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Ausgabe:

1880 Nr. 19

Spalte:

468-469

Autor/Hrsg.:

Kölling, Heinr.

Titel/Untertitel:

Die theologische Wissenschaft und die Kirche in ihrem Verhältniss zu einander. Vortrag 1880

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 19.

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er ein bemerkenswerthes Gefchick. Einzelne feiner Ausführungen
find wirklich recht hübfch zu lefen, enthalten
manche beherzigenswerthe Wahrheit und zeugen von feinem
Blick für das wirkliche Leben. Aber zum Theil
find es auch rein perfönliche Herzensergiefsungen. So
macht der Verf. gelegentlich feinem Aerger über die
fcharfen Recenfentenzungen Luft, wendet feine Satyre
gegen das moderne Parteitreiben insbefondere der Zei-
tungsredacteure, giebtBemerkungenüberfchlechtePrediger
und langweilige Docenten, über Alles, was ihm gerade
unter die Feder kommt. Aber was foll das für eine
Frucht fchaffen für die ganze Gemeinde? Oder für welchen
Leferkreis hat eigentlich der Verf. fein Schriftchen
beftimmt?

Befondem flörend ift die fafl krankhafte Sucht des
Verf.'s, feine Schriftauslegung mit gefuchten Beziehungen
auf moderne Verhältnifse aufzuputzen. So fagt er z. B.
fogleich am Anfang: ,Der Brief von Titus enthält ein
Stück orientalifcher Frage, denn er wendet fich nach
Kreta. Paulus giebt feinem Abgefandten auch Inftruc
tionen, aber doch andrer Art, als fie der moderne Pafcha
von dem fogenannten »Grofsherrn« erhält'. Er nimmt
allein Rückficht auf den Vertrag, den er mit feinem Er-
löfer eingegangen ift; er gedenkt nur des Congreffes
mit ihm auf dem Wege nach Damaskus. S. 15 fleht zu
lefen : ,Die Ungläubigen haben kein Privilegium auf Mar-
tinsgänfe und Champagner'. Dabei fehlt es nicht an Ge-
fchmacklofigkeiten im Ausdruck. In einer Erörterung
über chriftliche Kinderzucht, welche der Verf. zu dem
(fiXntiy.vog II, 4 giebt, fteht wörtlich: ,Nicht zu früh die
Kinder dem Wind ausfetzen, d. h. zu früh in die Gefell-
fchaft führen und zu kleinen dämlichen Herrchen und
zu herrlichen Dämchen zu machen'. Und das nennt der
Verf. die Umwandlung des kurzen Schriftworts in die
lebendige Sprache der Gegenwart!

Die ftörende Verquickung biblifcher Lehre mit ungehörigen
Beziehungen auf moderne Verhältnifse tritt
am unangenehmften in dem Scnlufswort hervor, welches
am beften ungedruckt geblieben wäre. Es enthält ganz
richtige Bemerkungen über den Geift der altteftamcntlichen
Heilsoffenbarung. Aber fo, wie es der Verf. thut, den Geift
des wahren Israel als Semitismus zu bezeichnen, ift eine willkürliche
Begriffsconfufion, zu welcher er nur durch feinen
Eifer gegen die Antifemitenliga fich hat verleiten laffen.
Frft fagt er ganz richtig, dafs der Begriff ,femitifch', der
Gebrauch des Namens .Semiten, Völker des Sem' ganz
unbiblifch ift. Dann aber heifst es: ,Auch femitifch kann
nur in dem Sinn genommen werden, den ihm die Schrift
giebt'. ,Der ethnographifche Charakter des Semitismus
ilt ein willkürlich gebildeter, der fittliche Charakter des
Semitismus ift durch die Schrift allein geoffenbart; es
ift kein andrer als der Geift Israels'. Und weiter: ,Es
giebt nur zwei Gegenfätze in der Welt des Geiftes, das
ift Sem und Harn; Antifemiten find die Bufselofen, anti-
hamitifch find die Kinder der zehn Gebote in der Erfüllung
Jefu Chrifti'. Uns dünkt, dafs mit der vorliegenden
Schrift der Verfaffer felbft bewiefen hat, dafs der ethnographifche
Charakter des Semitismus doch nicht fo ganz
willkürlich erfunden ift. Möchte er bemüht fein, als
chriftlicher Theolog denfelben völlig abzuftreifen, und
fich felbft gefagt fein laffen, was er S. 21 wider die geredet
, welche in alter ernfter Sprache redende Männer
behandeln, als fchrieben fie eine moderne Zeitungsrecen-
fion. Es ift tief zu beklagen, dafs ein fo reich begabter
und kenntnifsreicher Mann, der die Befähigung hätte,
wirklich zu leiften, was er in Ausficht ftellt, und eine
Schriftauslegung zu geben, welche die Ergebnifse der
wiffenfehaftlichen Exegefe für die Gemeinde nutzbar
machte, mit einer Leiftung wie die vorliegende vor die
Oeffentlichkeit tritt.

Taucha. Dr. Paul Wetzel, Diaconus.

