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Ausgabe:

1880 Nr. 10

Spalte:

237-239

Autor/Hrsg.:

Brückner, A.

Titel/Untertitel:

Iwan Possoschkow, Ideen und Zustände in Rußland zur Zeit Peters des Großen 1880

Rezensent:

Bonwetsch, Gottlieb Nathanael

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 10.

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der beiden Linien des fächiifchen Fürftenhaufes, dies
alles tritt Einem in anfchaulicher Weife entgegen. Wird
auch das Bild, das man feither fchon von diefen Ver-
hältnifsen hatte, nicht wefentlich modificirt, fo wird es
doch durch eine Menge inftructiver Einzelzüge bereichert
und belebt. Ganz klar tritt Einem beim Einblick in die
Gel'ammtlage der Dinge entgegen, wie der Uebergang
des Kirchenregiments in die Hände des Landesherrn,
trotz der anfangs anders gerichteten Tendenz Luther's,
eine gefchichtliche Nothwendigkeit, ja das einzig mögliche
war. Es war ein Umftand von höchfter Bedeutung,
dafs das Volksmaterial, aus dem fich die neue Kirche
aufbauen mufste. dem weitaus gröfsten Theile nach aus
Bauern beftand. — Nahe liegend und nicht ohne In-
tereffe find die Parallelen mit neueren und neueften Zu-
ftänden, welche fich nicht feiten darbieten. Die Unkirch-
lichkeit der Menge, der Theologenmangel, die dürftige
äufsere Lage der Geiftlichen, die Schwierigkeit die Mittel
zur nothdürftigen Aufbefferung und zum Erfatz wegfallender
Accidentien zu finden, die Unluft der Gemeinden
zu geben, nachdem das Motiv des ,So bald das
Geld im Kaften klingt' weggefallen war, und die Geneigtheit
Alles auf den ,gemeinen Karten' zu fchieben,
dies und dergleichen find Nöthe, mit welchen die Kirche
der Reformation fchon in ihren erften Anfängen zu
kämpfen hatte — fie find damals nicht unüberwindlich
gewefen.

Nach dem Haupttitel foll das vorliegende Buch den
Anfang eines umfänglich gedachten Gefammtwerkes
bilden, für deffen Vollendung dem verdienten Verf. Zeit
und Ausdauer nicht mangeln möge. Vorarbeiten find
wenige vorhanden; ob das Actenmaterial fich überall
in der verhältnifsmäfsig grofsen, wenn auch nicht lücken-
lofen Vollrtändigkeit erhalten haben mag, wie das vom
Verf. benutzte fächfifche? In Heffen kaum. Für Naffau
hat übrigens etwas Aehnliches wie das hier Geleiftete,
nur nicht mit Befchränkung auf die Vifitationen, Nebe
in einer Reihe von Programmen des Seminars zu Herborn
f,Zur Gefchichte der evang. Kirche in Naffau'
1863—1867) geboten.

Friedberg. K. Koehler.

Brückner. A., Iwan Possoschkow, Ideen und Zurtände
in Rufsland zur Zeit Peters des Grofsen. Leipzig
1878, Duncker & Humblot. (X, 353 S. gr. 8.) M. 8. —

Das hier in einheitlicher Zufammenfaffung Gebotene
war bereits theilweife früher in ruffifcher Sprache er-
fchienen und hatte dem Verfaffer 1877 den Uwarow-
preis von der Petersburger Akademie eingetragen. Ift
fomit der Werth diefes Werkes als wiffenfchaftliche
Leiftung feftgeftellt, fo kann die Aufgabe diefer Anzeige [
mehr nur die fein, auf feine Bedeutung für theologifche
Lefer hinzuweifen. Sie erhellt daraus, dafs es einen
Einblick infonderheit auch in die kirchlichen Ideen und I
Zurtände zur Zeit Peter's d. Gr. gewährt. Denn Iwan
Poffofchkow, Bauer und Branntweinbrenner, hat nicht
blofs die Fragen der Volkswirthfchaft, der Rechtspflege
und des Heerwefens erörtert, fondern auch in mehreren
Schriften feine Anfchauungen über Religion und Sittlichkeit
niedergelegt, die bedeutfam find, weil fie die in
ganzen Claffen des ruffifchen Volkes damals herrfchen-
den Ideen repräfentiren und daher werthvolles Material
zur Beurtheilung der orthodoxen Kirche Rufslands jener
Zeit bieten.

