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Ausgabe:

1880

Spalte:

512-513

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Carl

Titel/Untertitel:

Leben und Wirken des Dr. Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann. II 1880

Rezensent:

Lindenberg, H.

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. No. 21.

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fetze' wie ein offenes, in der Zukunft vielleicht einer
befferen Löfung entgegengehendes Problem betrachtete.

In dem vorstehenden Referate find trotz feiner Ausführlichkeit
, ohne die es nicht möglich war, über den Inhalt des
Werkes von Lommatzfch einigermafsen ausreichend zu
orientiren, natürlich doch nur die den Rahmen bildenden
Ideen hervorgehoben. Ich habe befonders darauf verzichtet
, über die Capitel, die der Lehre von den Saciamenten
und der Kirche gelten, mitzuberichten, weil fie am
lockerften mit der Gefetzestheorie, die fonft immer wieder
als der leitende Faden erfcheint, zufammenhängen.
Zu einer eingehenden Kritik ift hier nicht der Ort. Ich
füge nur einige Bemerkungen noch bei. Wenn der
Verf. etwas minder Kritik an Luther geübt hätte, wäre
die Leetüre feines Werkes anziehender. Der Mafs-
ftab, nach dem er Luther beurtheilt, ift durchfehnittlich
ein ermäfsigter Schleiermacherianismus. Ich fehe darin
die Quelle, wie für manche Mifsverftändnifse, fo für viele
fchiefe Urtheile, befonders in Hinficht der Rechtfertigungslehre
Luther's. Was die Idee von dem durchgehenden
,Dualismus' bei Luther angeht, fo will ich den Ausdruck
felber, der faft mehr als billig ausgebeutet wird, nicht zu
fehr bemängeln. Ich bin ganz einverftanden mit der
Anfchauung, dafs Luther's Lehre manche, nicht zufam-
menhangslofe Widerfprüche birgt. Jedoch bin ich nicht
überzeugt worden, dafs der Auguftinismus und die Myftik
auf der einen Seite, das ,ethifche Intereffe' auf der an
deren Seite die conftitutiven Factoren für Luther's Ideenbildung
abgeben. Es ift von vornherein irrig, Luther's
Reformationsunternehmen mit ethifchen Motiven beginnen
zu laffen. Der Verf. berückfichtigt Luther's Entwick- j
lung vor Ausbruch des Streites mit Rom fo gut wie gar
nicht. Wer aber die Ideen Luther's nicht zurückverfolgt
bis in ihre Anfänge, befonders bis auf diejenige Geftalt,
die der von Seidemann entdeckte frühefte Pfalmencom-
mentar erkennen läfst, kann die Thefen von 1517 überhaupt
nicht würdigen. Luther's erftes und im Grunde
einziges Problem ift nicht ethifcher, fondern religiöfer
Natur, es ift das der Heilsgewifsheit. Indem er feit feiner
Erfurter Zeit wufste, dafs die katholifche Anleitung
zur Heilsgewifsheit nicht ausreiche, hat er fchon in dem
erwähnten Pfalmencommentar deutlich die Idee von der
im Glauben an Gottes in Chrifto offenbare Gnade gewährten
Heilszuverficht. Die einzelnen Stationen der
Entwicklung feines Kampfes mit Rom find viel mehr
durch momentane Verhältnifse bedingt, als Lommatzfch
in Rechnung zieht. Es ift ganz falfch, die Schriften von
1517 bis 1520 fo zu behandeln, als ob fie erft die Entwicklung
der in den Thefen berührten religiöfen Ideen
darftellten. Luther hat bereits eine zufammenhängende,
in ihren Grundelementen evangelifche Ideenwelt, indem
er überhaupt in den Streit eintritt. Von den früheften
Schriften aus wird man auch erft in Stand gefetzt, die
Bedeutung der Myftik und des Auguftinismus für Luther
richtig zu beurtheilen. Es ift ein Mifsverftändnifs, Luther
's Glaubensbegriff wefentlich auf die Befchäftigung
mit der Myftik zurückzuführen. Die .Unmittelbarkeit'
des im Glauben gefetzten Verhältnifses zu Gott exiftirt
für Luther gar nicht fo, wie auch Lommatzfch fie denkt.
Das Verhältnifs zu Gott ift auch im Glauben nach Luther
immer .vermittelt' durch den Blick auf Chriftus und
durch den Gedanken an Wort und Sacrament als die !
verftändlichen Darftellungen der in Chrifto gefchehenen
Offenbarung. Man denke z. B. nur an den Eingang zu j
de libert. christ. Die nicht zu leugnenden Einwirkungen
der Myftik, des Auguftinismus und, wie ich doch auch
gerade für die von Lommatzfch berührten Lehren feilhalten
mufs, des Nominalismus, kommen zu Tage in
Ideen des Reformators, die viel mehr als verfprengte zu
betrachten find, als Lommatzfch es darftellt. Ich finde
nur in einem Punkte eine für die ganze Lehrbildung
Luther's verhängnifsvolle dauernde Einwirkung jener
Gröfsen oder fagen wir lieber des Katholicismus über- I

