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Ausgabe:

1880 Nr. 19

Spalte:

465-467

Autor/Hrsg.:

Cassel, Paulus

Titel/Untertitel:

Christliche Sittenlehre. Eine Auslegung des Briefes Pauli an Titus. Mit einer Schlußbemerkung über den Semitismus 1880

Rezensent:

Wetzel, Paul

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46s

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 19.

466

ehernes longefetz), die von Schulze-Delitzfch, Marx und
Laffalle ausgehenden focialiftifchen Beflrebungen, fowie
die Hauptvertreter des ,Kathederfocialismus', endlich die
,chriftlicn-fociale' Partei und gcwiffe ,Gruppen' focial-
politifcher Schriftfteller der Neuzeit (Schaffte, Ad. Wagner
, Rud. Meyer, F. A. Lange u. A.) werden kurz cha-
rakterifirt und fcharffinnig beurtheilt. Ueberhaupt wird

paratefte zu vereinigen. Und was verfpricht derfelbe
erft in der Vorrede! Da fleht zu lefen: ,Dafs die Auslegung
mit wiffenfchaftlichen Gefichtspunkten abgefafst
ift, konnte nicht hindern, die Lehren des Apoftels für
die ganze Gemeinde lesbar machen zu wollen. Es ift
verfucht worden, ihn zugleich auf gegenwärtige Lebenserfahrungen
hinweifen zu laffen. Es kommt mir vor,

die nationalökonomifche Literatur fehr eingehend be- 1 als wäre bisher noch nicht genügend dahin gearbeitet
rückfichtigt (S. 5—58). worden, die heilige Schrift durch erweiterte Auslegung

Aber für die ,chriftliche Ethik' oder gar für die Be-
urtheilung der Einwirkung der Kirche auf die fociale
Gefetzgebung bleibt wenig Raum übrig. Die betreffende,
durchaus aphoriftifche Durchführung ermangelt der hifto-
rifchen Grundlegung, fowie der fchärferen Begrenzung.

dem chriftlichen Volke immer näher zu führen. Es gehört
dazu die Umwandlung des kurzen Schriftworts in
die lebendige Sprache der Gegenwart'. Wie ift der Verf.
feinem Verfprechen nachgekommen? Gewifs wird ihm
Niemand vorzuwerfen haben, dafs er durch trockene
Nur auf die bekannte Schrift von Todt (der radikale j Exegefe den Lefer ermüde. In feinem Buche geht Alles
deutfche Socialismus und die chriftl. Gef. 1877) wird bunt durch einander. Bald redet er über den Apoftel
etwas näher eingegangen. Im Uebrigen aber befchränkt j Paulus und feine Lehrgehilfen, bald witzelt er über mo-
ftch der Verf. darauf, im Anfchlufs an die Herbart'fche derne Zeitungsredacteure. Bald citirt er Kirchenväter,
Ethik die bekannten moralifchen ,Grundideen" philofo- : bald mittelhochdeutfche Dichter. Einmal befafst er fich
phifch zu rechtfertigen und in ihrer focialethifchen Trag- j ganz ernfthaft mit der etymologifchen Erklärung eines
weite darzuftellen. Ziemlich unvermittelt wird nebenbei 1 griechifchen anal; leyn/ucvov, dann hüpft er, des trocke-
das ,Ideal der Sittenlehre Jefu' und zwar auf Grund der j nen Tones müde, zu einer Bemerkung über die Klatfche-

rcien in modernen Damenkränzchen und Paftoralconfe-
renzen oder erzählt zur Abwechfelung eine Anekdote aus
einem griechifchen Profanlcribenten. Solche Abfchweif-
ungen bilden eigentlich den Hauptinhalt feines Buches.
Mit der Auslegung feines Briefes befafst fich der Verf.
nicht gar zu viel. Er begnügt fich damit eine Ueber-
fetzung nach dem griechifchen Texte zu geben, an
welche er erläuternde Bemerkungen anknüpft. Manchmal
verfährt er auch dabei willkürlich. So ift I, 14
h'xoXcäg av&Qcinwv mit ,Menfchenerzählungen' überfetzt
und die Bemerkung hinzugefügt, der Apoftel ziele damit
auf die jüdifchen Mythen, in denen die evangelifche
Erzählung von feiner Geburt durch die Jungfrau Maria
entftellt wird. Zu II, 13 entfeheidet fich der Verf. gegen

drei erften Evangelien (man weifs nicht warum?) angedeutet
. In theologifcher Hinficht ift alles recht flüchtig
gearbeitet. Die ,Lehre vom Zufammenwirken Gottes und
des Menfchen' (S. 69 ff.) bei allem Guten erfcheint als
die etwas fchale und abfehmeckende Quinteffenz der
chriftlichen Idee vom fittlich Guten. Dabei fehlt es an
einer präciferen Begriffsbeftimmung der Idee des ,chriftlichen
ftates'. Nicht dafs der Verf. diefe .unklare' Idee
ziemlich entfehieden abweift, fondern dafs er die Ab-
weifung nicht eingehender (auch gefchichtlich) begründet,
ift ihm zum Vorwurf zu machen. Auch fehlt eine fcharfe
Grenzbeftimmung der beiden Begriffe Staat und Gefell-
fchaft. Das S. 2 f. andeutungsweife Ausgefprochene (die
Gcfellfchaft ift das .veränderliche', der Staat das .bleibende
') reicht doch nicht aus und ift in diefer Form aus- '< die Trennung von cov (xeyäXov iteov und xat awznooe
gedrückt fehr mifsverftändlich, ja geradezu falfch. , tjfiwv 'Iröov Xqiozov. Sonft geht er feiten auf exege-

