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Ausgabe:

1880 Nr. 18

Spalte:

427-429

Autor/Hrsg.:

Lenormant, François

Titel/Untertitel:

Les origines de l’histoire d’après la Bible et les traditions des peuples orientaux. De la création de l’homme au déluge 1880

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 18.

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felbfl bekannt iB: nur kann ich mir nicht verfagen, darauf
hinzuweifen, dafs — worüber ich in keiner Ency-
klopädie etwas Ausreichendes finde — eine nähere Erörterung
über das Verhältnifs der Theologie zur allgemeinen
Religionswiffenfchaft bei dem gegenwärtigen
Stande der Dinge nicht fehlen dürfte.

Ich bemerke ausdrücklich, dafs diefe Bemerkungen
nichts weiter fein follen als Wünfche für eine folgende
Ausgabe, keineswegs Ausftellungen an der gegenwärtigen
, und dafs diefelben die Verbreitung des Buchs in
keiner Weife hemmen follen. Denn jeder, dem es in
diefer Zeit der lebhafteften Spannung der Parteigegen-
fätze an einer friedlichen und gefunden Entwickelung
unferer kirchlichen Verhältnifse gelegen ift, kann nur
wünfchen, dafs diefem Buche, einer echten ,Friedensge-
ftalt aus der Breitenden Kirche der Gegenwart', die Stellung
, die es bisher behauptet hat, bewahrt bleibe. Und
fo fei es denn namentlich unferer ftudirenden Jugend von
Neuem angelegentlichft empfohlen!

Breslau. L. Lemme.

Lenormant, Prof. Frang., Les origines de l'histoire d'a-
pres la Bible et les traditions des peuples orientaux.
De la creation de l'homme au deluge. Paris 1880,
Mahonncuve & Co. (XXII, 630 S. gr. 8.)

Das Buch ifl eine Art Commentar zu den neun er-
ften Capiteln der Genefis, zunächft eine Erklärung der
biblifchen Erzählungen gebend und daneben die Parallelberichte
anderer Völker Bellend. Letztere nehmen weitaus
den gröfsten Theil des Buches ein. Nach den an
den Anfang geBellten Ueberfetzungen aus der Genefis
(S. 1 — 36) zu urtheilen, die bis Cap. XII reichen, fcheint
das ganze Werk fich bis zu den Wanderungen der The-
rachiden ausdehnen zu follen. Auf jene mit wenigen erläuternden
Bemerkungen verfehene Ueberfetzung folgt:
Etudc coviparative du redt biblique et des traditions paralleles
(S. 37—491), wo in jedem Abfchnitt eine eingehendere
Erklärung auch des biblifchen Berichtes gegeben
wird, fo weit fie nöthig erfchien, um von da aus
die Vergleichung zu ermöglichen. Der Verf. hat feinen
Gegenfiand in folgende Gruppe geordnet: die Er-
fchaffung des Menfchen S. 37- 57, der Sündenfall S.
58—108, die Cherube und das flammende Schwert S.
109—139, der Brudermord und die Gründung der erBen
Stadt S. 140—175, die Sethiten und die Kainiten S.
176—213, die zehn vorfluthlichen Patriarchen S. 214—
29O, die Kinder Gottes und die Töchter der Menfchen
S. 291—381, die Sintfluth S. 382 — 491. Dann folgen
zahlreiche Anhänge (S. 493—618), enthaltend Ueberfetzungen
und zum Theil Erläuterungen der wichtigBen
Urkunden, aus welchen die Parallelberichte gefchöpft
wurden, fo der keilfchriftlichen Texte, des Beroffus,
Sanchuniathon, Damascius u. f. w. Ein fehr ausführliches
Inhaltsverzeichnifs (S. 619—630) erleichtert den Gebrauch
des Buches. Ein einigermafsen vollBändiges alphabeti-
fches RegiBer der befprochenen Namen und Sachen
wäre bei der Reichhaltigkeit des Inhaltes fafl unausführbar
, müfste wenigBens einen ganz unverhältnifsmäfsigen
Raum einnehmen.

Eingehender über den Inhalt zu berichten, iB bei
dem Vielerlei desfelben unmöglich; es könnten zu fol-
chem Referat nur einzelne Abfchnitte herausgegriffen
werden. Abficht des Verf. iB, zu zeigen, dafs die biblifchen
Urgefchichten ein aus breiterem Strombette abgeleiteter
Seitenkanal find. Die zu Grunde liegende Ur-
tradition iB nicht die der ganzen Menfchheit, aber auch
nicht die des Semitismus allein, fondern einer urfprüng-
lich in Afien noch ungetheilt lebenden gröfseren Völker-
gemeinfchaft, von welcher der Semitismus eine Abzweigung
repräfentirt. Das find Annahmen, die aus den Traditionen
vieler Völker mit Evidenz fich ergeben. Der

