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Ausgabe:

1880 Nr. 19

Spalte:

455-456

Autor/Hrsg.:

Meyer, Heinr. Aug. Wilh.

Titel/Untertitel:

Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. 3. Abth.: Die Apostelgeschichte. 5. Aufl 1880

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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455

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 19.

456

Meyer, Dr. Heinr. Aug. Wilh., Kritisch-exegetischer Kommentar
über das Neue Testament. 3. Abtheilung. Kri-
tifch - exegetifches Handbuch über die Apoftelge-
fchichte. 5. Aufl., neu bearb. von Privatdoc. Lic. Dr.
H. H. Wendt. Göttingen 1880, Vandenhoeck &
Ruprecht's Verl. (VIII, 543 S. gr. 8.) M. 7. —

In formeller Hinficht ift bei diefer Neubearbeitung
des Meyer'fchen Commentars zur Apoftelgefchichte genau
die, den Lefern diefer Zeitfchrift fchon bekannte (vgl.
1878, S. 105 f.), Methode befolgt, welche Weifs in feiner
Bearbeitung des Marcus, Lucas und Johannes eingefchla-
gen hatte. In der Hauptfache ift der Text flehen geblieben
; die angebrachten Abweichungen find fafl immer
Verbefferungen. So wird beifpielsweife mit Recht 27, 10
die vßqig nicht, wie Meyer wollte, fubjectiv, fondern,
dem Zufammenhang entfprechend, objectiv verftanden
unter treffender Berufung auf Jofephus Ant. III, 6, 4 tcbv
äufiqtov vßqic, 27, 14 yux avtrjg nach Overbeck ,von
ihr herab' überfetzt, 28, 11 die fubftantivifche Faflung
von naqaorjpii) bei Meyer verworfen und ihm gegenüber
Overbeck auch in der Identificirung der igevia und des
/i/ff%/ß 28, 23. 30 befolgt. Diefe Fälle, welche die be-
deutendflen Aenderungen in der Einzelexegefe der beiden
letzten Capitel befaffen, zeigen, dafs Meyer zuweilen
fogar philologifch corrigirt werden konnte und dafs die
treffliche Bearbeitung, welche De Wette's Commentar
vor zehn Jahren gefunden hat, gebührend gewürdigt worden
ift (vgl. S. VII). Bei diefer Gelegenheit fei am Bei-
fpiele derfelben zwei letzten Capitel gleich das Ver-
hältnifs zu Overbeck's Kritik veranfchaulicht. Die Bedenken
des Letzteren gegen 27, 33—36 werden nicht erwähnt
, die gegen 27, 21—26 abgelehnt, ohne dafs fie in
ihrem Mittelpunkt, dem Verhältnifse zu dem Programm
23, 11, gewürdigt werden, die endlich gegen 27, 3. 28, 14,
wie mir fcheint, mit gutem Fug und Recht für unerheblich
erklärt.

In der Grundauffaffung des zu erklärenden Schrift-
flückes fleht freilich der Herausgeber durchaus auf dem
Standpunkte Meyer's, und man wird es ja in der Ordnung
finden, dafs nur wer letzteren im Allgemeinen
theilte das Werk der Bearbeitung zu übernehmen geeignet
erfchien. Diefe Ueberei'nftimmung tritt fogar in
der Einleitung hervor, wiewohl diefe der Herausgeber
ganz neu gearbeitet hat. Hier vornehmlich in der feft-
gehaltenen Annahme, dafs der Verfaffer der Wirflücke
auch der Verfaffer des Ganzen fei (S. 9 f.). Mit diefer
Frage ift der Nerv der ganzen kritifchen Verhandlung
über unfer Buch berührt. Denn wenn dem fo ift, fo hat
der Verfaffer mit Paulus in fo nahem Verhältnifse ge-
ftanden und ift auch mit anderen Männern der Ur-
gemeinde in fo vielfache Berührung gekommen (vgl.
S. 16), dafs es fleh im Grunde lediglich von felbft verlieht
, wenn nicht blofs die Gefchichtlichkeit von Notizen,
wie 16, 3. 18, 18. 21, 23 f. unbeanftandet bleibt, fondern
auch die fleh gegenfeitig bedingenden Erzählungen vom
Hauptmann Cornelius und vom Apoftelconvent, letztere
mit Inbegriff der neulich felbft von Keim und W. Grimm
verleugneten vier Auflagen, aufrecht erhalten werden,
überhaupt das ganze apoftelgefchichtliche Bild des Paulus
, der da ift avtdg <pvlaootov top vö/nov 21, 24 (vgl. S.
442. 446), als Norm beliehen bleibt, wonach fleh der
Ausleger der Briefe wohl oder übel einrichten mag. ,Das
Einzige, was wirklich befremdlich erfcheint, ift, dafs
Paulus eben dort Gal. 2, 10 den Inhalt des Apoftelde-
crets nicht erwähnt' (S. 328 f.). Der Galaterbrief ift
alfo zum Stich zu fchwach gegenüber der fonft in allen
Punkten fleh als glaubwürdig herausftellenden Mittheilung
des Lucas' (S. 329). So unbegreiflich mir heute die
Selbfttäufchungen, welche ein folches Urtheil ermöglichen
, erfcheinen, fo habe ich fie doch felbft bis vor
etwa 12 Jahren getheilt, begnüge mich daher an diefem

Orte, mich von der Darftellung der Apoftelgefchichte,
welche ich in Schenkel's Bibel-Lexikon und in Bunfen's
Bibelwerk gegeben habe, loszufagen. Vielleicht dafs
ähnliche Erfahrungen auch dem Herausgeber künftig
nicht erfpart bleiben.

