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Ausgabe:

1880 Nr. 5

Spalte:

118-119

Autor/Hrsg.:

Carus, Gust.

Titel/Untertitel:

Temperament und freier Wille. Ein Vortrag 1880

Rezensent:

Krauss, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 5.

118

jüdifche Asketen gefchildert find, fällt namentlich der
Umftand fchwer ins Gewicht, dafs fonft Niemand in
aller Welt von jüdifchen Asketen diefer Art etwas weifs,
namentlich auch Philo (elbft nicht (f. oben).

Es bleibt demnach nur noch zu erklären, weshalb
der Verf. es doch vorgezogen hat, fo zu reden, als ob
er jüdifche Asketen fchildere? Lucius betrachtet als,
Hauptmotiv dies, dafs es ihm darauf ankam, fich durch
die Autorität des allgemein in hohem Anfehen flehenden
Philo zu decken (S. 154 f.). Mir fcheint damit die Sache
doch nicht genügend erklärt. Es werden vielmehr zwei
Gefichtspunkte ftärker hervorzuheben fein, als dies von
Lucius gefchehen ift. Vor allem ift nämlich hervorzuheben,
dafs für diefes philofophifche Mönchschriftenthum die
chriftlichen Heilsthatfachen überhaupt von ganz untergeordneter
Bedeutung find. Sein Ziel ift die Seligkeit im unmittelbaren
Schauen Gottes. Der Weg zu diefem Ziel ein
doppelter: 1) Möglichfte Losfagung von diefer finnlichen
Welt, alfo Askefe, und 2) andauernde Verfcnkung in die
heiligen Schriften unter allegorifcher Auslegung derfelben.
Dafs auch in unferm Tractat ein derartiges Chriftenthum
empfohlen wird, tritt mit vollkommener Deutlichkeit in
demfelbcn hervor (f. bef. $ 2 init. 3. 10). Wozu bedarf
man aber hier überhaupt der Perfon Chrifti? Nicht einmal
als Offenbarer der göttlichen Weisheit hat er Bedeutung
. Denn zur Erkenntnifs diefer gelangt der Asket
durch die unmittelbare Erleuchtung, welche ihm beim
Studium der Schrift, gleichviel ob des Alten oder des
Neuen Teftamentes, zu Theil wird. Es ging alfo für
den Verf. unferes Tractates nichts Wefentliches verloren,
wenn er bei der Schilderung feines asketifchen Ideales
auf die Erwähnung alles deffen verzichtete, was man fonft
als fpeeifilch chriftlich zu betrachten gewohnt ift.

Das Andere, was zur Erklärung feines Verfahrens
dient, ift Folgendes. Es gehört geradezu zur ,Technik'
der jüdifchen wie der chriftlichen Apologetik, die zu
vertheidigende Lehre oder Sitte womöglich als eine uralte
, fchon aus grauer Vorzeit herrührende und längft
anerkannte zu fchildern. Denn das Alter einer Lehre
ift der Mafsftab ihres Werthes. Hauptfächlich dies wird
auch der Grund gewefen fein, weshalb unfer Verf. feine
Asketen nicht fpeciell als Chriften, fondern als Jünger
Mofis' gefchildert hat. Sie rückten damit von felbft in
die graue Vorzeit hinauf. Dafs ihm gerade das Alter
ihrer Lehre von Wichtigkeit ift, fehen wir aus wiederholten
Andeutungen. S. $ 3: vr)v näxqiov (pilnaoepiav.
— Ibid. e'oxi, de ccvzoig /.cd oiyyQtai{iaza rtttXaiOJV dv-
d'jj(D)', ot xrtg aigtoeag äfXWetai yevöftevoi nollct . . .
uniXmov. — § IO: rj y.airöv . . . i agyaiov xiva zwv
ndkai noir.xdiv.iitxQa yug tUUfisXlj y.atakehoncaoi noXka
x. x. I.

Wenn fomit angenommen werden darf, dafs die
Schrift DVC zur Verherrlichung und Empfehlung des
chriftlichen Mönchsthums im dritten Jahrhundert n. Chr.
gefchrieben ift, fo ift damit ein wichtiges Refultat für
die Gcfchichte der chriftlichen Askefe gewonnen. Es
erwächft dann die Aufgabe, die Entftehung unferer
Schrift in die Gefchichte der letzteren einzureihen. Auch
zur Löfung diefer Aufgabe hat Lucius einen wcrthvollen
Beitrag geliefert, indem er S. 134—153 gezeigt hat, wie
weit verbreitet die Sitte des chriftlichen Anachoreten-
thums fchon in der voreufebianifchen Zeit war. Von
befonderem Intereffe — weil den .Therapeuten' fachlich
und örtlich am nächften flehend — find namentlich die
Hierakiten in Aegypten, an welche in diefem Zufam-
menhang erinnnert zu haben ebenfalls ein Verdienft von
Lucius ift (S. 142 fr. Vgl. jetzt auch den Artikel von Har-
nack in Herzog-Plitt's Real-Enc). Das Ergebnifs feiner
ganzen Untcrfuchung ift, dafs die Refultate, zu welchen
jüngftWeingarten über den Urfprung des Mönchsthums
gelangt ift, einer nicht unerheblichen Rcvifion bedürfen.

