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Ausgabe:

1880 Nr. 15

Spalte:

366-367

Autor/Hrsg.:

Iken, J. Fr.

Titel/Untertitel:

Joachim Neander. Sein Leben und seine Lieder. Auf Veranlassung seines 200. Todesjahres nach bekannten und neuentdeckten Quellen bearbeitet 1880

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 15.

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und dem von Bellarmin am 26. Mai ausgeftellten Zeug-
nifs für Galilei, zumal wenn überdies die Verdachtsgründe
auch durch die Form der Aufzeichnung felbft
verftärkt würden, angenommen werden, dafs dies Schrift-
ftück kurz vor dem zweiten Procefs, etwa 1632 eben zu
dem Zweck fabricirt worden fei, um in demfelben gegen
Galilei als Anklagematerial verwendet zu werden. Diefe
Annahme, welche Wohlwill fchon in feiner Schrift: der
Inquifitionsprocefs des G. 1870 begründet hat, welche
auch Gherardi theilt, hat feitdem vielen Beifall gefunden;
Gebler hat allerdings feinen anfänglichen Beifall zuletzt
zuückgezogen, das Actenftück für echt erklärt, aber
doch angenommen, der Notar der Inquifition habe darin
etwas berichtet, was nicht wirklich gefchehen fei. Ohne
hier in die Sache eingehen zu können, und ohne die
Auffaffung Reufch's im Einzelnen für unzweifelhaft zu
halten, ftehe ich nicht an zu behaupten, dafs die betreffenden
Erörterungen Reufch's (S. 128 —150) fehr geeignet
find, die Zuverficht zu jenen Deductionen gegen das
Document zu erfchüttern, zumal auch der fpätere Ab-
fchnitt S. 346 ff. gut zeigt, dafs dasfelbe keineswegs
eine fo unentbehrliche Grundlage für die fpätere Ver-
urtheilung war, dafs von hier aus das Bedürfnifs es zu
erfinden nahegelegt fchiene. Sieht fich doch auch Scar-
tazzini, welcher die Unechtheit behauptet, zu der Annahme
veranlafst, man habe im Verlauf des 2. Proceffes
die Ueberzeugung gewonnen, dafs man jenes Documents
nicht bedürfe, und deshalb fei fchliefslich kein grofses
Gewicht darauf gelegt worden.

Der Verf. forgt durch zahlreiche Auszüge aus Ga-
lilei's eignen Briefen und Schriften dafür, dafs das Bild
desfelben lebendig vor unfern Augen wird; zugleich
ift auch das Erforderliche beigebracht, um Einrichtung
und Verfahren des heiligen Officiums klar zu ftellen.
Galilei wurde, wie R. mit Recht hervorhebt, ganz
von felbft dahin gedrängt, über die Grenzen rein wiffen-
fchaftlicher Betrachtung hinaus auch auf die Bibelautorität
einzugehen, um zu zeigen, dafs auch die Schrift
nicht angerufen werden darf, um Thatfachen todt zu
fchlagen, dafs fie aber auch recht verftanden der Offenbarung
Gottes in der Natur nicht entgegentreten könne.
Nicht ohne innern Widerfpruch aber war doch feine
Stellungnahme zur kirchlichen Autorität. Galilei hoffte,
als er Ende 1615 nach Rom gekommen war, noch lebhaft
, der richtigen PLinficht in den kirchlichen Kreifen
zum Siege zu helfen, er hoffte namentlich noch auf die
Jefuiten, ,welche viel mehr wiffen als die gewöhnlichen
Mönche'. Trotz der richtigen principiellen Einficht,
dafs in diefen Fragen keine Autorität entfcheiden kann,
ging er darum doch darauf aus, von der Kirche auf
Grund vorgelegter wiffenfchaftlicher Beweife eine Ent-
fcheidung für die copernikanifche Theorie zu erlangen.
Man möge diefe Anficht abweifen, wenn fie nicht mehr
als 90 Procent der Gründe für fich habe. Das war begreiflich
aber nicht ohne innern Widerfpruch, den auch
Reufch's Bemerkungen (S. 53) nicht ganz befeitigen; und
es war unklug, wie feine Freunde erkannten; in der That
fcheinen die Bemühungen Galileis die entgegengefetzte
Wirkung gehabt und die Gegner zum Einfehreiten gereizt
zu haben, ein Umftand, der natürlich nur in
den Augen jefuitifcher Advocaten der Kirche als eine
Rechtfertigung ihres Vorgehens gelten kann. Den vernichten
Abfchwächungen gegenüber weift R. (S. Iioff.)
in inftruetiver Weife auf den innern Zufammenhang des
Decretes der Index-Congregation gegen die Schriften,
in welchen die falfche und der h. Schrift durchaus wider-
fprechende pythagoreifche Lehre von der Beweglichkeit
der Erde u. f. w. gelehrt werde, mit dem Verfahren der
Inquifitionsbehörde gegen Galilei hin; es handelt fich
in der That nicht blofs um ein gewöhnliches Decret
der Index-Congregation, das etwa als eine blofs dis-
ciplinare Anordnung angefehen werden könnte, fondern
zugleich um eine wenigffens indirecte doctrinelle kirchliche
Entfcheidung. Indeffen zeigt doch beim Beginn
des fpätern Verfahrens gegen Galilei deffen Befürchtung,
man wolle die copernikan. Lehre verdammen, und die
Beruhigung Magalotti's darüber (S. 244), den Unter-
fchied von einer auch formell als folcher promulgirten
Lehrentfcheidung. Dafs dann aber und in welchem
Sinne in der Verurtheilung Galilei's von 1633 wirklich
eine folche, und nicht etwa blofs eine Zurückweifung
der copernikan. Lehre als propositio temeraria oder partim
tuta zu finden fei, zeigt R. S. 336 ff. überzeugend.