Verf. hat feinen Nachweis zu führen gefucht durch Ver-
werthung eines fafi unabfehbaren Materials, wie es feiner
feltenen Gelehrfamkeit zu Gebote Beht, aber auch ihr
nur zu Gebote Behen kann durch die Stellung des Verf.
an einer der ausgezeichnetBen Bibliotheken der Welt.
Eine RüBkammer, aus der vielerlei Geräthe zu holen,
iB auch diefes Buch wie die vielen anderen, welche Le-
normant's raBlofer Fleifs geliefert hat, ihrer oft mehrere
im Jahre zu Tage fördernd. In den von mir felbB bearbeiteten
Partieen habe ich meine Materialfammlungen
mehrfach bereichert gefehen. Es iB aber längB nicht
alles brauchbares Geräthe, was man hier findet; man-
j ches auch an fich gut, aber am unrechten Orte aufge-
j Bellt, und in der unabfehbaren Menge iB das gute leicht
I zu überfehen. Ref. vermuthet, nicht der einzige Lefer
zu fein, welcher das Buch nach jeder Leetüre fchwin-
delnd bei Seite legte und genöthigt war, fich mühfam
wieder darauf zu befinnen, welchem Zweck das eben Ge-
lefene dienen follte; denn der Lefer wird erbarmungslos
nicht nur durch alle Gauen Afiens, Nordafrika's und
Europa's gehetzt, fondern wenn er einen Augenblick
glaubt, an den Ufern des Indus fich lagern zu dürfen,
fleht er fich fehr bald von einem Sturmwinde fogar auf
eine Spitze der Cordilleren getragen. (Doch will ich
nicht unterlaffen zu bemerken, dafs der Verf. lobens-
werther Weife aus den amerikanifchen Fluthlegenden
einen Schlufs auf die Allgemeinheit der Fluthtradition
bei der ganzen Menfchheit nicht mehr wie früher ziehen
will. S. 471 f.) Der Verf. würde den Werth feiner
Schriften um ein Bedeutendes Beigern, wenn er durch
| etwas mehr Sichtung aus dem embarras de richesse heraushelfen
möchte. Ich habe fchon früher den hiBori-
fchen Blick des Verf's. gerühmt; ich kann aber auch hier
nicht, und bei diefem Buche weniger als bei anderen
diefes Autors, finden, dafs jenes durch Begabung ihm
verliehene Pfund ausgenützt iB, wie es follte. Der Verf.
überfieht grofse Perioden und weifs mit richtigem Takt
ihre Verbindungsfäden und die fie bewegenden Mächte
herauszuerkennen. Mit diefer allgemeinen Ueberfchau
aber begnügt er fich und fchachtelt fein grofses Material
in die vorher fertigen Abtheilungen ein, ob es nun recht
j hineinpafst oder nicht. Zu der eigentlichen Arbeit des
I Hifiorikers, das Gefammtbild herauszugeflalten aus der
Sammlung der Einzelheiten und darnach jene allerdings
als Anfangspunkt des Arbeitens nothwendige Ueberfchau
zu modificiren, fehlt dem Verf., der immer wieder ein
neues Buch glaubt fertig Bellen zu müffen, offenbar die
Zeit. Hypothefen Anderer, welche gerade paffen, werden
wie Facta behandelt und neue eigene auf dem
fchwankendem Grunde aufgebaut. — Ich würde mich im
Intereffe der Wiffenfchaft freuen, wenn der Verf., der
| im Einzelnen meinen Ausheilungen und Berichtigungen
wiederholt die liebenswürdigfle Berückfichtigung ge-
fchenkt hat, auch dies mein Hauptbedenken gegen feine
Art zu arbeiten fich gefagt fein laffen wollte.

Wie in früheren Büchern fo iB auch in diefem der
Autor bemüht, feine Unterfuchungen als der katholifch-
kirchlichen Anfchauung ungefährlich darzuBcllen und
hat in diefem Sinne feiner Vorrede Montaigne's Wort
vorangeBellt: Cest icy, lecteurs, un livre de bonne foy.
; Ich habe dabei zu bemerken, dafs dadurch in diefem
Buche 'anders war es bei den Unterfuchungen des
! Verf. über das Buch Daniel) die Freiheit der gefchicht-
1 liehen Auffaffung kaum beeinträchtigt worden iB. Der
Verf. iB eben der verBändigen Meinung, dafs hiBorifche
Kritik der heiligen Schriften dem chriBlichen Glauben
nicht zu nahe tritt. Hinfichtlich des Pentateuches hat
er fich neue und neuefie Anfchauungen angeeignet. Ich
j mufs auch hier feinen Takt loben, wenn er fich auf die
I Ausfage befchränkt, dafs das jehovifiifche Buch älter fei
j als das elohifiifche (S. XV). Ich halte dies für das einzige
, allerdings fehr wichtige, fichere Ergebnifs der
; neuefien Pentateuchkritik.