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Ausgabe:

1880 Nr. 5

Spalte:

119

Autor/Hrsg.:

Hauck, Wilh.

Titel/Untertitel:

Staat und Gesellschaft in den volkswirthschaftlichen Systemen der Gegenwart beleuchtet vom Standpunkte der christlichen Ethik 1880

Rezensent:

Krauss, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 5.

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liehen Zuftande, in dem Zuflande der Verwilderung und j gliedern und unter Unbekannten, unter meinen früheren
in dem Zuflande der Heiligung zu. Was über diejenigen Schülern und unter meinen Freunden und Amtsgenoffen.
gefagt wird, welche den freien Willen leugnen, trifft jeden- I Wünfcht dich einer anders, fo fprich: ich kann nicht
falls die Begründer der gefammten proteftantifchen Kirche I alfo gehen!' Obgleich Referent den lebhaften Wunfeh

fehr hart. Doch macht es ja nicht den Hauptinhalt des
Schriftchens aus. Was diefen anlangt, fo wird das Ur-
theil darüber von dem Urtheil über den wiffenfehaftlichen
Werth der Lehre von den vier Temperamenten abhangen,
einer Lehre, welcher ich allerdings lediglich hiftorifche
Theilnahme entgegenbringen kann. Wer aber noch an
diefe Lehre glaubt und aufserdem kirchlich-chriftlich fühlt,
der wird, fobald er fich die Erinnerung an Luther's ser-
vum arbitrhnn und an die diesbezüglichen Beftimmungen
der altproteftantifchen, fpeciell lutherifchen Bekenntnifs-
fchriften aus dem Kopf gefchlagen hat, die Schilderungen
des Verfaffers gerne lefen und die hübfehe Beifpielfamm-
lung mit Intereffe durchgehen.

Strafsburg iE. Alfred Kraufs.

Hauck, Wilh., Staat und Gesellschaft in den volkswirth-
fchaftlichen Syftemen der Gegenwart beleuchtet vom
Standpunkte der chriftlichen Ethik. Berlin 1880,
Schleiermacher. (100 S. 8.) M. 1. 80.
Zuerft wird eine Ueberficht geboten über die ver- -,nr .»y»™

.denen volkswirthfchaftlir.hen Svfteme von Sullv an fchen Volkes, — — - allerdings pofitiv und direct

hat, zu den Lefern gezählt zu werden, welche der Verf.
feinem Buche wünfeht, kann er fich doch nicht bei der
Behauptung des Buches beruhigen, dafs es nicht anders
fein könne. Dafs das Buch anders ift als andere Bücher
der Art, wollen wir keineswegs ihm zum Vorwurf machen,
vielmehr erkennen wir willig den Vorzug an, dafs der Verf.
mit Ernft und Gefchick bemüht ift, mit den Kindern
unterer Zeit in der Sprache unferer Zeit zu reden und
die verfchiedenen Gebiete des modernen Lebens mit
chriftlich ethifchem Geifte zu durchdringen. Aber fchon
in Bezug auf den Inhalt der Predigten und Reden wünfeh-
ten wir, dafs die Vermittlungen und Anknüpfungen
gegen das volle und klare Zeugnifs noch mehr zurücktreten
möchten. Sodann ift die Kanzel zu hoch für
viele Gegenftände, welche zu Vorträgen, auch eines
Geiftlichen, am andern Orte fich vortrefflich eignen. Kann
es z. B. zur Erbauung der Gemeinde dienen, wenn in
einer Predigt über Ebr. 13, 7: ,Gedenket an eure Lehrer,
die euch das Wort Gottes gefagt haben', ohne weiteres
Schiller und Luther, als Thema, nebeneinandergeftellt werden
? ,1. Schiller. Er war ein Lehrer und Meifter des deut-

fchiedenen volkswirthfchaftlichen Syfteme von Sully an
bis auf Todt und Stöcker; dann folgt eine theoretifche
Befprechung des Verhältnifses zwifchen Staat und Gefell-
fchaft nach chriftlichen Principien, und endlich wird die
aus dem zweiten Theil fich ergebende Kritik der im erften
Theil nach ihren wefentlichen Merkmalen gefchilderten
Syfteme gegeben. — Nicht leicht wird eine fo allgemein
fafsliche, fo alle Hauptpunkte hervorhebende, fo mafs-
volle und doch fo entfehieden chriftliche Volksfchrift
über die wichtigfte Frage der Gegenwart zu finden fein.
Um den Geift, in welchem fie gefchrieben ift, zu charak-
terifiren, mögen mir einige wörtliche Citate erlaubt fein.
S. 25: ,Der Socialismus ift vor Allem — und Das kann
nicht fcharf genug betont werden — eine ethifche Welt-
anfehauung und fogar erft in zweiter Linie ein national-
ökonomifches Syftem'. S. 45 : Jedenfalls ift auf die That-
fache wohl zu achten, dafs Einer in Dem, was er verficht