- Es gewährt ein melancholifches Intereffe, der gründlichen
(freilich auch etwas breiten) und gewiffenhaften
Darfteilung zu folgen bis zur Abfchwörung und dann
wieder durch alle die kleinen Quälereien bis zum Ende
des beklagenswerthen Mannes. Nicht die Abfchwörung
als folche ift es, welche.an diefem Märtyrerthum ohne
Heroismus das Peinlichfte ift, fondern der Umftand, dafs
diefe Abfchwörung nur die Befiegelung der jahrelang
confequent feftgehaltenen und doch für Jedermann durchfichtigen
Lüge feines Lebens war. Denn nicht ift fein
Widerruf durch die Bedrohung mit der Folter erprefst,
wie bei Zöckler (Gefch. d. Bez. zw. Theol. u. Naturw.
I, 535) zu lefen ift, fondern er ift ja nur die eidliche
Wiederholung der früheren Verficherungen, dafs er dem
Glauben der Kirche gehorche, Verficherungen, welche
er nun den Muth haben mufste, feftzuhalten auch bei
der Bedrohung mit der Folter, welche ihn eventuell
zum Geftändnifs der häretifchen Intention bringen follte.

Kiel. W. Möller.

Iken, Paft. J. Fr., Joachim Neander. Sein Leben und feine
Lieder. Auf Veranlaffung feines 200. Todesjahres
nach bekannten und neuentdeckten Quellen bearbeitet
. Bremen 1880, Müller. (VIII, 415 S. mit
Portr. in Lichtdr. 8.) M. 3. —

Am 31. Mai d. J. find zwei Jahrhunderte feit dem
Tode des Dichters geifllicher Lieder verfloffen, welcher
durch feine Geburt und fein letztes Amt der Stadt Bremen
angehört. Es ift ein anerkennenswerther Act der
Pietät, die Erinnerung an diefen Mann, dem die ganze
evangelifche Kirche deutfeher Zunge das ,Lobe den
Herren den mächtigen König der Ehren' nachfingt, durch
den Abdruck feiner 57 Lieder und eine forgfältige
Lebensbefchreibung gerade jetzt zu ehren. Denn neben
dem religiöfen Werth, welcher vielen der Neander'fchen
Lieder beiwohnt, zeichnen fie fich vor der gleichzeitigen
deutfehen Poefie durch Einfachheit und Wahrheit der
Empfindung, und vor den meiften religiöfen Liedern der
Zeit durch Kürze und Bündigkeit aus. Für das äufsere
Leben des Dichters aber ift auch der Verf. diefer Schrift
hauptfächlich angewiefen auf den 13 Seiten langen Bericht
, welchen N.'s Zeitgenoffe und Freund J. H. Reitz
feiner ,Hiftorie der Wiedergeborenen' einverleibt hat.
Diefer Bericht findet allerdings noch eine wefentliche
Ergänzung aus dem Archiv der reformirten Gemeinde
in Düffeldorf, wo N. 1674—79 Schulrector war, und in
einem Conflict mit dem Presbyterium wegen Haltens
von Conventikeln u. dergl. eine ehrenhafte Nachgiebigkeit
bewies. Diefer Stoff ift fchon von Goebel in der
,Gefchichte des chriftl. Lebens' verarbeitet. Endlich
giebt das Taufbuch der ULFrauen-Kirche in Bremen

| Auskunft über die Familie des Dichters, aus welcher
fich indirect (da in jenem Actenftück eine Lücke befiehl)

1 fchliefsen läfst, dafs N. 1650 geboren ift. Der Verf. der

j vorliegenden Biographie hat es fich nun viel Mühe
koften laffen, die früheren Verhältnifse der Familie, welcher
N. angehört, aufzuklären, ebenfo die Gefchichte
anderer Perfonen, mit denen jener in Berührung getreten
ift, namentlich Untereyck's in Bremen und Lürfen's in
Düffeldorf. Allein was den Bildungsgang feines Helden

I betrifft, fo war er doch nur auf die geringen Data des