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Ausgabe:

1880

Spalte:

263-268

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Ernst

Titel/Untertitel:

Zur socialen Frage und inneren Mission 1880

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2Ö3

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. tl.

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vierunterricht beginnen?, die Befchreibung eines Spi-
netts vom Jahr 1580, eine Anleitung zur Entzifferung
der Neumen und kleinere Mittheilungen. Da die Aus-
ftattung gut und der Preis mäfsig ift (jährlich 4 M.), fo
dürfen wir die Zeitfchrift allen mufikalifchen Familien
beftens empfehlen.

Hamm (Weftf.). Lic. Sachfse.

Zur socialen Frage und inneren Mission.

Noch immer harrt die fociale Frage ihrer Löfung.
Die Ausnahmegefetze des Staates hindern die offene
Agitation und mildern die Ausbrüche der focialen Verbitterung
, aber das Feuer frifst in der Tiefe weiter und
ein politifcher Sturmwind kann jederzeit den focialen
Brand entfachen. Den Nährboden diefes unterirdifchen
Feuers bildet die moralifche Verwilderung grofser Volks-
maffen, welche feit Jahren in dem erfchreckenden Wachsthum
des Verbrechens zu Tage tritt. Der erfte Schritt
zur Befferung folcher Zuftände befteht in der Erkennt-
nifs des Schadens. Möchte daher der Wächterruf fachkundiger
Darftellung, wie er in der bekannten Schrift
des Paftor Stursberg in Düffeldorf enthalten ift, nicht
ungehört verhallen. Vgl. Stursberg, Die Zunahme
der Vergehen und Verbrechen und ihre Ur-
fachen. Düffeldorf, Selbftverlag der Rheinifch-Weft-
phälifchen Gefängnifs-Gefellfchaft. M. —. 50. Diefer Darftellung
, welche auf forgfältige Ermittelungen der ober-
ften Juftizbehörden und des preufsifchen ftatiftifchen
Bureau gegründet ift, folgt eine Erörterung der Gründe
für die erfchreckenden Erfcheinungen, welche nicht
weniger beachtenswerth ift. Als der Hauptgrund des
fittlichen Verderbens wird immer wieder und mit vollem
Recht die Abnahme der Religiofität im Volk bezeichnet.
Die Spöttereien und Angriffe der jüdifchen Tagespreffe
wider den Chriftenglauben und die Verbreitung der angeblich
fichern Refultate einer bibelfeindlichen Natur-
wiffenfchaft in Zeitfchriften und Unterhaltungsblättern
nagen täglich an dem Glaubensfchatze unfres Volkes.
Wo aber der Glaube an die göttliche Vorfehung und die
Hoffnung auf ein feiiges Jenfeits dem Menfchen genommen
ift, da verlangt er mit rückfichtslofer Gewalt den
materiellen Genufs des Diesfeits. Der Unglaube führt in
den Volksmaffen unaufhaltbar zu Barbarei und Revolution
. Diefe Gedanken vertreten im Kampfe gegen die
widerchriftlicheLiteratur unter anderen die ,Flugblätter
für Stadt und Land', Heilbronn 1878, Henninger
(äM.—.20), Heft4: W.Schöpff, Wer verdummt das
Volk? Eine Warnung vor den Propheten des Unglaubens
(24 S. 8.). Heft 5: C. W. Wendt, Die Irrlehren
des Darwinismus widerlegt aus der Natur (25 S. 8.).
Ferner: Eraw, Blätter und Blüthen von der Gartenlaube
' gepflückt und mit der Lupe unterfucht.
Breslau 1878, Dülfer. (119 S. 8. M. 1. —).

Den Verfuch einer Auseinanderfetzung des Chriften-
thums mit den ausgefprochenen Zielen des Socialismus
finden wir bei R. Todt, Der radicale deutfehe Socialismus
und die chriftliche Gefellfchaft. Verfuch
einer Darftellung des focialen Gehaltes des Chriften-
thums und der focialen Aufgaben der chriftlichen Gefellfchaft
auf Grund einer Unterfuchung des Neuen Tefta-
mentes. 2. Aufl. Wittenberg 1878, Herrofe (XVI, 514 S.
gr. 8. M. 6. —). Der Verfaffer nennt feine Arbeit felbft
einen Verfuch, und ein Verfuch kann mifslingen. Wenn
hier das Letztere der Fall ift, wie wir glauben, fo ift
doch anzuerkennen, dafs der Verfuch gemacht worden
ift, in der Hoffnung, dafs diefer Arbeit gelungenere Verflache
folgen. Doch ftimmt mit dem befcheidenen Namen
eines Verfuchs nicht der allzuflchere und felbftbewufstc
Ton, der durch das Buch hindurchgeht und weder im
rechten Verhältnifs zu den aufgewandten Mitteln, noch
zu den erreichten Refultaten fleht. Der wiffenfehaftliche
Werth des Buches ift fchon von verfchiedenen Seiten
beanftandet worden. Die hiftorifclun, ethifcheu und exe-

getifchen Grundlagen der Arbeit des Verfaffers find als

i ungenügend erkannt worden. Uns fcheint auch die Auf-
faffung des Verfaffers von Staat und Kirche nicht die

| gefunde evangelifche und was er von der inneren Miffion
(S. 501 f.) zu fagen weifs, ift in diefem Zufammenhange
mehr compromittirend für ihn, als erfchöpfend für die
Sache. Wenn wir auch hier jenen kritiklofen Anprei-

