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Ausgabe:

1880

Spalte:

464-465

Autor/Hrsg.:

Hollenberg, W.

Titel/Untertitel:

Die sociale Gesetzgebung und die christliche Ethik 1880

Rezensent:

Oettingen, Alexander

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. No. 19.

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der Nationalität bei dem engen Anfchlufs an die (ka-
tholifche) allgemeine Kirche nichts verlor; denn Frankreich
, in jener Periode der in nationaler Beziehung am
weiteflen vorgefchrittene Staat, blieb ein Glied der all-
gemeinen Kirche. Uebereinflimmend mit diefen Grund-
fätzen ftatuirt der Verf., dafs beim Siegen des Prote-
ftantismus die Welt wieder in das Alterthum, den Paganismus
zurückgefunken wäre. Die geiftliche Gewalt
wäre abhängig von der fürftlichen geworden. Dazu war
fie aber von der Vorfehung nicht beftimmt, denn alle
nationalen Grenzen durchbrechend follte die Kirche (die '
katholifche) fortbeflehen und die Vereinigung des menfch-
lichen Gefchlechtes bilden. An der Hand diefer Ge-
fichtspunkte werden nun nach einer fehr umfangreichen
Einleitung die religiöfen Kämpfe in Frankreich während
des 16. Jahrhunderts behandelt. Das Eindringen, die Verbreitung
des Proteftantismus, die Gegenmafsregeln von
Seite des Königthums, die Bartholomäusnacht, die Ligue,
das Edict von Nantes, der Zuftand der proteftantifchen
und der katholifchen Kirche unter Heinrich IV. find die
Hauptabfchnitte des intereffanten Buches; einzelne Partien
wie die Schilderung der Stände von Blois und das
Wiederaufleben des Katholicismus unter Heinrich IV.
find fehr bemerkenswerth; dafs das ftets ftreng katholifche
Paris einen gewaltigen Einflufs ausübte, dafs die
franzöfifche Nation nicht, wie die deutfche, in ihrem In-
nerften von der neuen Lehre aufgeregt wurde, dafs
Heinrich IV. nur durch feinen Uebertritt König von
Frankreich werden konnte, hat der Verf. mit Recht und
klar betont. Bei aller Achtung aber, die er den hervorragenden
Hugenottenführern zu Theil werden läfst,
geht doch durch das ganze Werk jener oben erwähnte,
echt katholifche Standpunkt, das Buch wird unwillkürlich
zur Apologie des Katholicismus und Heinrich's IV.
als katholifchen Furften. Welche fchiefe Folgerungen
fich daraus ergeben, liegt auf der Hand. Wenn die
Ketzerei in Frankreich nicht vernichtet, fondern geduldet
wurde, fo find die Motive dazu keineswegs edle, aus
Toleranzprincipien hervorgegangene gewefen, fondern po-
litifche Nothwendigkeit. Man denke nur an den Vertrag
von Nemours 1585 zwifchen Heinrich III. und den Guifen,
an die Dragonaden und die unaufhörlichen blutigen Verfolgungen
unter Ludwig XIV. bis zu jenem berüchtigten
Edict diefes Monarchen (8. März 1715), welches den Proteftantismus
in Frankreich als nicht mehr exiftirend betrachtete
. Und wenn die religiöfe Toleranz die Auf-
löfung des Proteftantismus zwar nicht befchleunigt, aber
auch nicht aufgehalten hat, fo ift zu bedenken, dafs es
Princip Heinrich's IV. war, feine früheren Glaubensge-
noffen auf alle mögliche Weife nun auch zu feiner Con-
feffion herüberzuziehen; er hatte dem Papfte feierlich gelobt
, die Katholiken bei der Befetzung der Aemter zu
bevorzugen; treulich hat er dies gehalten und gebührend
wird er hier dafür gelobt; aber ftimmt dies mit der Parität
? Die Frage, ob es Heinrich mit feiner Bekehrung
zum Katholicismus Ernft gewefen fei, wird nicht beftimmt
entfchieden; aber wenn der Verf. glaubt, die re-
formirte Lehre lei ihm nie tief zu Herzen gegangen, er
habe höchftens Augenblicke des echten Glaubens gehabt,
fo wird es erlaubt fein, diefen Mafsftab auch auf Heinrich
als Katholiken anzuwenden; und ob diefem leichtfinnigen
Monarchen die Gegenwart Gottes im Sacra-
mente des Altars wirklich fo theuer war, möchte Ref.
fehr bezweifeln, ebenfo dafs feine Toleranzpolitik von
einem Glaubensact ausging. Auch verdient der König
für feine Thätigkeit bei der famofen Disputation zwifchen
Duperron und Dupleffis-Mornay (Mai 1600), fowie für
fein bekanntes Billet an den Herzog von Epernon alles,
nur kein Lob. Ueberhaupt hätte mehr hervorgehoben
werden follen, was die katholifche Kirche ihrer proteftantifchen
Schwefterkirche in Frankreich verdankte; als
diefe durch die Aufhebung des Edictes von Nantes auch
aufhörte zu exiftiren, da waren auch die Zeiten der