Denn davon hat derfelbe ein durchaus klares Be-
wufstfein, dafs man fleh bezüglich der Apoftelgefchichte
auf einem im Allgemeinen doch allzu unfleheren Boden
bewege. Ich mag die zahlreichen Symptome diefer Un-
ficherheit (z. B. S. 231. 340. 466) hier nicht zufammen-
ftellen, da er felbft gleich S. VI aus feinem im Vergleiche
mit Meyer freieren Urtheil nicht im minderten
ein Hehl macht. Es kann fleh zwifchen ihm und mir
überhaupt nur um ein Mehr oder Minder handeln, wenn
doch die Erkenntnifs nicht blofs zugegeben, fondern im
! Grundfatze geltend gemacht wird, dafs wir hier durch-
1 weg mit einem ,gewiffen idealiflrenden und harmoniliren-
| den Charakter des uns vorgezeichneten Gefchichtsbildes'
zu rechnen haben (S. 3), fo dafs regelmäfsig umgangen
wird, ,was den befriedigenden und erhebenden Eindruck
des Gefchichtsbildes ftören könnte' (S. 4) — eine Wahrnehmung
, wovon auch noch behufs Erklärung des auffallenden
Schluffes ein, wenngleich fchüchterner, Gebrauch
gemacht wird (S. 14).

Nirgendwo anders bieten die Commentare Meyer's
fo grofse Schwächen wie in ihren Anfätzen — von mehr
kann man nicht fprechen — die neuteftamentlichen Ge-
fchichtsbücher fowohl im Ganzen wie in Bezug auf ihre einzelnen
Berichte unter einen wirklich gefchichtlichen Ge-
fichtspunkt zu ftellen. Neben einem meift gut discipli-
nirten philologifchen Wiffen fällt das gefchichtliche
Urtheil um fo bemerklicher ab. Gerade auf diefer Seite
mufste Abhülfe eintreten, und dem Herausgeber der vorliegenden
Abtheilung wird das Lob nicht verfagt werden
dürfen, dafs er in diefer Hinficht Alles gethan hat,
was innerhalb des feilgehaltenen Rahmens der Gcfammt-
anfehauung gefchehen konnte. Dafür flehen Beweife in
Menge zu Gebote von der Abweifung der, am Bericht
über das Ende des Judas 1, 18 geübten, harmoniftifchen
Kunft Meyer's bis zur Verurtheilung feiner tendenziöfen
Verfchiebung des Sinnes der Judenrede 28, 22.

Sollte der Bearbeiter dazu kommen, den Commentar
noch einmal herausgeben zu können, fo werden ge-
wifs auch manche gelehrte Verfäumnifse nachgeholt werden
, deren einige hier im Intereffe der Sache hervorgehoben
werden mögen. Zu a0.%1eqatiY.bv yevog 4, 6,
äqxiowccycoyog 13, 15. 18, 8. 17, uaiaqyai 19, 31 ift genau
dasfelbe zu bemerken, was Schürer in diefer Zeitfchrift
1878, S. 5 fchon gegen Grimm bemerkt hat, und dazu
vielleicht fpeciell bezüglich der Stellung der Afiarchen
in dem epheflnifchen Handel Zimmermann: Ephefus,
S. 143. Ebenfo kann über die Cohorten 10, 1. 27, 1
nicht gefprochen werden ohne Kenntnifsnahme von
Schürer: Zeitfchrift für wiffenfehaftliche Theologie,
1875, S. 413 f., vor Allem aber nicht über cpnßovf.ievng
tbv ireov (wo übrigens der Profelyt mit Recht gegen
Meyer anerkannt wird) ohne Be r nay s'Auffchlüffe über
den terminus technicus in den Commentationcs philologi-
cae in honorem Mommsenii 1877, S. 563 f. Wird, wogegen
ich nichts haben kann, S. 20 Nösgen gegen mich
citirt, fo dürfte der Billigkeit und Vollftändigkeit halber
ebendafelbft auch ich gegen jenen angemerkt fein (Zeitfchrift
für wiffenfehaftliche Theol. 1880, S. 121 f.). Endlich
bieten Keim's Auffätze (Proteft. Kirchenzeitung,
1872, S. 90 f., 148 f. Aus dem Urchriftenthum, S. 59 f.)
im Verein mit früheren Kundgebungen von Baumgarten
, Lekebufch, Trip und Hilgenfeld Anlafs, die
kurze Bemerkung S. 270 zu einem kleinen Abfchnitt über
die Eintheilung der Apoftelgefchichte" zu erweitern.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.