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Ausgabe:

1880 Nr. 15

Spalte:

358-363

Autor/Hrsg.:

Tollin, H.

Titel/Untertitel:

Servet und die oberländischen Reformatoren. Quellen-Studien. 1. Bd 1880

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 15.

358

hat. Die innern Grunde gegen Thomas, wie fie aus der
Vergleichung mit den andern anerkannten Schriften des
Thomas hergenommen werden, und wie fie neuerlich
befonders von De Larroque mit grofser Zuverficht entwickelt
find, reproducirt der Verf., obgleich er Hirfche's
Zurückweifung diefer zum gröfsten Theile fehr leichtfertigen
Aufftellungen kennt, und genöthigt ift anzuerkennen
, Hirfche habe Manches berichtigt. Nicht einmal
ein fo flumpfes Argument, wie das von den Vorreden
hergenommene (S. 90, vgl. damit Hirfche S. 345),
läfst fich W. entgehen. Aeufserft oberflächlich ift dann
die Entwicklung der innern Gründe für Gerfen, nämlich
dafür, dafs der Verf. ein Italiener, dafs er im 13. Jahrh.
lebte und dafs er Benedictiner war; fo die fprachlichen
Aufftellungen über angebliche Italianismen und gegen
die reichlich vorhandenen Germanismen; als bemerkens-
werth hebe ich nur hervor, dafs der Verf. die Behauptung
Mella's reproducirt, die längft als Germanismus inAn-
fpruch genommene Stelle si scires totam bibliam ,cxterius'
entfpreche auch einer frasc lombarda: saper da fuora.
Die zahlreichen Melker Handfchriften der Imitatio follen
auf Italien, nämlich auf die Reformation des Klofters
durch Sublacenfer Mönche zurückweifen; nur Schade,
dafs von ihnen auch nicht eine einzige für Gerfen Zeug-
nifs ablegt! Beftens werden auch die recht fchwachen
und oberflächlichen Bemerkungen Renan's für italien.
Urfprung und frühere Abfaffungszeit aeeeptirt (S. 184 f.
194 f.). Dafs der Verf. der Imitatio zur Ermunterung
der Seinen auf das ftrenge Beifpiel anderer Religiofen,
insbefondere der Karthäufer und Ciftercienfer hinweift
(I. 25}, foll aufs 15. Jahrh. mit feinem Verfall der Klofter-
zucht nicht paffen, fondern nur aufs 13.! Und dabei
führt der Verf. felbft die Stelle aus Bufch's Windsheimer
Chronik an, in welcher diefer von feinem allgemeinen
Tadel gerade die Carthusiani und qiädam Cistercienses,
alfo gerade die auch von Thomas aus gleicher Anfchau-
ung und Erfahrung heraus namhaft gemachten ausnimmt
. Auch das gewaltige Argument fürs 13. Jahrh.
aus dem Präfens: att Itumilis Franciscus (III, 50) wird
uns nicht erfpart, wobei noch das sanchis aus dem Text
eliminirt werden mufs.

Indem wir die Untcrfuchungen des Verf.'s in ihrer
Methode nur für wiffenfehaftlich unfolid und in ihren
Refultaten für völlig verfehlt bezeichnen müffen, können wir
den Werth des Buches nur finden: 1) in der Zufammen-
ftellung aller derlnftanzen, welche indem alten Streit für
den Günftling der Benedictiner geltend gemacht worden
find, und der Heranziehung auch der darauf bezüglichen
neueren Literatur, namentlich auch der unter uns wenig
bekannten italicnifchen, welche zeigt, wie fehr der ge-
fpenftifche Abt Gerfen dort in den Köpfen fpukt; 2)
in dem dankenswerthen Anhang, welcher a) eine Zu-
fammenftellung über Codd. Ms. der Imitatio giebt,
worin neben Auszügen aus gedruckten Handfchriften-
katalogcn fich auch einige wichtige Mittheilungen namentlich
über Klofterbibliotheken (Göttweig, Kremsmünfter,
Melk, St. Paul in Kärnthen, St. Peter in Salzburg u. a.)
finden. P'reilich find es aufser Brüffel und Petersburg
nur franzöfifche und deutfehe Bibliotheken, welche in
dieferZufammenftellungBerückfichtigung gefunden haben.
S. Kettlewell, tlw Authorship of tlic de imitatione Christi,
London 1877 (f. Theol. Lit.-Ztg. 1878 Nr. 5), woraus j
der Verf. über Manufcripte in England wichtige Mittheilungen
hätte entnehmen können, ift ihm ganz unbekannt
geblieben. Nachweifungen von anderem hand-
fchriftlichen Material (Correfpondenzen über die Imitatio
aus dem 17. Jahrh. u. dgl.) hat er angefchloffen. b) Endlich
ift eine dankenswerthe Tabelle über die Controvcrs-
literatur in den drei Jahrhunderten des Streits beigefügt.
— Dafs der unglückselige Schatten Gerfen's ein für allemal
in Ruhe gelaffen werde, fcheint mir erfte Bedingung,
wenn man mit der Unterfuchung über die Entftehung
des einzigen Buches vorwärts kommen will. Dafs an

