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Ausgabe:

1880 Nr. 3

Spalte:

63-67

Autor/Hrsg.:

Martensen, H.

Titel/Untertitel:

Die christliche Ethik. Specieller Thl. in 2 Abth 1880

Rezensent:

Kähler, Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 3.

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neidlofen, chriftlich weitherzigen und dabei doch pofitiv
gläubigen Sinne errichteten.

Strafsburg i/E. Alfred Kraufs.

Martensen, Bifchof Dr. H., Die christliche Ethik. Spe-
cieller Theil in 2 Abtheilungen. Deutfche vom Ver-
faffer veranftaltete Ausg. Gotha 1878, Beffer. (X, 508
u. VI, 473 S.) M. 15. —

Wenn diefe Anzeige nicht nur der Erfcheinung ihres
Gegenftandes geraume Zeit nachhinkt, fondern auch dem
bereits zu Tage liegenden Erfolge, welcher in unferer
theologifchen Literatur faft allein bei Werken diefes
Verf. nicht ungewöhnlich ift, fo trägt die Schuld aus-
fchliefslich der Berichterftatter. Die Entfchuldigungs-
gründe haben für die Lefer keinen Werth; darum ftehe
diefe Bemerku/ig nur hier, um mit der Verficherung zu
fchliefsen, dafs eine Geringfehätzung des Buches nicht
zu jenen Gründen gehört.

M. hat eine eigenthümliche Sonderung des ethifchen
Stoffes in zwei bedingter Weife für fich beftehende Abhandlungen
beliebt, deren erfte für die principiellen Erörterungen
, deren andere für die praktifchen Ausführungen
beftimmt ift. Diefer Umftand fordert für den
vorliegenden zweiten Theil eine Betrachtung unter zwei
verfchiedenen Gefichtspunkten. Zunächft kann erft jetzt
darüber entfehieden werden, ob jene Eintheilung, wie
M. diefelbe verfteht und durchführt, für das Ganze der
Ethik von Vortheil ift, denn nun ift eben erft die Probe
auf die Methode gemacht; die erfte Aufgabe des Beur-
theilers befteht mithin darin, feftzuftellen, ob M.'s Verfahren
für die wiffenfehaftliche Behandlung der chriftlichen
Sittlichkeit Nachahmung verdient. Danach wird diefe
zweite Abhandlung auch nach ihrer felbftändigen Bedeutung
zu werthen fein.

Unter dem erften Gefichtspunkte ift das Urtheil des
Ref. kein zuftimmendes. Allerdings hat fich auch ihm
ehedem die Frage geftellt, ob nicht die praktifche Theologie
neben die kirchliche Technik, die durchaus zeit-
gefchichtlich bedingt ift, eine in ähnlicher Weife der
Zeitlage angepafste Anleitung für das chriftliche Leben
zu fetzen habe, welche, von der Strenge wiffenfchaft -
licher Methodik abfehend, dem immer neu fich regenden
Bedürfnifse nach einer Cafuiftik entgegenkäme. In diefem
Sinne haben die nachreformatorifchen Theologen an Stelle
der klerikalen summae casuum, deren Abfehen war den
Richter im Beichtftuhl zu inftruiren, feelforgerliche Be-
fprechungen der casus conscientiae gefetzt, die eine ge-
fchriebene Seelenpflege heifsen dürfen, und darum fpäter
den ,Bedenken' Spener's u. f. w. das Feld räumten. Der
hier verhandelte Stoff ift weiterhin in die breiten Werke
eines Stapfer und Reinhard übergefiedelt und begegnet
endlich in Rothe's Pflichtenlehre wieder. Mufs R.'s Herausgeber
daran erinnern, dafs grofse Mafien diefer ,vor-
fchreibenden' Pflichtenlehre von R.'s letztem Standpunkte
aus nicht nur formal, auch inhaltlich nicht nur leicht
abgewandelt, fondern grundfätzlich durchaus in entgegengefetztem
Sinne hätten dargeftellt werden müffen,
fo deutet fchon das darauf hin, dafs man fich hier auf
einem Gebiete bewegt, wo nicht mehr die wiffenfehaftliche
Folgerichtigkeit allein ausreicht; denn diefe hätte
den Verf. der ,Anfänge der Kirche' fchon damals zu anderen
praktifch-fittlichen Urtheilen über die kirchlichen
Pflichten führen müffen. Die Verwechfelung zwifchen
dem Praktifchen einerfeits und dem Concreten und Individuellen
andererfeits fcheint da, wo man fich nicht
auf eine rein formale Ethik zurückziehen will, meiftens
verführerifch nahe zu liegen; und fie verlockt dann hinüber
in das Gebiet des Technifchen und des Zeitge-
fchichtlichen. — Sofern nun M. der Hauptfache nach
eben in diefem Sinne getheilt hat, mufs Ref. feinem Ver-
fuche befondere Theilnahme widmen. Allein ihm fcheint
diefe Unterfcheidung nicht ausreichend durchgeführt,

