Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1880 Nr. 9

Spalte:

214-215

Autor/Hrsg.:

Fromholz, J.

Titel/Untertitel:

Sammlung von Predigten zum Gebrauch an Bord 1880

Rezensent:

Wächtler, August

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

213

Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 9

214

Leibnitz hielt für Erkenntnifs die durch immanentes
Denken gewonnene von überfinnlichen Verftandeswefen;
die Erkenntnifs der finnlichen Erfahrungswelt war ihm nur
ein verworrenes Bild der Wahrheit. Kant hatte dagegen
Hume Recht gegeben, wenn derfelbe nicht begreifen
konnte, wie aus Analyfe unferer Begriffe Erkenntnifs
von uns unabhängiger Gegenftände entftehen folle, fah
aber, dafs man dem Skepticismus verfalle, dafs Regeln
der Erwartung von Coexiftenz und Succeffion in der
linnlichen Vorftellungs- oder Erfahrungswelt unmöglich
feien, wenn nicht eine apriorifche Gefetzmäfsigkeit diefer
Welt ftatuirt und erklärt werde. Nun hat die Vor-
ftellungswelt, in der fich alle empirifche Wiffenfchaft
bewegt, 2 Grenzen, die Summe der ohne unfer Zuthun
in uns vorhandenen Empfindungen und die Einheit
fetzende Thätigkeit des reinen Bewufstfeins. Diefe
Empfindungen müffen nun ftets eingereiht werden in die
Verhältnifsvorftellungen von Raum und Zeit, die ihrer
Natur nach fich lediglich auf finnliche Empfindungen |
beziehen und darum keine Gültigkeit jenfeits der Sinnen- J
weit haben, auf denen aber andererfeits die Mathematik
ruht, die demgemäfs auf die Sinnenwelt Anwendung erleidet
, übjective Gültigkeit können aber Vorftellungs-
verknüpfungen erft haben, wenn fie nicht nur thatfäch-
lich in einem individuellen Bewufstfein zufammen
find, fondern als zufammengehörig begriffen werden, da-
durch dafs fie gemäfs den Bedingungen der Bewufst-
feinseinheit überhaupt vereinigt werden. Indem nun
das Bewufstfein als Form der Verknüpfung auf das in
den finnlichen Verhältnifsvorftellungen liegende reine
-Mannigfaltige bezogen wird, entfpringen die nothwen-
digen Formen der Einheitsfetzung des Sinnlichen, die 1
fchematifirten Kategorien; aus ihnen entwickelt fich im
Syftem der Grundfätze die apriorifche Gefetzmäfsigkeit
der Erfahrungswelt. Damit ift der Skepticismus überwunden
, zugleich aber die Erfahrungserkenntnifs als
allgemeingültige, in fich klare und deutliche, aber von
einer reinen Verftandeserkenntnifs fpecififch verfchiedenc
gegen Leibnitz in Schutz genommen. Das ift kein un-
bewufster Skepticismus, fondern bewufster Gegenfatz
dazu, kein unbewufster, fondern bewufster Rationalismus
mit der näheren Beftimmung, dafs er Erkenntnifs
von den nothwendigen Formen der Sinnenwelt gewährt.
Ebenfowenig ift es unbewufster und prädisponirter ,meta-
phyfifcher Dualismus', fondern durchaus confequente
Folgerung gegenüber Leibnitz, dafs eine unfinnliche j
Welt nicht durch Begriffe erkannt werden kann, die ihrer
Art nach Einheitsformen für Sinnliches find. Gegen die
metaphyfifche Frage, ob ,Dinge an fich' exiftiren aufser-
halb der Erfahrungswelt, ift der rein erkenntnifstheo-
retifche transfc. Idealismus völlig gleichgültig. Das
drückt der problematifche Begriff des Noumenon aus.
Nun liegt die Verwechslung nahe mit dem metaphyfi-
fchen Spiritualismus von Berkeley, der nur die vermeintlich
in der innern Erfahrung gegebene Geifterwelt als
exiftirend anfleht. Kant perfönlich — nicht der Er-
kenntnifstheoritiker, den die Frage gar nichts angeht —
hat aber nie daran gezweifelt, dafi? es von uns unabhängige
Dinge giebt: er fchützt fich daher mit Recht gegen die
Verwechslung mit Berkeley, mit richtigen Gründen, indem
er zeigt, dafs die innere Erfahrung um nichts ge-
wiffer fei als die äufsere, vielmehr die letztere voraus- j
fetze, mit unrichtigen, indem diefe .Widerlegung des
Idealismus' in der II. Auflage fophiftifch die Vorftellungen,
die räumlich aufser mir find, zu logifch von mir unter-
fchiedenen Dingen ftempelt, mit unrichtigen Gründen
ferner, indem er fich darauf fteift, dafs das Wort Er-
fcheinung fchon auf ein Ding an fich hinweife, welches darin
erfcheint, d. h. indem er einen erkenntnifstheoretifchen
Begriff mit einem metaphyfifchen vertaufcht. — Aufser-
dem drückt K. im Anfang die eine Grenze unferes Bewufstfeins
, das Gegebenfein der finnlichen Empfindungen,
populär als Afficirtfein der Sinnlichkeit durch die Gegenftände
aus, eine Wendung, die, verkehrt wie fie ift, doch
fein erkenntnifstheoretifches Syftem unberührt läfst, und
die er in der transfc. Dialektik mit einer correcteren vertaufcht
. Wir finden nämlich, fagt diefe, in uns das Bedürfnifs
vor, in einem Unbedingten Ruhe und Befriedigung zu fuchen;
diefer Hang nach einer finnvollen Totalität findet in der
bisher ermöglichten Erfahrungserkenntnifs keine Befrie-
di gung: die Sinnenwelt ift eine endlofe Reihe von Relationen
; die letzten Bedingungen aller Nothwendigkeit
in der Erfahrung find, an jenem Bedürfnifs gemeffen,
eine zufällige Thatfächlichkeit; fo treibt diefer Hang
dazu, über die Sinnenwelt hinauszugehen zu einem
Ueberfinnlichen, welches der Sinnenwelt heterogen ift und
daher auch nicht in den von ihrer finnlichen Schemati-
firung befreiten Kategorien erfafst werden kann: aus
dem Gebiet des durch Empfindung zeiterfüllenden Däferns
treten wir in das Gebiet zeitlofer Werthfchätzung.
Der vernünftige Geift, der fich dazu verpflichtet weifs,
ein unbedingt geltendes Sittengefetz in der Sinnenwelt
zu realifiren , weifs fich damit als Endzweck oder frei,
als ,Ding an fich', als zu einer höheren, überfinnlichen
Welt gehörig, mufs weiterhin die Sinnenwelt als
zweckmäfsiges Mittel zur Realifirung des intelligiblen
Sittengefetzes denken d. h. als Erfcheinung eines Ueberfinnlichen
; er kann dies nur,indem er für die gültige intelli-
gible und für die dafeiende finnliche Welt das Einheitsband
fucht in dem moralifchen Weltgrunde, Gott, ohne
dafs er darum im Stande wäre, die intelligiblen Gröfsen
mit den Formen finnlicher Einheitsfetzung zu begreifen.
Auf Grund der. Ahnung von der Löfung des befchriebe-
nen Contraftes ftrebt der vernünftige Geift, auch die
finnliche Erfahrungserkenntnifs zur Totalität eines in
fich gefchloffenen Ganzen abzurunden; da das mit den
Mitteln der Erfahrungserkenntnifs nicht angeht, fo dient
die Idee des Unbedingten ihm nur als Regulativ, nach
einer fyftematifchen Einheit der Erfahrung zu ftreben
und vorauszufetzen, dafs deren thatfächliche Befchaffen-
heit für unfern Verftand zweckmäfsig angelegt ift. Diefer
kann nur vorwärts kommen, wenn fein Material das
Gepräge der Gleichförmigkeit trägt und daher in ein
Syftem allgemeiner, vielfach gegliederter Gefetze eingeordnet
werden kann. Die Idee einer .formalen Zweck-
mäfsigkeit der Natur' dient ihm als heuriftifche Maxime
der empirifchen Forfchung. Er verfährt in der letztern
fo, ,als ob' die Sinnenwelt von einer höchften Intelligenz
gefchaffen wäre. Das ift im Grofsen und Ganzen
Kant's Lehre vom Ding an fich; fie ift von Widerfprü-
chen nicht frei, aber fie entfpringt nicht aus unbewufster
Verwerthung des rationaliftifchen Erkenntnifsprincipes
zu pofitiven metaphyfifchen Beftimmungen.

