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Ausgabe:

1880 Nr. 15

Spalte:

363-366

Autor/Hrsg.:

Reusch, Fr. Heinrich

Titel/Untertitel:

Der Process Galilei’s und die Jesuiten 1880

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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3Ö3

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 15.

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dafs er einerfeits der ftärkften Uebertreibung fich fchuldig
macht, und anderfeits wefentliche Punkte von Servet's
Lehre in den Hintergrund ftellt, dazu aber an der ganz undurchführbaren
Fiction fefthält, als hätten wir in den
7 Büchern de trin. error. , welche S. als ein zufammen-
hängendes Ganzes drucken liefs, wirklich drei ganz ver-
fchiedene Lehrphafen (B. 1; 2—4; 3—7), von denen fich
Butzer billiger Weife nur an die letzten hätte halten
follen, obwohl S. ,den Fehler begangen hatte, neben
der 2. und 3. Lehrftufe die erfte flehen zu laffen, ohne
fie geradezu als die befeitigte zu bezeichnen' — allerdings
ein ganz eigenthümliches Verfahren, fo hirnlos,
wie wir es S. nicht zutrauen, wenn wir ihn auch nicht
für den Geiftesriefen halten, zu welchem ihn T. fonft
machen möchte.

Wenn ferner T., entfprechend feinem früheren Verfahren
bei Luther und Melanchthon, auch bei Butzer,
nämlich in deffen vermittelnder Abendmahlslehre, eine
pofitive Einwirkung Servet's glaubt nachweifen zu können
, fo fcheint mir das dafür Beigebrachte um fo
weniger beweiskräftig, als in den Verhandlungen zwi-
fchen der lutherifchen und zwinglifchen Seite, zwifchen
denen Butzer den Mittelweg fucht, er ganz von felbft
auf die Bahnen geführt werden mufste, die er einhielt.
Zum Schlufs fei darauf aufmerkfam gemacht, dafs wir
bei dem geringen reellen Ertrag diefer Arbeit dem Verf.
wenigflens für Mittheilung einiger bisher unbekannter
Schriftflücke zu danken haben, nämlich der Briefe des
Ambr. Blaurer und des Hofs S. 173, der von Grynäus
S. 224 ff. und befonders des Rundfehreibens Butzer's
S. 249 f., fowie des wichtigen Briefs desfelben an Ko-
mander S. 265 f. Freilich würden wir fehr viel lieber
den Wortlaut vor uns haben, als dafs wir genöthigt
find, durch Tollin's Brille zu fehen. Endlich kann Ref.
den Wunfeh nicht unterdrücken, Tollin, der auf dem
beften Wege dazu ift, feine wirklichen Verdienfte um
unfere Kenntnifs Servet's durch die heillofen Confufionen
feiner Gefchichtsdichtungen völlig zu paralyfiren, möchte
fich die Mahnung gefallen laffen: v>]<pe er nüoiv.

Kiel. W. Möller.

Reusch, Prof. Dr. F. H., Der Process Galilei's und die
Jesuiten. Bonn 1879, Weber. (XII, 484 S. gr. 8 )
M. 10. —

Der Verfaffer rechtfertigt fein Unternehmen, die
neuerlich ohnehin ziemlich angefchwollene Galilei-Literatur
zu vermehren, und namentlich nach Gebler's tüchtiger
Arbeit (1876) eine fo umfangreiche Darfteilung zu
veröffentlichen, damit, dafs feitdem erft die vaticanifchen
Procefsacten vollftändig und genau, am beften durch
Gebler felbft veröffentlicht find (1877 als 2. Band feines
Galilei), manche einzelne Punkte nähere Erörterung gefunden
haben, überdies aber für ihn in den Vordergrund
die Frage trete: was lehrt die Verdammung der Coper-
nikanifchen Anficht vom Jahre 1616 und die Verurtheil-
ung Galilei's im Jahre 1633 bezüglich der Autorität,
welche man in Rom für die Entscheidung von theo-
logifchen und mit der Theologie zufammenhangen-
den Controverfen beanfprucht? Dies führt den Verfaffer
befonders auch auf die Betheiligung der Jefuiten, ihren
Einflufs und die theologifche Beurtheilung von ihrer
Seite. Indeffen ift doch der Titel feines Buches infofern
irreführend, als es fich ihm keineswegs etwa blofs um
Darftellung der Beziehungen handelt, in welchen die
Jefuiten zu dem Procefs Galilei's flehen, fondern um
eine vollftändige Darftellung der Anfechtungen, welche
Galilei um der copernikanifchen Anficht willen erfahren
hat, und woran unter andern ja auch die Jefuiten eben-
fowohl ihren gehörigen Antheil haben, als an der hinterher
verbuchten Ausdeutung und Befchönigung des
Verfahrens. Wenn hierin und in der Aufdeckung der
Sophismen und Haarfpaltereien, mit denen von curia-