Ueber einzelne Punkte mit dem Verf. mich aus-

einanderzufetzen, mufs ich mir hier vertagen. Nur ein
paar Bemerkungen mögen noch geftattet fein.

In der Stelle § 3: 01 de navxayoiltv ugiatni yaO-caieg
elg naxQiöu irtganevxüv ctnoi/iav axtkkovxai 7106g xi
yengiov entzrfieidzuzov hat auch Lucius wie ältere Ueber-
fetzer naxglda als Subftantiv genommen (S. 19. 46. 50.
164). Es ift aber offenbar Adjectiv: ,Von überallher
kommen die Bellen wie in eine vaterländifche Colonie
von Therapeuten an einen vortrefflich geeigneten Ort'.
Die Anüedclung bei Alexandria ift nicht das Vaterland
der Therapeuten, fondern eine Colonie, welche die Therapeuten
— deren Vaterland die oixoi iitvrj ift (f. $ 11 fin.)
— fich hier gegründet haben.

Dafs die Therapeuten JechsTage ununterbrochen
in ihrem fiovaoxigiov = ngöv verblieben' (Lucius S. 23),
ift fchwerlich die Meinung von DVC § 3. In diefes
fiovaOVQQiov wurde ja weder Speife noch Trank mitgenommen
{Ibid.). Wovon hätten fie alfo während diefer
fechs Tage gelebt? Da es anderwärts heifst, dafs fie
im (.mvaoxi-ginv den ganzen Tag vom Aufgang der Sonne
bis zum Untergang dem Studium oblagen 3) und
erft nach Sonnenuntergang Nahrung zu fich nahmen ($
4 init.), fo ift die Meinung offenbar die, dafs fie das no-
vaor)]giov während der fechs Tage unter Tags nie ver-
liefsen.

In der Schilderung des therapeutifchen Hauptfeftes
(§ 8—11) unterfcheidet Lucius zwei verfchiedene Mahlzeiten
, und verlieht unter der einen die chriftliche Agape,
unter der andern das chriftliche Abendmahl (S. 30. 185).
Es fcheint mir fchr fraglich, ob dies richtig ift. Da es

! bei der zweiten Erwähnung $ 10 fin. ausdrücklich heifst
xjjv Xeyjj eiauv xgdne'Cav, fo kann doch wohl nur eine
und diefelbe Mahlzeit gemeint fein. Der Schein einer
doppelten Mahlzeit entfleht nur durch die Breite der

1 Darfteilung, vermöge deren der Verf. den Speifezettel
zweimal erwähnt, einmal vorläufig und dann noch einmal,
als die Speifen wirklich gebracht werden. Jedenfalls
glaube ich nicht, dafs die Deutung auf Agape und Abendmahl
richtig ift. Aus § 11 init. (xazd f.u.ooi> To ov^nnoim)
fieht man, dafs die ganze Feier nicht in dem gottesdienft-
lichen Gebäude der Therapeuten, ihrem gemeinfamen
ot/uveiov (§3 fin.), ftattfand, fondern in einem Speifefaal.
Sollte dies beim Abendmahl noch im dritten Jahrhun-

I dert denkbar fein? Ueberhaupt ift es fehr fraglich, ob

I die Vorausfetzung, auf welcher Lucius' Deutung ruht,
richtig ift: dafs nämlich in Aegypten auch in diefer fpä-
teren Zeit noch Agape und Abendmahl mit einander
verbunden waren (S. 178). Denn die Hauptftellen, auf
die man fich gewöhnlich hiefür beruft, Socrat. V, 22 und
Sozom. VII, 19, find ficher anders zu verliehen. Es
fcheint mir alfo, dafs die therapeutifchen Mahlzeiten zwar
mit den chriftlichen Agapen, aber nicht mit dem chriftlichen
Abendmahl in Parallele zu Hellen find, und zwar
fowohl die am fiebenten Tage ($ 4), als die an dem ,gröbsten
Feile'.

Giefsen. E. Schürer.

Carus, Confift.-R. Hof- u. Schlofspred. D. Gull., Temperament
und freier Wille. Ein Vortrag. Wiesbaden
1879, Niedner. (35 S. 8.) M. — 50.

Der Verfaffer fagt im Eingange diefes Vortrags:
,Unfer Intereffe wendet fich hauptfächlich der Frage zu,
wie Temperament und Wille fich zu einander verhalten.
Ift der Wille des Mcnfchen durch das Temperament nicht
blofs becinflufst, fondern unwiderftehlich beherrfcht?'
Danach erwartet wohl jeder Lefer eine Befprechung des
pfychologifchen Determinismus. Statt deffen erhalten
wir zunächft einige Behauptungen hinfichtlich der traurigen
Folgen, welche die Leugnung des freien Willens nach
fich ziehe, und fofort wendet fich dann der Vortrag einer
Charakterifirung der vier Temperamente in ihrem natür-