Boffuet, Bourdaloue, Fenelon etc. vorüber und es begann
jenes Schwanken zwifchen Freigeifterei und Ultramontanismus
, von welchem die katholifche Bevölkerung
Frankreichs nicht mehr loszukommen fcheint, und das
ftets auch zu verhängnifsvollen politifchen Kataftrophen
führte. Noch einige Kleinigkeiten feien hier berichtigt:
p. 278, A. 2 mufs es ftatt 1644 und 1646 ftets 1544 und
1546 heifsen; p. 383, La Roche Chandieu ft. La Roche
Chandion ; die Synoden der Reformirten find ausführlich
in Aymon aufgezählt; Bearn ift nie die Citadelle des
Proteftantismus in Frankreich gewefen (p. 125), und dafs
das Interim dazu beigetragen habe, den Proteftantismus
in Deutfchland zu befeftigen und zu verbreiten, ift keineswegs
richtig.

Stuttgart. Theodor Schott.

Hollenberg, Lic. Dr. W., Die sociale Gesetzgebung und
die christliche Ethik. (VIII. Bd. Neue Serie der ,Ver-
handelingen rakende den naturlijken en geopenbaar-
den Godsdienft, uitgegeven door Teyler's godgeleerd
genootschap'.) Haarlem 1880, de Erven F. Bohn.
(Leipzig, Harraffowitz.) (109 S. gr. 8.) cart. M. 2.40.

Diefe kleine, feinfinnige, ich möchte fagen liebenswürdige
Schrift ift eine gekrönte Concurrenzarbeit, die
von der Teyler'fchen theologifchen Gefellfchaft trotz
mancher gegen fie erhobenen Bemerkungen' des ausgefetzten
Preifes für würdig befunden und veröffentlicht
worden ift. Das Mifstrauen gegen derartige Werke
liegt nahe und ift weit verbreitet. Gleichwohl darf die
vorliegende Arbeit als eine auf felbftändigen Quellen-
ftudien fufsende, eigenartige Leiftung anerkannt und empfohlen
werden. Namentlich wird fie dem Laien auf dem
Gebiete der neueren focialpolitifchen Gefetzgebung zur
Orientirung über manche gegenwärtig brennende Streitfrage
dienen können. Eine Löfung des im Titel angedeuteten
Problems giebt fie kaum, beanfprucht es auch
nicht. Denn das befcheidene Refultat der Unterfuchung
(S. 96) ift, dafs ,in den vielen weitverzweigten arbeiten,
die dafs (!) menfehliche leben erkennen und vervollkommnen
wollen, das fittliche grundgewiffen und feine
grundlegende befeftigung in den gemütern ftets den
höchften wert behalten wird und dafs hierunter nichts
anderes verftanden werden kann, als die chriftliche form
diefes wiffens und die tiefe einprägung chriftlichcr Weisheit
in die feelen. Hier liegt zwar nicht ein erfatz für
alle andere arbeit in der politik, volkswirtfchaft, fozia-
len pfychologie und andern gebieten, auch kein com-
pendium für die gefetzgebung in ftat und gefellfchaft
, wol aber eine quelle des lebens und ftre-
bens für alle menfehen, in allen fozialen verhältnifsen.
Dem bedrückten und armen bewart fie feine würde und
gibt ihm troft, den bevorzugten gibt fie demut und die
kraft der fozialen opfer, den ftatsmann rüftet fie aus mit dem
lebendigen ftreben nach heilfam fchöpferifchen reform-
gedanken. Und alles dies tut die chriftliche ethik am
fchönften, wenn fie auf ihrem alten, bewärten gebiete
bleibt und nicht den andern wiffenfehaften in ihr
amt greift'.

Bei diefer anerkennenswerthen Referve, die der Verf.
als Ethiker gegenüber der focialpolitifchen Gefetzgebung
fich angelegen fein läfst, ift es nicht recht zu verftehen,
warum er fo weit ausholt, mit einem fo grofsen Apparat
nationalökonomifcher Fachgelehrfamkeit an die Frage
herantritt und fo viel nicht hergehöriges Material aufhäuft
(z.B. die Arbeiterprogramme S. 21 ff. und im .Anhang
')? Die Gefchichte der Nationalökonomie wird im
Anfchlufs an Rofcher's, Dühring's und Held's Arbeiten
in einem ganz intereffanten und lichtvollen Ueberblick
dargelegt. Die einzelnen Hauptrichtungen, namentlich
der von Adam Smith begründete Ockonomismus (Man-
cheftertheorie), die Ricardo'fchen Ideen (bodenrente und