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Ausgabe:

1880 Nr. 23

Spalte:

561-562

Autor/Hrsg.:

Zittel, Emil

Titel/Untertitel:

Die vier Evangelien übersetzt und erklärt. 1. Thl. Einleitung. Das Evangelium nach Matthäus. Das Evangelium nach Markus 1880

Rezensent:

Thoenes, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 23.

562

Perfönlichkeit des Reformationszeitalters in dem Mafse
hätte fördern können, wie man es von einer mono-
graphifchen Bearbeitung zu fordern berechtigt ift. Die
leider nur fehr fpärlichen neuen Baufteine, die er herbeibringt
, laffen uns bedauern, dafs er nicht tiefer und
ernftlicher nachgeforfcht hat.
Klemzig. Kawerau.

Zittel, Emil, Die vier Evangelien übersetzt und erklärt

1. Thl. Einleitung. Das Evangelium nach Matthäus.
• Das Evangeliuni nach Markus. Karlsruhe 1880, Braun.
(VIII, 232 S. gr. 8.) M. 4. —

Nach dem Vorworte will der Verfaffer geben 1)
eine Ueberfetzung der Evangelien, in der gewohnten
Sprache der Lutherbibel, die aber von allem Räthfel-
haften und Mifsverftändlichen gereinigt und nach dem
beften griechifchen Grundtext berichtigt fei; 2) eine Einleitung
, welche dem nicht völlig ungebildeten Lefer in
einfacher, verftändlicher Sprache das wefentliche Er-
gebnifs der redlichen und unbefangen wiffenfehaftlichen
Arbeit des letzten Jahrhunderts in Bezug auf gefchicht-
liche und kritifche Betrachtung der Evangelien vermittele
; 3) genaue Inhaltsüberfichten, welche erkennen
laffen, dafs wir in den Evangelien wohlüberlegte Kunft-
werke finden, und 4) in Anmerkungen fprachlichc und
fachliche Erläuterungen.

Es ift wohl keinem Zweifel unterworfen, dafs es
heute manchen nicht theologifeh gebildeten Bibellefer
giebt, dem die Zittel'fche Evangelienbearbeitung willkommen
fein und vielfach beffere Dienfte leiften wird,
als die betreffenden Theile der Schmidt-Holtzendorff'-
fchen Proteftantenbibel, welche auch noch in der 3. Ausgabe
(vgl. Nr. 10 des vorigen Jahrganges diefer Zeitung)
den gewöhnlichen Luthertext abdruckte, wenn auch mit
darunter flehenden Verbefferungsvorfchlägen.

Was nun zuerft die Ueberfetzung betrifft, die Zittel
gegeben, fo ift diefelbe durchweg gefchmackvoll, aber
vielleicht doch nicht jedem confervativ genug. So wird
z. B. Matth. 5, 5 (4) 01 irtvünrvTeg überfetzt mit ,die
Trauernden', während ,die da Leid tragen' ohne wefentliche
Aenderung des Sinnes hätte flehen bleiben können.
Ebenfo brauchte in Matth. 1,20 für Tatra de airov
ivitvfii]irf iTog das Luther'fche, .indem er alfo gedachte'
mit .indem er damit umging' kaum vertaufcht zu werden
. Auch in Matth. 1, 21 hätte für .fchwanger' das
mindeftens mifsverftändliche .gefegnet' nicht gefetzt zu
werden brauchen. Dasfelbe gilt von zahlreichen anderen
Stellen. — Confcrvativer verhält fich Zittel gegenüber
folchen Stucken, die als .Sprüche' oder Perikopen
dem Gedächtnifse der Gemeinde vertraut find. Aber
hier ift er mitunter zu confervativ. So ift in Matth. 5,
29. 30. 18, 6 für aY.avöaXiCeiv das Luther'fche .ärgern'
beibehalten, welches doch immer einer Erklärung bedarf,
wenn nicht theologifeh gebildete Zeitgenoffen die richtige
Bedeutung auffaffen follen. In Matth. 17, 27 ift dagegen
beffer ,Anftofs geben' verwendet, ebenfo .Anftofs
nehmen' für das Paffiv in Matth. 13, 57 (in Matth. 13, 21
ift für das Paffiv ,irre werden' gebraucht). Allerdings
hat in den oben bezeichneten Stucken Zittel auch nicht
feiten ändern müffen; aber dann find die Aenderungen
nicht immer glücklich ausgefallen. So ift z. B. in Matth.
5,22 zwar mit Recht das Wort ,Racha' als unverftändlich
gefallen; dagegen war es nicht gut, an die Stelle des-
felben das im Luthertexte erft bei der dritten der dort
von Jefu bezeichneten Verfündigungen vorkommende
,Narr' zu fetzen. Beffer wäre ftatt ,Narr' ,Thor' oder
ein anderes Synonym gefetzt worden. Denn der des
Hcbräifchen unkundige Lefer kann leicht denken, hier
fei einfach an die zweite Stelle gerückt, was früher an
der dritten geftanden, zumal die fachliche Anmerkung
unter dem Texte auf ein folches Mifsverftändnifs keine
Rückficht nimmt.