weil fich die beiden Theile nun doch nicht zu einander
verhalten, wie reine und angewandte Wiffenfchaft. Dazu
fehlen in dem erften Theile zu wefentliche Stücke, vor
allem eine principiell gehaltene Theorie der focialen Ethik;
indefs auch die Lehre von der Charakterentwickelung
dürfte nicht ausreichend in der, an fich höchft anziehenden
, Darfteilung der Vorbildlichkeit Chrifti gegeben fein.
Demgemäfs ift der 2. Theil für M. doch nicht blofs der
anwendende, fondern in vielem Betracht hat er auch
ftofflich zu ergänzen; er ift eben ein Stück des wiffen-
fchaftlichen Syftemes. Indefs er wächft nicht nur, wie
die Bücher der oben Genannten, aus diefem Rahmen durch
Aufnahme cafuiftifchen Stoffes hinaus, fondern er fügt
fich in einen folchen Rahmen gar nicht recht hinein.
Verheifst ihm Ig 15 eine befondere Architektonik, fo
leuchtet die I 5 149 angekündigte an fich wenig ein,
da das unchriftliche fittliche Leben unmöglich logifcher
Weife ein gleichwerthiges Stück mit den beiden Seiten
des chriftlichen Lebens, dem individuellen und focialen,
bilden kann; auch möchte für einen Chriften fchwer einzuteilen
fein, warum fein fittliches Gemeinfchaftsleben
etwas anderes als Nachfolge Chrifti fein foll, während M.
unter diefer Bezeichnung nur die individuelle Charakterentwickelung
verfteht. Im 2. Theile felbft vermiffen wir
jede Rechtfertigung der Eintheilung; damit aber fehlt
doch auch jede Bürgfchaft dafür, dafs der Stoff wirklich
wiffenfchaftlich erfchöpft werden wird. Die Mängel find
auch nicht ausgeblieben; fo fchwebt in der individuellen
Ethik ohne deutliche Einordnung der Abfchnitt: ,Die
Bekehrung und der neue Lebensanfang' zwifchen den
beiden Haupttheilen: ,Leben unter Gefetz und Sünde'
und ,Leben in der Nachfolge Chrifti' in der Mitte, —
wenn er nicht gar zum erften gehören foll. Der 2. diefer
Theile behandelt die Tugendlehre; nach I § 100 ift die
chrifti. Cardinaltugend die Liebe zu Gott in Chriftus;
hier tritt II § 67 ohne ausreichende Begründung die Freiheit
daneben und die Unterfcheidung beider bildet den
Theilungsgrund. In der focialen Ethik wird die Freund-
fchaft, die Gefelligkeit unter der Familie behandelt und
die ,idealen Culturaufgaben': Kunft, Wiffenfchaft, Schule
treten als gleichwerthiger Theil neben Familie, Staat,
Kirche, während die realiftifchen Culturaufgaben einfach
unter den Staat fubfummirt find. Die Behandlung jener
nimmt 77 S., die der Kirche nur 52 S. in diefer chrifti.
Ethik in Anfpruch, das Theater allein 23 S., mehr als
die gefammte Lehre von der Bekehrung. Das zu no-
tiren fcheint kleinmeifterlich, ift's aber nicht. Bei der
langjährigen Arbeit, der abfertigen Bildung und der
feltenen Fähigkeit des Umfpannens, welche der Verf.
an feinen Stoff gewandt hat, vermifst man wohl kaum et-
| was Wefentliches; doch ift es in einer fyftematifchen
Darftellung nicht gleichgiltig, an welcher Stelle ein Gegen-
j ftand behandelt wird. Indem M. bei der Behandlung
I des gefellfchaftlichen Lebens fogleich in die Befprechung
j der drei Genoffenfchaften eintritt, ohne vorher die allgemeineren
Wechfelbeziehungen im Gemeinfchaftsleben
zu befprechen, ergeben fich zwei ernfte Mifsftände. Einmal
mufs er zu jenen drei Genoffenfchaften einen Abfchnitt
fügen, der nichts Gleichartiges hat, denn ,die
idealen Culturaufgaben' bilden Genoffenfchaften nur
nebenher und jedenfalls keine den genannten drei gleichartige
. Wenn dabei die Schule behandelt wird, fo ift
diefe keineswegs die entfprechende Genoffenfchaft; denn
Wiffenfchaft und Kunft kommen ja durchaus nicht noth-
wendig in einem gegliedertenSchulwefen zur Erfcheinung;
und überdem, wie wenig die Schule als felbftändige
Bildung neben jene drei treten darf, zeigt der Streit, in
welchem Familie, Staat und Kirche um die Schule liegen,
während ihnen das bei Handel und Gewerbe fern liegt,
auch der Praxis nach bei der Kunft. Diefer ungleichartige
4. Abfchnitt verräth das unabweisliche Bedürfnifs,
die fachliche Gliederung des Gemeinfchaftslebens auch
abgefehen von jenen zufammenfaffenden genoffenfchaft-