religiös hat er nicht auf uns und unfer Volksleben eingewirkt
. Das Wort Gottes hat er uns nicht gefagt. Das
war auch nicht feine Aufgabe. Aber indirect hat er
auch in diefer Beziehung günftigen Einflufs ausgeübt.
Seine fittliche Idealität, fein reiner Schönheitsfinn, feine
herrliche Sprache und ein edles Streben nach hohen
geiftigen Gütern hat fich allen empfänglichen und fym-
pathifchen Gemüthern tief eingeprägt u. f. w.' Nachdem
dann von Luther die Thefen, das Zeugnifs in Worms
und die Bibelüberfetzung, nicht ohne eine für die Gemeinde
mindeftens überflüffige Kritik diefer letztern,
befprochen find, heifst es zum Schlufs: ,Gedenket an
eure Lehrer, fo ermahnt uns der heutige Tag; gedenket
an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gefagt haben,
fo ermahnt uns die heilige Schrift. Welcher Ende
fchauet an, fo ruft uns der Apoftel zu, und folget ihrem

confervativ, dagegen in Dem, was er nicht verlieht, Glauben nach!' In einer ohnehin kurzen Charfreitags-
radical zu fein pflegt'. (In diefer vorfichtigen Ausdrucks- P"digt werden drei Sonnette von dem italienifchen
weife belaffen, verdient das Wort die größte Beachtung.) grofseri Bildhauer Michael Angelo declamirt, um die
S. 86: ,Das Mafs von Bildung, welches ohne ReligiSn ! Kraft des Kreuzes Chnftl zu fchüdern. Wollen wir den
in die Mafien eingegoffen werden foll, wird nicht die I gebildeten Kirchgangern die Berührungspunkte der Re-

1 hgion mit den andern Nerven des geiftigen Lebens und
den Wiederfchein der ewigen Wahrheit auch in den
vergänglichen Zcugnifsen der Poeten nachweifen, fo
gehen doch folche ausführliche Citate über das für die
geiftliche Rede zuläfsige Mafs hinaus. Gefchmacklos
aber ift es, wenn diefelbe noch mit literärifchen Notizen
verfehen werden, wie z. B. ,in Eckermann's Gefprächen
(3) ift die erziehende Kraft der heiligen Schrift auch
von Goethe nachdrücklichft hervorgehoben', oder gar
dafs Alex, von Humboldt den 104. Pfalm ,im 2. Theile
feines Kosmos den kosmifchen Pfalm nennt'. Endlich, wem
nützt es, dafs der Prediger von der Kanzel gegen Leute
polemifirt, welche ihrer Zeit gewifs nicht weniger ernft-
lieh das Wort Gottes haben verkündigen wollen, als wir
der unfrigen, und gelegentlich ,die altorthodoxe Meinung
und Vorftellung' von der Infpiration als ,unwahr
und unhaltbar' bezeichnet? Dazu kommt, dafs die Reden
hinfichtlich der Form an Ordnung und Ifinheit oft zu
wünfehen übrig laffen, dafs die Behauptungen zu apho-
Lohmann, Pfr. Local-Schulinfp. G.. Auf und über dem riftifch nebeneinander flehen, und der Ausdruck nicht

c.„__. -, ., ... „ ist~,.,„:„j ,0- Ii r immer die nöthige Präcifion hat, z. B. in der Predigt

Strome der Zeit. Predigten. Neuwied 1879, Heufer. . bef die Entwenöd der ägyptlfchen Gcfäfsc wird es

(IV, 190 S. 8.) M. 2. 40. - ;luch dem Lefer fchWer, über das Urtheil des Redners

Im Vorwort fagt der Verfaffer: ,Gehe hin, Buch, : ins Klare zu kommen, und wenn in einer Predigt die Un-
und thue deinen Dienft! Suche wohlwollende und ver- ! tugenden der Gläubigen und die Tugenden der Ungläu-
fländige Lefer, wo du fie findeft, unter meinen Gemeinde- ; bigen nebeneinandergeftellt werden follcn, fo weifs man

Sittlichkeit gröfser, dagegen die Schlechtigkeit nur raffi-
nirter machen'. — Eine Löfung der focialen Frage fucht
der Verfaffer nicht zu geben. Was er anftrebt, Das ift,
den evangelifchen Chriften in populärer Weife über die
verfchiedenen Richtungen zu orientiren, und wer in diefer
Hinficht Befriedigung verlangt, Dem kann die kleine
Schrift nur auf das Belle empfohlen werden. Gegen die
Bemerkung S. 48 f., dafs die deutfehe Sprache, weil fie
neben ,Gefellfchaft' auch noch das Wort ,Gemeinfchaft'
habe, der franzöfifchen, die nur das eine Wort societe
befitze, an Feinheit überlegen fei, möchte ich an com-
munaute erinnern, welches Wort, zwifchen ,Gemeinfchaft'
und ,Genoffenfchaft' mitten inne flehend, dem Franzofen,
der aufserdem auch noch communion hat, doch wohl fo
ziemlich diefelben Sprachfeinheiten geftattet, wie fie dem
Deutfchen zu Gebote flehen.

Strafsburg iE. Alfred Kraufs.