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Ausgabe:

1880 Nr. 13

Spalte:

306-311

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Albrecht

Titel/Untertitel:

Geschichte des Pietismus. 1. Bd. Der Pietismus in der reformirten Kirche 1880

Rezensent:

Weizsäcker, Carl

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305 Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 13. 306

des Rathes und der Bevölkerung von Genf, theils aber
auch an dem nicht minder entfchiedenen Willen des
Königs, die kirchliche und politifche Selbftändigkeit der
Stadt, deren Beeinträchtigung ihm die Bundesgenoffen-
fchaft der proteftantifchen Schweizerkantone gekoftet
hätte, unangetaftet zu laffen. Die in ihrem politifchen
Selbftgefühl fo gut als in ihrem kirchlichen Gewiffen verletzte
Bevölkerung nahm, als derProteft des Rathes gegen
die Einrichtung des Mefsgottesdienftes erfolglos blieb,
den Angriff gegen denfelben felbft in ihre Hand, fo dafs
der Rath, als einmal vom Lande her ein befonders
zahlreicher Befuch in Ausficht fland, um einen Zufam-
menftofs zu vermeiden, am Sonntag Vormittag das Stadtthor
fchliefsen laffen mufste, und Ludwig XIV, ferne
davon auf die aggreffiven Plane feines Gefandten einzugehen
, nahm fogar deffen Klagen über derartige Vor-
kommnifse je länger je unwilliger auf, mahnte ihn wiederholt
, bei aller Wahrung feiner Ehre die ihm zugewiefene
Stellung eines lediglich politifchen Gefchäftsträgers nicht
zu überfchreiten, und liefs ihn, als ein Abgefandter von
Genf ihm den wahren Sachverhalt dargeftellt hatte, nach
einer blofs fiebenmonatlichen Amtsdauer (November
1679 bis Juni 1680) wieder fallen, womit allerdings nicht
der Mefsgottesdienft in Gefandtfchaftshaufe, der vielmehr
von da an für immer fortbeftand, wohl aber die
damit verbundene Gefahr für den kirchlichen Frieden
der Stadt befeitigt war. Es ift namentlich diefe Stellung
Ludwig's XIV zu der Sache, deren Zeichnung neben dem
Einblick in die Ziele der katholifchen Reflaurationspartei
in Frankreich dem Buch auch fein allgemeineres gefchicht-
liches Intereffe verleiht; fie ift der Art und Weife vollkommen
entfprechend, wie von ihm auch fonft die kirchlichen
Angelegenheiten auswärtiger Länder behandelt
und etwaige Aufforderungen zur Einmifchung in diefelben
zurückgewiefen wurden, und die Schrift Rilliet's bietet
in diefer Beziehung die Ergänzung zu dem, was Gerin j
in feiner auch von Rilliet angezogenen Arbeit: Le pape j
lnnocent XI et la revocation de l'idit de Nantes (Revue
des questions historiquts, od. 1878) über diefcs Verhalten
Ludwig's ausgeführt hat: er hält aufs Strengfte
darauf, dafs feinem Gefandten die Freiheit des Gottes-
dienftes gewährt und jedem Katholiken die Theilnahme j
daran zugeftanden werde (p. 74); aber die Klugheit
feines Gefandten foll dafür forgen, dafs aus diefer Freiheit
keine Collifionen mit der befreundeten Stadt ent-
ftehen, und ausdrücklich will es der König diefer letztern 1
unverwehrt laffen, wenn fie ihrerfeits diejenigen, die an
der Meffe Theil nehmen, Geiftliche oder Laien, daran verhindert
oder nachträglich dafür zu ftrafen befchliefst j
(p. 110. 151); wie er fich in feinem Lande über den |
Glauben feiner Unterthanen zum Herrn berufen hielt, lo
wollte er, wenn auch zu Ungunften der eigenen Religion,
auch dem kleinen Nachbarftaate diefe Herrfchaft unge-
fchmälert laffen; ,die Achtung vor der Souveränetät,
fei es eines Königs oder einer Republik, war für ihn
das Princip, welches ihm über allem Anderen, felbft
den Anmuthungen feiner Kirche ftand' (Rilliet p. m).
Andererfeits wird man es aber auch auf Seite der Genfer
Kirche mit Intereffe verfolgen, wie auch fie zu der Frage der
Glaubensfreiheit überall ganz die gleiche Stellung einnimmt
, wie jener; während der König und fein Gefand-
ter — und zwar der erftere ausdrücklich nur als ein
mit der Gefandtfchaft verbundenes Recht — fie für fich
verlangen, fehen die Genfer in ihrer Gewährung eine
Verletzung der bürgerlichen wie der kirchlichen Treue
und laffen fich diefelbe auch in der angedeuteten Be-
fchränkung nur durch die äufserfte politifche Nothwen-
digkeit abringen; ,die Einführung des „papiftifchen
Götzendienftes" in der Stadt Calvin's fchien ihnen kein
geringerer Frevel zu fein, als den Juden die Aufrichtung
der Jupiterftatue und des heidnifchen Altares im Tempel
der Davidsftadf (p. 26), wie denn auch das Wort
liberte de conscience oder de la religion nur im Munde