Magdeburg. J. Gottfchick.

Fromholz, Marinepfr. J., Sammlung von Predigten zum
Gebrauch an Bord. Berlin 1879, Mittler & Sohn.
(VI, 334 S. gr. 8.) M. 5. —

Das Buch will eine Poftille für die Marine fein; es
enthält Predigten für alle Sonn- und Fefttage, welche
das Kirchenjahr bringen kann, auch für den Bufstag,
für des Kaifers Geburtstag und noch zwei für fpecielle
Gottesdienfte einer Schiffsgemeinde, die eine beim Antritt
einer längern Reife, die andere bei der Rückkehr
von einer längeren Reife. Die Texte find überall die
evangelifchen Perikopen, mit Ausnahme der Paffionszeit,
in welcher die Leidensgefchichte nach Matthaeus in
fieben Abfchnitten den Predigten zu Grunde gelegt ift.
Die Predigten find faft durchgängig in Form der Homilie
angelegt, denn wenn auch in jeder eine Art von Thema
aufgeftellt wird, fo wird doch die Dispofition fchon nicht
nur materiell nach den Theilen des Textes gefafist,
fondern oft auch ohne Rückficht auf das Thema geftal-
tet; der Herausgeber einer Predigtfammlung, zumal zu
ftändigem Gebrauch, follte auch in folchen Dingen eine