Die Einleitung, welche die hiftorifch-kritifchen Fragen
befpricht, ift in Bezug auf Durchfichtigkeit der Dar-

! ftellung wohlgelungen. Aber dafs fie das wefentliche
Ergebnifs der unbefangen wiffenfehaftlichen Arbeit
des letzten Jahrhunderts überall biete, wage ich nicht
zu behaupten. Gar manche auch unbefangene Kritiker
möchten doch nicht einverftanden fein, wenn z. B. behauptet
wird (S. 22), das Lucasevangelium fei erft im

| Anfang des 2. Jahrhunderts gefchrieben; in Lucas offenbare
fich .überall unverkennbar' der Geift eines echten

, Paulusfchülers (S. 27), oder wenn der Prolog des Johannes
nur aus Philo's Gedankenkreife erklärt wird
(S. 30, 30-

Die gegebenen Inhaltsüberfichten find kurz und klar,
und die fprachlichen und fachlichen Erläuterungen laffen,

j ohne zu ausführlich zu fein, feiten Wefentliches ver-
miffen. Nur ift uns aufgefallen, dafs in Matth. 1 die
Namen des Gefchlechtsregifters abweichend von Luther
und entfprechend der griechifchen Form gegeben find,
ohne eine andere fachliche Bemerkung unter dem Texte,
als dafs zu Jeffai in v. 6 gefagt wird: ,die altteftamentl.

| Namen lauten in der hebr. Bibel, der griechifchen Sep-
tuaginta und der latein. Vidgata fehr yerfchieden. So
heifst der Vater David's hebräifch Ifai, griechifchJeffai
und lateinifch (woran fich Luther hielt) Jeffe'. Hier
könnte der Lefer auf den Gedanken kommen, Luther
habe überall an die Namenformen der Vidgata fich gehalten
, was ja keineswegs der Fall ift.

Lennep. Lic. Dr. Thon es.

Haffner, Pfr. F., Das Gebet des Herrn, aus der Zeit und
für die Zeit ausgelegt. Erlangen 1880, Deichert.
(IV, 51 S. gr. 8.) M. —. 60.

Der Verf. diefer kleinen nur 51 Seiten umfäffenden,
aber inhaltsreichen Schrift, der fich als einen Schüler
Hofmann's und Beck's bezeichnet, will nicht eine mit
allem wiffenfehaftlichen Material ausgeftattete Specialerklärung
des Vater-Unfer bieten, fondern befchränkt
fich darauf, zwei Gefichtspunkte, die in der hergebrachten
Auslegung meiftens überleben werden oder doch nicht
zu ihrem Rechte kommen, zur vollen Geltung zu bringen.
Es find die Gefichtspunkte der .reichsgefchichtlichen
Situation', aus der das Vater-Unfer erwachfen ift, und
zugleich der .gemeindlichen Solidarität', die hier im Einzelnen
nachgewiefen werden. Ausgehend von der Vor-
ausfetzung, deren exegetifche Sicherheit hier dahingcftellt
j bleiben mag, dafs das Vater-Unfer in der Bergpredigt
j feine urfprüngliche Stelle habe, fucht der Verf. dasfelbe
j als Gemeindegebet des neuen Israel im Gegenfatz zu
I dem von feinem heilsgefchichtlichen Beruf abgefallenen
I alten Bundesvolk zu verliehen. So fafst er, um ein
Beifipiel herauszugreifen, den Inhalt der 2. Bitte kurz
dahin zufammen, dafs im Gegenfatz zu dem alten Israel,
das den Reichsgedanken zu einem fleifchlichen Eigenbild
verzerrt hat, die gläubige Gemeinde das Sehnen
nach Erfüllung alles deffen ausfpricht, was von der Heils-
gefchichte noch rückftändig ift. Ebenfo deutet er bei
Auslegung der 4. Bitte auf den Gegenfatz hin gegen
den mammonsdienerifchen Nationalcharakter des verworfenen
Israel und bezeichnet diefelbe als ein im rechten
kindfehaftlichen Geift gebrachtes freudiges Opfer der
allmächtigen materiellen Intereffen. Es find aber nicht
blofs die beiden hervorgehobenen Gefichtspunkte, die
diefer Arbeit neben den zahlreichen Auslegungen des
Herrngebets ihre felbftändige Bedeutung verleihen, fon-
I dem ebenfo fehr die trefflichen Schlaglichter, die der
Verf. von der gcfchilderten Situation aus auf gegenwärtige
Verhältnifse fallen läfst. Er bittet in der Vor-
I rede gleichkam um Entfchuldigung, dafs er nicht davon
habe loskommen können, immer wieder die Anliegen
; der Gegenwart zu berühren. Bei einem Schüler Beck's