Kölling, Superint. Paft. Lic. Heinr., Die theologische Wissenschaft
und die Kirche in ihrem Verhältniss zu einander.

Vortrag, am 4. Juni 1879 vor der Schlefifchen Pafto-
ral-Conferenz zu Liegnitz gehalten. Gotha 1879,
F. A. Perthes. (47 S. gr. 8.) M. 1. —

Das Verhältnifs zwifchen Theologie und Kirche ftellt
fich nach dem Verf. einfach fo: die Theologie forfcht, die
Kirche entfeheidet (S. 9: jener komme das öoxiitdCeiv, £!■-
exaCeiv, yv/.ivdtg'Eiv, grjTEiv, diefer das oglCeiv zu — der Verf.
liebt es, griechifch und hebräifch zu fagen, was fich deutfeh
ebenfo gut fagen liefse). Warum eine Theologie da ift und
da fein mufs, erfährt man eigentlich nicht; was S. 3 ff. darüber
vorkommt, ift ungenügend, und was am Schluffe
des Vortrags zur Empfehlung theologifcher Studien durch
die Geiftlichen gefagt wird, ift im Allgemeinen ja ganz
richtig, weift aber doch nur die praktifche, insbefondere
apologetifche Nützlichkeit jener Studien nach, nicht aber
die principielle Nothwendigkeit der Genefis einer theo-
logifchen Wiffenfchaft aus dem Leben der Kirche. Ebenfo
wenig erfährt man, welches die Organe find, durch die
die Kirche ihre Lehrdefinitionen giebt. Der Verf. beklagt
es als eine Entartung der mittelalterlichen Kirche,
dafs nicht mehr der corporativ verfafste Epifkopat die
Entfcheidungen gegeben habe, fondern der Papft (S. 14),
fcheint alfo in jenem das berufene Organ zu erblicken.
Das fehlt uns nun im Proteftantismus; der Verf. denkt
fich wohl an deffen Stelle die landesherrlichen Confifto-
rien, etwa mit Zuziehung der Synodalausfchüffc (was
freilich mit dem fonftigen Proteft gegen parlamentari-
Ichcs Wefen in der Kirche wenig ftimmen würde). Eine
Befchränkung der akademifchen Lehrfreiheit weift der
Verf. ab; er will nicht, dafs die theologifche Facultät
von der Univerfität ausfeheide und das fei unausbleiblich
, wenn ihr eine kirchliche normo, docendi vorgefchrie-
ben werde. Als Garantie gegen das Eindringen unkirchlicher
Richtungen fordert er nur. dafs den Kirchenbehörden
, einfchliefslich der Synodalausfchüffe, ein Mitwirkungsrecht
bei Befetzung der Profeffuren eingeräumt
werde; dann mögen, fagt er beruhigt, die Privatdocen-
ten lehren, was fie wollen, die Kirche wird dafür forgen,
dafs keiner, der unrechte Lehre führt, in eine Profeffur
komme (S. 38). Von der pfarramtlichen Praxis dagegen,
namentlich der Kanzel, mufs der Einflufs der Wiffenfchaft
fern gehalten werden. Hier hat der Pfarrer einfach
das Bekenntnifs der Kirche zu bezeugen; der Sub-
jectivität kommt dabei keine andere Bedeutung zu als
eine formale: nach diefer Seite hin mag die Theologie
Dicnfte leiften, ein weiteres Recht dagegen hat fie nicht
(S. 39). Zu forfchen foll dem Geiftlichen nicht vertagt
fein, es foll ihm auch frei flehen, abweichende Ergebnifse
,in gehöriger, des aggreffiv-häretifchen Charakters
ermangelnder Form' der Wiffenfchaft zu übergeben; aber
der Gemeinde gegenüber hat er fie für fich zu behalten
oder fein Amt niederzulegen, denn die Kirche ift kein
,Sprechfaal', fondern fie hat die ,von Gott geoffenbarte,
von der Gemeinde in fymbolifch fixirter Form reeipirte'
religiöfe Wahrheit zu predigen (S. 40). Mit andern Worten
, die Symbollehre ift das ein für allemal feftftehende
unwandelbare Gefetz der Wahrheit. Dafs dergleichen
Sinn und Verftand nur bei Vorausfetzung kirchlicher
Unfehlbarkeit hat, fcheint dem Verf. gleich vielen Anderen
zu entgehen; eine unwandelbare Kirchenlehre ift
das Unfittlichfte, was es geben kann, wenn fie nicht zugleich
eine unfehlbare ift. Für die theologifche Wiffenfchaft
bleibt alsdann keine andere Aufgabe als die, die
unfehlbare Kirchenlehre zu erweifen und zu vertheidigen,
fie wird zu reiner Scholaftik. Davor wolle Gott untere
evangelifche Theologie in Gnaden bewahren! Der Verf.
verfichert freilich, die Theologie folle freie Wiffenfchaft
bleiben wie jede andere, an keine Schranken gebunden,
als die überhaupt jede Wiffenfchaft anerkennen müffc.
Allein was er darüber fagt, dafs jede Wiffenfchaft ein