inftinct'
(S. 409 f.) nennen wollen — in ungemein anregender
, ftilvoller und überall gleich fachkundiger Weife
befprochen, wobei unter den theologifchen Lefern, welchen
das Buch empfohlen fein foll, der Eine etwa mit
Genugthuung bemerken wird, wie die Thatfache des
perfönlichen Lebens ftets als die ebenfo unbeftreitbare
wie unnahbare Schranke philofophifcher Gedankengänge
refpectirt ift, der Andere vielleicht mit Vorliebe den
mannigfachen, allerdings nur ifolirt hingeftellten, Punkten
nachgehen wird, welche zu dem Verfuche einladen,
mit einem fpeculativ operirenden Cirkelinftrument unter
einander verbunden und als Elemente einer zufammen-
hängenden Kreislinie erwiefen zu werden. ,Die Idee'

— fo fchliefst der zweite Cyklus (S. 560) — .eines einheitlichen
Naturgrundes fleht unerfchüttert da als ein
adäquater Grenzbegriff, welcher freilich vollkommen inhaltsleer
erfcheint und daher phantaftifchen Specula-
tionen offenften Spielraum gewährt'. Eine diefer Spe-
culationen übt auf den Verf. felbft fichtlich einen gewiffen
Zauber aus, fo dafs er ihr immer wieder nach-
finnt; es ift die Hypothefe einer Allintelligenz, welche
nach Analogie und als Hyperbel aller menfehlichen Intelligenz
denkbar ift, vor welcher der gefammte, für
uns im unendlichen Raum verzettelte und in der unendlichen
Zeit distrahirte Weltprocefs als abfolutes, flehendes
Jetzt, als zeitlofe Weltlogik erfchiene fS. 102. 201 f.
2°5 f- 353 f- 356)- Der Gott der Religion wäre das
freilich nicht. Denn .Religion ift vielmehr Hypofta-
firung der Idee einer moralifchen Weltordnung' (S. 675) j

— wie wir in einem dritten, ,zur Aefthetik und Ethik'
überfchriebenen Cyklus erfahren, über welchen der Unterzeichnete
indeffen fchon in der .Proteftantifchen Kirchenzeitung
' (1878, Nr. 16, S. 333 f.) referirt hat.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Paludan-Müller, Pfr. B., Das Sichtbare und das Unsichtbare
. Verfuch einer fchiedlich-friedlichen Aus-
einanderfetzung mit dem modernen Rationalismus.
Vom Verfaffer autorifirte deutfehe Ausg. v. Pfr. E.
Schumacher. Gotha 1879, F. A. Perthes. (XIX,
187 S. 8.) M. 2. 40.

Vorliegende Schrift ift, wie fo manche, die aus dem
Vaterlande Martenfen's flammt, auf einem entfehieden
biblifchen Standpunkt, ohne fchroff zu fein, geiftvoll,
ohne Anfpruch auf Brenge Wiffenfchaftlichkeit gefchrie-
ben, mehr in Art von Effays. Die Himmelfahrt Chrifli
ift der Punkt, um welchen fich die Unterfuchung bewegt
und von welchem aus eine ganze Reihe von Fragen in
Bewegung gefetzt wird. Der aftronomifche Einwand,
dafs in der copernicanifchen Weltanfchauung für eine
Himmelfahrt kein Raum da fei, vergifst, dafs die Evan-
geliften, wie wir alle, gar nicht nach einem Syftcm, fondern
nach dem Augenfchein reden und der Vorwurf
Act. 1, 11 weift felbft die Meinung einer folchen im räumlichen
Sinne zurück. Himmel ift die unfichtbare Welt,
deren Sinnbild nur der räumliche Himmel ift. In diefer
Welt wurzelt die chriftliche Weltanfchauung vermöge
ihres Glaubens, der fich ebenfowenig widerlegen und
beweifen läfst, wie der Glaube an ein Nichtfein derfelben
wiffenfchaftlich bewiefen werden kann. In diefe Welt,
aus der Chriftus bei feiner Geburt hervorgegangen, mufste
er nach feiner Auferftehung zurückkehren, fo dafs alfo
unter feiner Himmelfahrt vielmehr eine Veränderung in
der Dafeinsform feiner Perfönlichkeit, als eine folche
des Ortes zu verftehen ift. Der Grundirrthum des Rationalismus
ift der, dafs er diefe unfichtbare Welt, die
er ja nicht leugnet, in ihrer Bedeutung als Perfönlich-
keitswelt verkennt: daher verblafst ihm ihre Wirklichkeit
, daher vermag er das Wunder nicht zu würdigen.
Denn das Wefentliche des Wunders ift ja nicht das
Miraculöfe, das Staunenerregende, fondern eben dies,
dafs die unfichtbare, aber perfönliche Welt, dafs, mit
einem Worte, Gott in die fichtbare hineingreift, gleichviel
ob er die Kräfte der letzteren dabei benutzt oder
nicht, gleichviel ob es als Wunder anerkannt wird oder
nicht. Denn der Glaube ficht es und fleht es auch da,
wo fcheinbar nur Naturzufammenhang ift. Denn heute
noch gefchehen Wunder. Darin aber zeigt fich der Realismus
des Chriftenthums, dafs es in Theorie und Leben
mit den Beziehungen zum Unfichtbaren Ernft macht,
auch feine Ethik darauf gründend, und die Plimmelfahrt
Chrifli ift davon der prägnantefte Ausdruck. — Ref. theilt
im Wefentlichen die Anficht des Verf.'s über die Himmelfahrt
, und fleht im Glauben an den perfönlichen Gott
die Möglichkeit des Wunders gewährleiftet und in den
Thatfachen des Chriftenthums feine Wirklichkeit gegeben.
Allein damit, dafs der religiöfe Glaube noch heute, auch
im eigenen Leben, Wunder Gottes wahrnimmt, ift das
biblifche Wunder nicht erklärt. Es liegt die Thatfache
vor, dafs in der Schrift Wunder berichtet werden
(Todtenerweckungen), die, nicht nur für den Glauben,
von einer übernatürlichen Caufalität zeugen und die das
chriftliche Bewufstfein, bei allem Zugeftändnifs der ab-
ftracten Möglichkeit, nicht mehr erwartet. Auch ift es
eine eigenthümliche — auch anderwärts vorkommende
— Apologetik, wenn getagt wird, das Hochzeitswunder
zu Cana habe den natürlichen Procefs der Verwandlung
des Waffers ^ in Wein nur befchleunigt — als
ob das Reifen der Traube u. f. w., das wohl gemeint ift,
eine Verwandlung des Waffers in Wein und nicht vielmehr
ein Ergebnifs mehrerer Factoren , der Erdftoffe,
des Weinftocks u. f. w. wäre! Und nicht minder fon-
derbar klingt es, wenn Lucas ,der Arzt' den natur-
wiffenfchaftlichen Einwänden gegenüber gleichfam als
eine Autorität auf dem eigenen Gebiet entgegengehalten
wird, als ob man fich feine Heilkunde auf der Grund-