: fungen der Erfolge des katholifchen Clerus auf focialem
Gebiete begegnen und den belgifchen eure in naivfter
Weife als Vorbild in's Treffen geführt fehen (S. 504), fo
müffen wir, bei aller Bereitwilligkeit, von dem Effelder
katholifchen Brüder zu lernen, doch das hier doppelt

j bedauern, da von dem Verfaffer als evangelifchem Paftor
eine beffere Erkenntnifs des Wefens des evangelifchen
Pfarramtes und eine geringere Eingenommenheit für
äufsere, fo oft nur fcheinbare Erfolge zu erwarten wäre.
Glücklicher weife fehlt es nicht an Kundgebungen,

j dafs innerhalb der evangelifchen Kirche die Aufgabe des
evangelifchen Geiftlichen bei der focialen Frage in ge-

; funder und nüchterner Weife aufgefafst wird. Zu folchen
Kundgebungen gehört ein Vortrag von Dr. Kögel, Die
Aufgabe des evangelifchen Geiftlichen an der
focialen Frage. Bremen 1878, Müller (32 S. 8. M.—.60).

J und die Thefen über dasfelbe Thema, welche bei
der Jahresverfammlung des Evangelifchen Vereins in
Berlin am 3. April 1878 von Prediger Fr. Oldenberg
aufgeftellt worden find und in den Fliegenden Blättern
des rauhen Haufes, Jahrgang 1878, Seite 144 ff. verzeichnet
ftehen. Diefe letzteren Aufftellungen zeigen
den rechten, evangelifchen Weg und verdienen die volle
Beherzigung und treue Nachfolge aller Geiftlichen unfrer
Kirche. Wie bei eingehender individualifirender Seel-
forge auch das fpröde, ungeiftliche Naturell mancher
Volksftämme zu überwinden und der Kirche näher zu
bringen ift, zeigt E. Baumann, Der Berliner Volks-
charakter in der Seelforge. Berlin 1880, Schleier-

! macher (134 S. 8. M. 2. —), wenn uns auch die liebevolle
Apologie des Berliner Wefens oft zu weit geht und die

I erzählten Praktiken nicht immer nachahmenswerth er-

s fcheinen.

Neben den Geiftlichen find es vorzüglich die Frauen,
welche für die Löfung der focialen Fragen in Anfpruch
genommen werden. Und nicht mit Unrecht. Die Er-
! Ziehung der Töchter des Volkes und die Heranbildung
treuer Mütter und Hausfrauen gehört zu den wichtigften
Aufgaben der Zeit. Die Löfung der Frauenfrage ift ein
j Hauptbeitrag zur Löfung der ganzen focialen Frage. In
diefem Sinne hat fchon manche edle, deutfehe Frau die
i Angehörigen ihres Gefchlechts zur Mitarbeit aufgerufen.

,Zur Löfung der focialen Frage durch die Frau.'
I Von einer deutfehen Frau. Berlin 1878, Puttkammer &
Mühlbrecht (III, 112 S. gr. 8. M. 1.60). So betitelt (ich eine
I Schrift, in welcher die Noth in der Frauenwelt in's Auge
j gefafst wird. Die Verfafferin fieht die Urfachen diefer
j Noth in den ungenügenden Erziehungsfyftemen für's weibliche
Gefchlecht und in der Mifsachtung desfelben durch
j die Männer, wie in einengendem Zwang durch Gefetz
und Sitte. Zur Abhilfe diefer Noth wird nicht etwa einer
falfchen Emancipation das Wort geredet, fondern die
Verbefferung des Mädchen-Unterrichtswefens, Mafsnah-
j men des Staats zum Schutz der Familie und Sittlichkeit,
| Fürforge für die arbeitenden Claffen und unerfchütter-
| liches Fefthalten am Chriftenthum empfohlen. Weiter
' geht die Verfafferin eines gröfseren Buches: Adelheid
(Gräfin Poninska, Annunciata, die Lilie des
Himalaja und ihre Miffion im Deutfehen Reiche. 2 Bde.
Bremen 1878, Müller (VII, 400 u. 227 S. 8. M. 8. -). In
' dichterifcher Einkleidung des Befuchs einer georgifchen
| Prinzeffin in Deutfchland, fpricht fich die durch ihre Be-
. ftrebungen für Liebeswerke und mehrere veröffentlichte
Schriften bekannte edleDame über die Bedingungen eines
gefunden Volkslebens in eingehender Weile aus. Die
Schilderungen und Wünfche der Verfafferin werden, zu-