Poffofchkow, ein eifriger Anhänger des Zaren und
feiner Reformen, ift zugleich kirchlich durchaus confervativ.
Er hält im Wefentlichen noch inne den Standpunkt des
,Domoftroi', eines Hausbuchs mit Regeln für das geirt-
liche und weltliche Leben, das in den geiftlichen Partien
dem 15. Jahrhundert angehört. Die religiöfe Anleitung
des Domoftroi befteht aber in einer Anweifung
zum rechten Benehmen in der Kirche, beim Gebet u. f.

w., alfo zum Einhalten aller kirchlich-ceremoniellen Vor-
( fchriften. Einen ähnlichen Charakter trägt auch das
Chriftenthum Poff. Die Religiofität beweift fich in erfter
Stelle durch Verehrung gegen die Geiftlichkeit. Denn
diefe hat die Gabe des Hl. Geiftes und ohne ihre Vermittlung
ift daher kein Heil möglich. (Uebrigens ift
Poff. fehr auf Hebung des fittlichen und intellectuellen
Zuftandes der Geiftlichkeit bedacht.) Ferner werden von
Poff. genaue Vorfchriften ertheilt über das Benehmen
bei Gottesdienften, die Art und Zahl der Kreuzesbezeichnungen
, der Verbeugungen bei Gebeten, das Stiften von
Kerzen, kurz die .technifche Seite der Religion'. Faften
und den Zehnten und Almofen Geben (das letztere ohne
Rückficht auf die Bedürftigkeit des Empfängers) find neben
den genannten Acten die eigentlich chriftl. Handlungen.
Sie erlangen den Lohn ewigen Lebens, laffen vermeiden
die ewige Strafe (S. 94). Hinter den äufserlichen Satzungen
tritt die Gefinnung zurück. ,Unbedeutend, be-
fchränkt, einfeitig find die meiften der allgemeinen Sittenlehren
, die Poff. einprägt' (S. 136). — Aus diefen
religiöfen und fittlichen Ideen erklärt fich feine Abneigung
gegen den Proteftantismus, dem befonders die Ab-
I fchaffung des Faftens und das in Abrede Stellen der
! Bedeutung der guten Werke zum Vorwurf gemacht
I wird, wie die Art des Gegenfatzes zum Raskol. Diefem
letztern, d. h. den Schismatikern, welche fich wegen der
Verbefferung der liturgifchen Bücher um die Mitte des
17. Jahrh. von der Grofskirche getrennt hatten, gehörte
Poff. urfprünglich felbft an, wurde dann von dem Unrecht
des Schismas überzeugt und hat dasfelbe in einem
befonderen Werk, ,Spiegel' genannt, bekämpft und
wahrfcheinlich rührt auch von ihm her ein Vorfchag zur
Unterdrückung des Roskol durch ein raffinirt erdachtes
Syftem polizeilicher Mafsregeln.

Bei dem Hiftoriker werden wir den theologifchen
Nachweis nicht erwarten dürfen für die principielle Wurzel
der bei Poff. zu Tage tretenden Auffaflung des
Chriftenthums. Es wird diefelbe aber zu fuchen fein
in der Beftimmung des Heils in der griechifchen Kirche
zumal jener Zeit als eines rein zukünftigen, abgefehen
vom Cultus, wo es durch Vermittlung der Hierarchie
den Rechtgläubigen zuftrömt in den Riten, in denen
fich das Myfterium der Menfchwerdung Gottes fortfetzt.
Die fittliche Bethätigung tritt namentlich in Bezug auf
die pofitiven Aufgaben zurück, weil fie nur als Bedingung
erfcheint, des Lohnes des Reiches Gottes theilhaftig
zu werden. — Finden wir fchon bei Petrus Mogila einen
gewiffen Fortfehritt diefer Auffaflung gegenüber, fo erweift
fich namentlich in der Zeit Poffofchkow's Ein
Man n wefentlich über diefen religiöfen Standpunkt hin-
ausgefchritten. Es ift dies Feofän Procopöwitfch, die
rechte Hand Peter's d. Gr. in allen kirchlichen Angelegenheiten
. Feofän ficht unter evangelifchen Einflüffen,
wie fein theol. Syftem überall zeigt (vgl. über diefes die
Artikel von Tfcherwjakowski in ,Chriftliche Leetüre'
1876—78). Mit Recht ftellt daher Br. den Feofän als
Vertreter höherer Religiofität Poff. gegenüber. Dafs dagegen
.Feofän und Peter in kirchl, geiftl. Fragen durchaus
auf gemeinfamem Boden ftanden', dürfte — wenn
einem fo gründlichen Kenner Peters gegenüber von
Seiten eines Theologen ein Widerfpruch erlaubt ift —
wenigftens für die beide bei ihrem übereinfti mmenden
kirchenpolitifchen Verhalten leitenden Grundmotive fehr
fraglich erfcheinen. Auf das Richtige in diefer Sache
werden wir meines Erachtens durch den Verfaffer felbft
hingeführt, wenn er S. 115 bemerkt, dafs im Gegenfatz
zu der von theologifch-dogmatifchen Anfchauungen ausgehenden
Intoleranz, wie fie Poff. eignete, Peter den
weltlichen Standpunkt der Toleranz in fpeeififeh con-
feffionellen Fragen vertrat und nur eine unbedingte Unterordnung
unter die weltliche Macht verlangte. Die
Toleranz Feofän's aber fcheint gerade auf feinen theol.
dogmat. Anfchauungen zu beruhen.