Trotz diefer Mängel ift die Schrift reich an höchft l tifche Controverfen ein, meift nur, wenn fich ihm dabei

anregenden Partien und bewegt fich in angenehmer, fri-
fcher und klarer Diction. Die Ausftattung ift prachtvoll.
Die Orthographie nach neuerer Methode ift fehr ftörend.
Manchen Satz mufs man wiederholt lefen, um ihn zu
verftehen. Worte wie .notwer' (Nothwehr), lere (Lehre),
nemen (nehmen), war (wahr!) etc. chockiren unwillkürlich.
Mitunter hat fich der Verf. genöthigt gefehen, fremdartige
Kunftzeichen zum Verftändnifs hinzuzufügen. Wer
würde es fonft verftehen, dafs das Wort ,genem' dem
dsHTÖS in Act. 10, 34 entfprechen foll? Der Verf. mufste,
um nicht unverftanden zu bleiben, ,genem' drucken
laffen! Und confequent läfst fich diefe, unferc gewohnten
Wortbilder verftümmelnde Orthographie doch nicht
durchführen. Sonft wäre nicht einzufehen, warum der
Verf. .erfatz' ftatt ,erfaz', ,ihre' ftatt ,ire', ,feele' ftatt
,fele', .gebieten' ftatt .gebiten', ,hier' ftatt ,hir' fchreibt.
Wo bleibt da der folgerichtige Purismus? — Auch der
Hörenden Druckfehler find nicht wenige, die bei einiger
Sorgfalt hätten vermieden werden können.

Dorpat. Oettingen.

Cassel, Paft. Prof. I). Paulus, Christliche Sittenlehre. Eine
Auslegung des Briefes Pauli an Titus. Mit einer
Schlufsbemerkung über den Semitismus. Zur Erinnerung
an den 28. Mai 1855. Berlin 1880, Stahn.
(VIII, 112 S. 8.) M. 1. —

Der Verf. hat, wie die Vorrede befagt, den Titusbrief
in feiner Zeitfchrift Sunem 1879 und 1880 ausgelegt
und giebt nun eine Sammlung diefer exegetifchen Auf-
fätze mit einem Schlufswort. So ift ein cigenthümliches
Schriftchen entftanden. Schon der Titel giebt eine Probe
von dem abfonderlichen Gefchick des Verf.'s, das DisGelegenheit
bietet, eine piquante Bemerkung zu machen.
Zumeift aber verliert fich feine Auslegung unmerklich in
die Anwendung bei welcher er dann länger verweilt.
Der Verf. will eben nicht bei der Auslegung des Schriftworts
flehen bleiben, fondern es für die praktifchen Be-
dürfnifse der Gegenwart nutzbar machen. Nun mag ihm
zugegeben werden, dafs er Vieles beigebracht, den reichen
paränetifchen Gehalt des Titusbriefs an's Licht zu
Hellen und fchliefslich nur wenig unberührt gelaffen hat,
was in dem praktifchen Theil einer chriftlichen Sittenlehre
zu befprechen ift. Aber die einheitliche Zufam-
menfaffung des gelegentlich Ausgeführten fehlt. Nicht
einmal ein Verfuch dazu findet fich. So bietet das
Schriftchen nicht, was fein Titel verfpricht. Eine chrift-
liche Sittenlehre ift es nicht.

Es erübrigt noch zu zeigen, in welcher Weife der
Verf. beftrebt gewefen ift, die Lehren des Apoftels für
die ganze Gemeinde lesbar zu machen. Einzelne Partien
feines Buches lind nur für Gelehrte. An hvteini-
fchen, griechifchen und hebräifchen Citaten fehlt es nicht.
Wo der Verf. fein Lieblingsgebiet, die etymologifchen
Unterfuchungen, berührt, giebt er wohl auch gelehrtes
Beiwerk. Aber dabei entbehrt doch das Ganze der wiffenfchaftlichen
Haltung. Nicht mit Einem Worte werden
die Einleitungsfragen berührt. Die paulinifche Ab-
faffung des Titusbriefes wird ohne weiteres vorausgefetzt
ohne irgend welche Andeutung, dafs derfelben wiffen-
fchaftliche Bedenken entgegenftehen. An einzelnen Stellen
verräth der Verf. ein wiffenfehaftliches Intereffe. Im
Uebrigen fchreibt er wie ein Feuilletonirl, der nach Pi-
quantem und Gciftreichem hafcht, ohne Gleichmäfsigkeit,
ohne Gründlichkeit, ohne den dem Gegenftand entfpre-
chenden -Ernft.

Für die praktifche Anwendung des Schriftworts zeigt