Chauvigny's und Ludwig's XIV im anerkennenden, bei
den Genfern dagegen im entfehieden abweifenden Sinne
vorkommt (vgl. p. 69. 104. 205. 78). So wird die an
fich fchon aufserordentlich anziehend und lebensvoll
gehaltene Erzählung der einzelnen Begebenheit zugleich
zu einem Zeitbild, in welchem auch die grofsen bewegenden
Perfönlichkeiten und Geiftesrichtungen der
Zeit erkennbar und lehrreich genug uns entgegentreten,
zumal wenn wir uns durch ihren Charakter als Säcular-
I erinnerung zu einer Vergleichung mit der fo vielfach
entgegengefetzten Gegenwart auffordern laffen; dabei
ift der Inhalt, was bei einer folchen Gelegenheitsfchrift
feiten der Fall ift, durchgängig bisher noch unver-
wertheten handfehriftlichen Quellen entnommen — die
wichtigften derfelben find, abgefehen von den Raths-
protocollen und den fonfhgen Documenten des Genfer
Archivs, das Tagebuch eines franzöfifchen Pfarrers jener
Zeit, Jacques Sarafin, und vor Allem der im Parifer Mi-
nifterium des Auswärtigen aufbewahrte Bricfwechfel
Chauvigny's mit Ludwig XIV und feinen Miniftern —
im Ganzen 70 Briefe.

Bafel. R. Stachel in.

Ritsehl, Alb., Geschichte des Pietismus. 1. Bd. Der

Pietismus in der reformirten Kirche. Bonn 1880,
Marcus. (VIII, 600 S. gr. 8.) M. 9. 50.

Dafs der Pietismus noch feinen Gefchichtfchreiber
erwartet hat, ift bekannt, und ift auch durch die Arbeit
H. Schmid's vom Jahre 1863 fchon deshalb nicht anders
geworden, weil diefer Gelehrte fich den Gegen-
ftand doch nur in gewiffen engeren Grenzen vorgefetzt
hat. Er hat fich damit der älteren Auffaffung ange-
fchloffen, welche den Namen bei uns auf die Erfchein-
ungen in der lutherifchen Kirche von Spener an be-
fchränkte. Für die Vorgefchichte auf deutfehem Boden
hat wohl Tholuck am meiften gethan. Aber er hat
die Aufgabe weder ftrenge beftimmt, noch zu Ende geführt
. Dann ift der Pietismus der reformirten Kirche
zur Bearbeitung gekommen in einer Reihe lebensvoller
forgfältig gearbeiteter Bilder, aber doch mehr in erbaulicher
als hiftorifcher Richtung durch Max Göbel's Ge-
fchichte des chriftl. Lebens in der rheinifch-weftphälifchen
evangelifchen Kirche. Einen unmittelbaren Vorgänger hat
Ritfehl an Heinrich Heppe's Gefchichte des Pietismus
und der Myftik in der reformirten Kirche namentlich
der Niederlande, 1879, und diefe Arbeit wird auch fernerhin
ihren Werth haben fchon durch ihr weites Ausgreifen
auf verwandte Erfcheinungen allerlei Art, womit freilich
auch der Mangel an klarer Begrenzung zufammenhängt,
aber es find doch dem Liebhaber dadurch Fingerzeige
gegeben.

Wenn ich nun gleich bezeichnen foll, womit Ritfchl's
Arbeit nach alledem nicht nur erwünfeht überhaupt, fondern
eben wefentlich neu und Epoche machend eintritt, fo kann
das allerdings nach feiner Art Jedermann zum voraus ver-
muthen. Er hat den Pietismus für die Dogmengefchichte
gewonnen, und diefer Wiffenfchaft damit ein neues höchft
bedeutfames Gebiet erworben. Untrennbar hievon ift,
dafs diefe Gefchichte auf allen Punkten eine Kritik der
Sache geworden ift. Wir haben doch lange genug jetzt
das allgemeine und etwas im Nebel verfchwimmende
Wort gehört, dafs die evangelifche Kirche dem Leben
zugeführt, dafs man von todter Lehre zu lebendigem
Glauben und feiner Praxis gekommen fei. Und ebenfo
wenig kann das kurze Abfprechen mit dem vernichtenden
Schlagwort des Subjectivismus genügen, der untergrabend
in die Kirche eingedrungen fei. In beiden
Fällen herrfcht die unklare Vorftellung von einer Richtung
, und zwar einer fehr weit verzweigten und folgenreichen
, die ohne beftimmten Glaubensinhalt eben nur
praktifche oder formale Ziele verfolgen foll, und doch
hat es fich dabei fo gewifs um eine Lehre gehandelt,