I liftifcher Seite aus immer wieder verfucht wird, zu verdecken,

j dafs die Kirche mit ihren Anfprüchen auf Unfehlbarkeit

I fich in diefer Sache blamirt hat, die Tendenz des Verf.'s
fichtbar wird, fo kann man von Tendenz doch nur im
durchaus berechtigten Sinne fprechen, dennNiemand wird
verkennen, dafs der Verf. überall in der befonnenften
Weife bemüht ift, die Sache felbft reden zu laffen und dem
Lefer ein objectives Urtheil zu ermöglichen. Von durch-
fchlagender Bedeutung für feine ganze Auffaffung ift anderfeits
die Stellung, welche er gegenüber den neuern Verhandlungen
von Gherardi, Wohlwill, Cantor, Scartazzini
einnimmt, indem er (mit Gebler) für die Echtheit fämmt-
licher Stücke der vaticanifchen und der von Gherardi veröffentlichten
Procefsacten eintritt. In der That fcheint mir
Reufch hier fehr befonnen und richtig zu urtheilen. Er hat
zwar die fpätere Arbeit von Wohlwill in der Zeitfchrift
für Mathematik und Phyfik XXIV. Jahrg. Hiltor.-literar.
Abth. S. 1 ff. (der Original-Wortlaut des päpft. Urtheils
gegen Galilei) erft während des Drucks des letzten
Drittheils feines Buchs berückfichtigen können; er fcheint
mir aber auch diefem Verfuche gegenüber Recht zu be-

! halten mit dem Nachweife, dafs, wenn einzelne Erfchein-
ungen wohl einen gewiffen Verdacht wecken können,
diefer doch viel zu wenig ficher fich begründen läfst,
um die alsdann nöthig werdende Annahme einer weitgreifenden
fyftematifchen Fälfchung irgend als berechtigt
oder wahrfcheinlich erfcheinen zu laffen. Es bezieht
fich dies auf die zweite Verhandlung gegen Galilei
1633, welche zu feiner Abfchwörung und Einkerkerung
führte. Hier müfste, wie man meint erft in unferm Jahrhundert
, nach Rücklieferung der Acten aus Frankreich,
jene Fälfchung des päpftlichen Decrets vom 16. Juni

| 1633 und die dementfprechenden Aenderungen in den
anderen Actenftücken vorgenommen worden fein, welche
bezweckten, dasVerfahrcn gegenGalilei milder darzuftellen,

1 als es wirklich gewefen, und welche dabei doch der Vor-
ausfetzung nach durch den Wortlaut des Urtheils vom
22. Juni Lügen geftraft würden, welches fagt, dafs Galilei
dem peinlichen Verhör {rigoroso esamc) unterworfen
worden. Dies würde begreiflicher fein,wenn
Galilei wirklich gefoltert worden wäre, und man dies
hätte verdecken wollen. Aber auch Wohlwill erkennt
an, dafs jene Annahme nicht haltbar ift, dafs es
fich nur darum handeln kann, ob man gegen Galilei
bis zur fogen. territio realis vorgegangen, nämlich zur
Abführung in die Folterkammer, Vorzeigung der Marterwerkzeuge
und Erklärung ihres Gebrauchs, ev. fogar

! Entkleidung durch die Folterknechte, Bindung etc., oder
ob , wie man nach dem jetzigen Wortlaut des Decrets
annehmen mufs, bei der fogenannten territio verbalis,

j der einfachen Drohung mit der Folter im Verhörfaale
flehen geblieben wurde. Mir fcheint Reufch S. 357 ff.
die Inftanzen für jene Annahme, namentlich auch die
aus dem Ausdruck examen rigorosum entnommene doch
ziemlich zu entkräften. Anderer Art ift die Frage, wie
es fich mit der bei der erften Verhandlung mit Galilei
am 25. Febr. 1616 befchloffenen Verwarnung desfelben
verhalte; auch hier hat Wohlwill die Echtheit der in
den Acten befindlichen notariellen' Aufzeichnung vom
26. Febr. in Anfpruch genommen, wonach Galilei nicht
nur von Bellarmin über das Irrthümliche feiner Anficht
belehrt und zum Aufgeben derfelben ermahnt worden
fei, fondern auch gleich darauf und noch in Gegenwart
des Cardinais aus dem Munde des Pater Commiffarius
im Namen des Papftes und der Congregation des heil.
Officiums den ausdrücklichen Befehl empfangen habe,
die bezeichnete Meinung ganz aufzugeben, in Zukunft

j in keiner Weife mehr feftzuhalten, zu lehren oder zu

I vertheidigen in Wort oder Schrift, widrigenfalls das heil.
Officium gegen ihn verfahren werde. Hier müfste, wenn
wirklich diele Notiz in Widerfpruch ftünde mit den andern
Documenten, dem Befchlufs vom 25. Febr., dem

I Sitzungsprotocoll vom 3. März (über Bellarmin's Bericht)