haupt. Diefer Punkt ift: das Wefen des Heiles. Luther
tendirt auf eine den Katholicismus überbietende,
qualitativ andere Vorftellung von dem den Chriften be-
feligenden Gute. Aber in der concreten Streitfituation
kommt es ihm nicht deutlich zum Bewufstfein, dafs hier
der letzte Gegenfatz zwifchen ihm und feinem Gegner
liege, und indem er fich unvorfichtiger Weife mit dem
Auguftinismus und der Myftik verbündet, läfst er fich
noch eigens das Concept verrücken. Wenn man Luther
's Lehre vom ,ethifch-religiöfen Standpunkte' aus dar-
ftellen wollte, fo glaube ich, wäre nicht die Theorie vom
,Gefetze' befonders zu berückfichtigen (eine Lehre, die
in viel höherem Mafse, als Lommatzfch bemerkt, durch
die Theorie des Paulus und durch die Vieldeutigkeit des
Ausdrucks ,Gefetz' bedingt ift), fondern die Idee des
.Heiles' oder der .Seligkeit'.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Hoffmann, Superint. Lic. Carl, Leben und Wirken des Dr.
Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann. II. Berlin 1880,
Wiegandt & Grieben. (III, 217 S. gr. 8.) M. 3. —

Der zweite Band diefer Biographie erfüllt nicht ganz
die Erwartungen, welche der erfte (f. Lit.-Ztg. 1878
Nr. 25 Sp. 611) erweckt hat. Der Grund liegt zum grofsen
Theil in der Sache felbft. Der Verf. empfindet felber
,die Schranken, die eine fo nahe an die Gegenwart heranreichende
Lebensgefchichte auferlegt'. Er fieht fich
genöthigt, wichtiges Material, das .wegen der vielen Bezüge
auf politifche Perfönlichkeiten der Zeit nicht zur
Mittheilung geeignet ift', zurückzuhalten; er weift darauf
hin, dafs ein Einblick in die Acten der kirchlichen Verwaltung
z. Z. nicht möglich fei. In Folge davon ift gerade
die kirchenpolitifche Wirkfamkeit Hoffmann's, die in ihren
Hauptzügen denen, die die letzen Jahrzehnte mit Bewufstfein
durchlebt haben, nicht unbekannt ift, nicht mit
der Ausführlichkeit behandelt, wie man es nach der ziemlich
umfangreichen Anlage des Buches erwarten mufste.
Sofern aber die Biographie ein perfönliches Denkmal
fein foll, bietet auch diefer Band viel Intereftantes und
Anziehendes. Der erfte Abfchnitt behandelt die kurze
Epifode des Tübinger Ephorats, in der namentlich Hoffmann
's zum Theil fpäter verwirklichte Reformvorfchläge
zur Reorganifation der Stiftsordnung hervorgehoben find,
während über feine Stellung zu dem damals fchon
jWirkungsvollften' Lehrer der theol. Facultät Tübingens
Dr. Beck leider nichts gefagt wird, als dafs die Schüler
des einen nicht zugleich die des andern fein konnten.
Die nächften Abfchnittc fchildern die Ueberfiedelung
nach Berlin, den neuen Wirkungskreis als Oberconfifto-
rialrath und Mitglied des evangel. Oberkirchenraths und
Generalfuperintendent der Kurmark, feine Stellung zur
Union und zu den kirchlichen Verfaffungsfragen, mit be-
fonderer Vorliebe bei der Darftelluug der neu ins Leben
gerufenen Generalvifitationen verweilend. Der Thätig-
keit als Domprediger und Stifter des Domcandidaten-
ftifts ift ein eigener Abfchnitt gewidmet, in welchem auch
feine Gedanken über Predigt und Seelforge, fowie ein
ausführlicheres Referat aus dem 1854 auf dem Kirchentage
in Frankfurt gehaltenen Vortrage ,über den rechten
Gebrauch der Bibel in Kirche, Schule und Haus' mit-
gethcilt werden. Der folgende Abfchnitt behandelt Hoffmann
's Verhältnifs zu dem König Friedr. Wilh. IV, feine
Stellung zu den kirchlichen Idealen desfelben, fein Urtheil
über Perfon und Streben des vielverkanntcn ,deutfchen
Königs'. Je mehr die Biographie fich der Jetztzeit nähert,
defto mehr tritt das Perfönliche in den Vordergrund.
Die Familienerlebnifse, der Verkehr mit einem zahlreichen
Freundeskreife finden eine anziehende Darfteilung;
aus den literarifchen Arbeiten Hoffmann's, feinem Vortrage
über die göttliche Stufenordnung im alten Teft.,
über die Erdkunde im Lichte des Reiches Gottes werden
überfichtliche Auszüge gegeben, feine Anfchauungen