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Ausgabe:

1880 Nr. 17

Spalte:

409-410

Autor/Hrsg.:

Ziemssen, Otto

Titel/Untertitel:

Anthropologische Grundgedanken über Ursprung und Ziel der Religion. 1. Theil: Die Religion im Lichte der Psychologie 1880

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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409

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 17.

410

als das wahre Sein anzufchen. Ein vor 4 Jahren von
ihm verfafster eingelegter Auffatz, auf den der Verf. fich
jetzt wieder befonnen hat, thut dar, dafs der Grund für
den gegenwärtigen Rückgang des religiöfen Lebens in
der Gedankenlofigkeit liegt. Ein vor 10 Jahren verfafster,
fall unverändert abgedruckter Auffatz: ,Plate's Lehre von
der Dialektik und von der Idee des Schönen' bildet den
III. Abfchnitt der Schrift und dient zum Erfatz für das
entwickelte philofophifche Syftem, in welchem eigentlich
erft der volle Beweis für die Evidenz Gottes oder dafür,
dafs er das wahre Sein ift, gegeben werden kann. Wie
diefer durchaus am Stoffe klebende, keineswegs das Allgemeingültige
herausftellcnde Auffatz als folcher Erfatz
dienen foll, ift unerfindlich — eine durch ihre Originalität
frappircnde Illuftrirung des nonnin prematur in an-
mcm, dient er nur dazu 50 Seiten zu füllen. Auch die
erften 79 Seiten der Schrift find ein Anachronismus.

Magdeburg. J. Gottfchick.

Ziemssen, Otto, Anthropologische Grundgedanken über Ursprung
und Ziel der Religion. I. Theil: Die Religion im
Lichte der Pfychologie. Gotha 1880, F. A. Perthes.
(XXXIV, 208 S. gr. 8.) M. 3. -

Die Vernachläffigung berechtigter Gefichtspunkte
und Forfchungsmethoden pflegt fich dadurch zu rächen,
dafs, wenn diefelben endlich fich die gebührende Anerkennung
errungen haben, ihr Werth und ihre Tragweite
zunächft ebenfo einfeitig überfchätzt, dafs fie als die
allein gültigen proclamirt werden Das erleben wir jetzt
auch in der Theologie. Die moderne genetifche Methode,
Anthropologie und Pfychologie, unentbehrliche Hülfs-
mittel zum Verftändnifs des Gefchichtlich Gewordenen,
beanfpruchen es, das letzte Wort auch in Fragen zu
fprechen, wo es fich um abfolute Werthe dreht, deren
der zum fittlichen Handeln beftimmte Menfch nicht ent-
rathen kann, und die doch mit Nothwendigkeit in relative
aufgelöft werden müffen, wenn die letzte Inftanz bei
einer Methode fleht, welche nur den Caufalzufammen-
hang der unbegrenzten Entwicklung zufälliger Thatfachen
ergründen kann. Durch den Einflufs diefer Zeitrichtung
fcheint; der Vf. der vorliegenden Schrift in Einfeitigkeit
getrieben zu fein, nachdem das Bekanntwerden mit ihr ihn
von den Feffeln einer aufserlich fupernaturaliftifchen Orthodoxie
befreit hat. Offenbar von lebendigem religiöfen
Intereffe erfüllt, hat er fich doch von ihr so imponiren laffen,
dafs ihm die ,fpeculativc' Bearbeitung der einfehlägigen
Fragen nur als die gradlinige Fortfetzung der anthropo-
logifchen Unterfuchungen erfcheint, dafs er allen An-
thropocentrismus auf's ftärkfte bekämpft, dafs er in dem
Gedanken fchwelgt, auf den Millionen vollkommenerer
Weltkörper werde es auch vollkommenere Zwecke geben
als auf der Erde, das fordere die telcologifche Weltan-
fchauung — als ob diefe nicht recht eigentlich anthro-
pocentrifch wäre, — dafs die Perfectibilität des Chriftcn-
thums und Pfleiderer's Traum von der Synthefe der
bisher höchften Religionen zu einer — doch wohl nur
vorläufigen — Mcnfchheitsreligion ihm fympatifche Geil
anken find.