Gerfon nicht ernftlich zu denken ift, wird jetzt wohl
aufserhalb Frankreichs überall feftftehen. Was die hand-
fchriftliche Seite der Frage betrifft, fo wäre allerdings
noch eine umfaffende Unterfuchung am Orte, ob in der
That einige Handfchriften etwas über die Zeit des
Thomas felbft hinaufreichen oder nicht; dazu bedürften
wir aber eines nicht nur fachkundigen, fondern auch unbefangenen
Mannes. Wir verweilen noch auf die Be-
fprechung der neueren Erfcheinungen von Keppler in
der Tüb. Theol. Quartalfchr. 1880, 1, S. 47—108, und
fehen mit Verlangen dem verheifsenen 2. Bande der
Prolegomena Hirfche's entgegen.

Kiel. W. Möller.

Toll in, Pred. Lic. H., Servet und die oberländischen Reformatoren
. Quellen-Studien. 1. Bd. A. u. d. T.: Mich.
Servet und Mart. Butzer. Berlin 1880, H. R. Mecklenburg
. (273 S. gr. 8.) M. 4. 50.

Herr Tollin fetzt das Gefchäft, den Servet auszu-
fchlachten, oder feiner Phrafeologie entfprechender ausgedrückt
: die Reformation fervetocentrifch zu beleuchten,
mit ungefchwächten Kräften fort. Und er ift damit noch
lange nicht am Ende. Nippold, der die bisherigen Er-
zeugnifse Tollin's in zwei Artikeln der Jenaer Literaturzeitung
(1876 u. 1879) fehr freundlich gemuftert hat, mag
fich nur für eine dritte nicht kleine Serie rüften. Denn
die Perfpective, welche fchon der Titel der obigen Schrift
eröffnet, wird durch das in derfelben etwa ein dutzendmal
fich wiederholende ominöfe: ,Hierüber anderswo'
drohend genug illuftrirt. Man verzeihe diefen Stofsfeuf-
zer! Er ift nicht fo gemeint, als follte den Arbeiten
Tollin's damit jeder Werth abgefprochen werden. Wäre
es fo, dann liefse man fie eben einfach bei Seite. Aber
T. macht es in der That auch einem recht geduldigen
Lefer fehr fchwer, in der Stimmung zu bleiben, um diefe
Verdicnfte willig anzuerkennen. Die vorliegende Arbeit
freilich halte ich überhaupt für in den Hauptpunkten verfehlt
; immerhin aber ift fo manches Intereflante beigebracht
und zufammengeftellt, dafs mit dem vom Verf.
beherrfchten Material über das Verhältnifs zwifchen Butzer
und Servet unter Rückbeziehung auf den in der That
dankenswerthen Auffatz über Butzer's Confntatio (Stud.
u. Krit. 1875) fich ein anziehender und lehrreicher kleiner
Auffatz von einigen Bogen hätte liefern laffen; der Verf.
aber fchleppt uns durch volle 17 Bogen hindurch! Einmal
müffen wir hier wieder in breitefter Ausführung (auf
c. 70 Seiten!) die ganze Phantafiegcfchichte hören, dafs
Servet 1530 mit Quintana nach Augsburg gekommen,
dafs er als Hauptmann des Ingefindes des kaiferlichen
Beichtvaters, Oberfter der Edelknaben, eben jener ,fpa-
nifche Hauptmann' fei, welcher im Vorzimmer des Hofpredigers
des Kaifers fich Luther's annahm, dafs er hier
von Quintana zu Butzer ,übergetreten' und deffen Ama-
nuenfis geworden fei, mit ihm den Ritt nach Coburg zu
Luther gemacht, dann ihn auf der Reife zu den ober-
ländifchen Theologen begleitet habe, bis er am 13. Oct.
mit ihm in Bafel anlangte und nun dort bei Oecolampad
blieb. Von allen diefen fchönen Dingen wufste die Ge-
fchichte vor Tollin nichts und wird fie nach Tollin eben-
fowenig wiffen. Denn für einen gewiffenhaften Hifto-
riker bleibt von dem ganzen Phantafieftück nur das Eine,
die Möglichkeit (aber nicht einmal Wahrfcheinlichkeit),
dafs Servet mit Quintana wirklich bis nach Augsburg
gekommen, und das Andere, die Thatfachc, dafs er im
Herbft 1530 bei Oecolampad in Bafel war. Alles Andere
ift, wie dem Verf. auch fchon von verfchiedenen Seiten
vorgehalten worden ift, völlig bodenlos. Freilich hat Ts
jetzt noch neue Gründe für feine Annahmen, aber was für
welche! Einmal zieht er aus unrichtigen Angaben einen
Schlufs, der felbft, wenn die Angaben richtig wären,
feinem auch fonft beliebten Verfahren entfprechen würde,
fchwere Gewichte an Spinnegewebe aufhängen zu wollen.