Das vorliegende Buch, in welchem für die Erforfchung
des Wefens und der Triebfedern der Religion Vorgänge aus
dem allgemeinen menfehlichen Seelenleben in Bewegung
gefetzt werden, giebt fich als den relativ felbffändigen
Vorgänger von zwei noch projektiven, deren erftes die Religion
einer gefchichtlich-ethnologifchen Betrachtung unterwerfen
foll, während das zweite die gefchichtlich ver-
fchiedenen Ziele der Religion in der Ethik einheitlich zu-
fammenfaffen wird. In 4 Abfchnitten wird hier die Religion
in das Licht der Pfychologie geftellt. Der erfte
erörtert ihr Wefen im Vcrhältnifs zu Kunft, Philofo-
phie, Ethik, der zweite ihr Werden durch den Hebel
der Phantafie unter der Bedingung einer im gefammten

Weltleben fich enthüllenden Offenbarung, wobei befon-
ders dem Traumleben in feiner Bedeutung für die Entwicklung
des Gottes- und des fittlichen Bewufstfeins Beachtung
gefchenkt wird, ohne dafs dogh der Vf. fich
entfchliefsen könnte, demfelben einen wirklich conftitu-
tiven Werth für das Werden der Religion zuzufchreiben.
i Ein dritter Abfchnitt befpricht Abnormitäten und
j Ausartungen der Religion wie Sonambulismus, Ekftafe,
| Fanatismus, Cölibat, Polygamie, religiöfe Intoleranz —
letztere befonders ausführlich mit dem praktifchen Beftre-
ben, ihr entgegenzuarbeiten, ein vierter die Höhepunkte
der Religion: Gebetsleben, Cultus, Lebensopfer, wobei
mit Benutzung von Gedanken Lotze's über eine inner-
| halb gewiffer Grenzen mögliche Veränderung des abfo-
i luten Weltgrundes für eine gewiffe Erhörung von Gebeten
auch um irdifche Dinge und für dadurch benöthigte
Wunder in vermittelnder Weife eingetreten wird — jedenfalls
eine Verirrung aus der Pfychologie in die Meta-
phyfik.

Mit einem Hauptbedenken gegen die Methode des
Vf.'s kann Ref. fich auf deffen eigenen Boden ftellen.
i Soll durch die Erforfchung der realen Thatfachen Wefen
und Werth der Religion bellimmt werden, fo müfste
diefem erften der angekündigte zweite Theil als vergleichende
Religionsgefchichte vorangehn: nur durch
methodifche Vergleichung der verfchiedenen Religionen
läfst fich das treibende Princip der Religion ermitteln und
erft dann kann der Werth der bisher höchften Religion
und ihrer einzelnen Momente beftimmt werden. Dies freilich
nicht mit pfychologifcher Methode; am wenigften
laffen fich diefe Fragen durch eine der Natur der Sachenach
auf's Gerathewohl zugreifende Vergleichung von Einzelheiten
enlfcheiden.

Als das Wefen der Religion bezeichnet der Vf. Gefühl
und Anfchauung des Vollkommenen als eines ob-
jectiv aufser ihm Vorhandenen und Erftrebung der unmittelbaren
Verbindung mit ihm. Dabei überfieht er
völlig, dafs die Religion überall dem Menfchen das Mittel
ift, um den Contraft zu löfen, in welchem fich der Menfch
bei feinem fpeeififchen Selbftgefühl mit feiner empirifchen
Lage in der Welt findet, d. h. er überfieht den zweiten
j ebenfo conftitutiven Factor der Religion. Diefer Fehler
1 ift mit dadurch herbeigeführt, dafs er die teleologifche
1 Weltanfchauung, welche die Frucht der chriftlichen Cul-
! turentwicklung ift, als etwas fo Selbftverftändliches anfleht,
I wie wenn fie durch die Erfahrung über allen Zweifel er-
| hoben würde, und dafs er demgemäfs im Ganzen der
1 Welt eine Offenbarung Gottes als des abfohlten Gefühls,
der abfoluten Phantafie, der abf. Vernunft, der morali-
fchen Wcltordnung zu finden glaubt. Hätte er eine
umfaffenderc gefchichtlichc Betrachtung vorangehn laffen,
fo hätte er vielleicht erkannt, dafs Offenbarung allemal
für die religiöfe Gcmeinfchaft, nicht für den Einzelnen
etwas bedeutet und dafs ftets etwas Befonderes in der Erfahrung
, das zum Schlüffel für das Räthfel des Ganzen
dient, diefes Werthprädikat bekommt.

Erfreulich ift an dem Buch der warme, milde Sinn,
i der es durchweht, fowie der Fleifs und die Opferfreudig-
| keit, durch die es dem unter höchft ungünftigen litcra-
rifchen Bedingungen lebenden Verfaffer möglich geworden,
fich den Zugang zu der vveitfehichtigen religionsgefchicht-
lichen resp. philofophifchen Literatur zu verfchaffen.

Magdeburg. J. Gottfchick.

Wernicke, Dr. Alex., Die Religion des Gewissens als Zukunftsideal
. Berlin 1880, C. Duncker. (XV, 127 S.
gr. 8.) M. 2. 40.

Eine bedeutungsfehwere Schrift, , Vidcant coiifnles', fo
j fchliefst die Vorrede, fo die Schrift felbft die Auffor-
j derung an unfere Staatsmänner ab, durch allgemeine
[ Einführung eines confeffionslofen Religionsunterrichtes,
i durch energifche Hemmung der Judenhetze, durch kräf-

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