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Ausgabe:

1879

Spalte:

109-112

Autor/Hrsg.:

Harnack, Th.

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. 2. Bd 1879

Rezensent:

Löber, Richard

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i(X)

Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 5. no

ein Zeitbewufstfein vorausfetzen, das den Thieren zuzu-
fchreiben nichts berechtige. Während ferner alle f. g.
Verftändigkeit der Thiere fich durchaus aus dem blofsen
Mechanismus der Vorftellungen erkläre, werde derfelbe
in dem Verftande des Menfchen überfchritten. Um vom
Inhalt der Erfahrungswelt adäquate Begriffe zu bilden,
diefelben zu richtigen Urtheilen zu verknüpfen und dem-
gemäfs zu handeln, feien fpecififch neue Bewufstfeins-
elemente nöthig, die Vorftellung des Seins oder der
Wirklichkeit und ihres Gegenfatzes, fo wie eine Aufeinanderbeziehung
des Inhalts der Vorftellungen, abgefehen
von ihrer Stelle in den mechanifch verknüpften Reihen,
nach formalgearteten Vorftellungen wie des Ganzen und
des Theils, des Grofsen und Kleinen, Vielen und Einen,
der Gleichheit, Aehnlichkeit, Verfchiedenheit, der Herkunft
, des Wirkens und Leidens etc., endlich das Be-
wufstfein der Zufammengehörigkeit durch den Mechanismus
zufammengebrachter Vorftellungen. Sei der Gedanke
an ein Entliehen diefer piychifchen Elemente durch
graduelle Steigerung fchon durch ihre fpecififche Qualität
ausgefchloffen, fo fei diefe Hypothefe vollends unbrauchbar
, weil fie mit dem unwiffenfchaftlichen Begriff
einer Geifteskraft operire. Wirkt demnach in dem Menfchen
ein Neues, wozu dem Thiere die Bedingungen

zugleich eine kritifche Analyfe des Begriffes"" der Predigt,
die ebenfo läuternd als anregend wirkt.

Denn die Predigt mufs geläutert werden von fremdartigen
Beftandtheilen, welche die Wirkungskraft des
Evangeliums hindern, und auch diejenigen Prediger,
welche mit grofser Emphafe verfichern, dafs die Verfaffer
der biblifchen Bücher vom heil. Geift getrieben worden,
machen nicht immer den Eindruck, dafs fie bei ihren
rhetorifchen Uebungen vom heil. Geift fich leiten laffen.
Viele Entartungen der Predigt erklären fich dem Verf.
zufolge daraus, dafs die Prediger, ftatt fich von dem
göttl. Wort überwältigen zu laffen, es vielmehr als einen
rhetorifchen Stoff verwenden, um vorgeblich ,arme
Texte' mit einem reichen Kranz gemachter Blumen zu
umgeben.

Die hier vorliegende Theorie und Gefchichte der
Predigt wirkt aber nicht nur läuternd, fondern regt
auch mächtig dazu an , die Predigt prophetifcher und
priefterlicher zu geftalten. Prophetifch wird die Predigt
fich geftalten, wenn der Prediger es verlieht, die
im Ueberfchwang geiftlicher Erfahrung ihm zu Theil
gewordenen Infpirationen auf jenen klaren und durchfichtigen
Ausdruck zu bringen, der von dem urfprüng-
lichcn Anhauch der Kraft noch befeelt ift. Propheti-

fehlen, fo erfcheint es doch dem Verf. als wiffenfehaft- | fchen Charakter trägt die Predigt, wenn in ihr das Per

lieh nothwendig und als religiös unbedenklich, eine con-
tinuirliche Fortbildung aller materiellen Geftaltungen anzunehmen
, während in den inneren Zuftänden je beim
Beginn des Organifchen, Animalifchen, Menfchlichen ein
Eintritt eines neuen Elementes, das Grundlage discreter
Entwicklungsreihen werde, zu ftatuiren fei. Die umfich-
tige Abhandlung erfcheint dem Ref. durchaus als der
Beachtung werth.

Magdeburg. J. Gottfchick.

Harnack, Dr. Th., Praktische Theologie. 2. Bd. A. u.

d. T.-. Gefchichte und Theorie der Predigt (Homiletik
). Gefchichte und Theorie der paftoralen Gemeindeleitung
(Seelforge). Erlangen 1878, Deichert.
(X, 543 S. gr. 8.) M. 8. -

Vorliegendes Werk bildet den 2. Band der ,Prakti-
fchen Theologie' , deren erften Band wir bereits in die-
fem Blatt befprochen haben. Auch diefer 2. Band bietet
uns in fyftemati fcher Verarbeitung eine fo reiche Fülle
gefchichtlichen Stoffes und geläuterter Erfahrungsweisheit
, dafs es ein unwürdiges Verfahren wäre, das reichgegliederte
lebensvolle Ganze durch ein trocknes Gerippe
oder durch einzelne ihm entnommene Ausfprüche
zu charakterifiren. Wer dasfelbe ungetheilt auf fich wirken
läfst, wird von Neuem es klar erkennen, dafs eine
aus der gefchichtlichen Entwicklung der Predigt und
Seelforge hervorgehende Theorie nicht grau und nebelhaft
ift, fondern ein klares durchdringendes Licht wirft j Theorie angeftrebt, obgleich der Umgeftaltung der ge

fectum in das Präfens, das gefchichtlichc Leben in per-
fönliches fich umgefetzt und alle Scelenkräfte des Predigers
dermafsen durchdrungen hat, dafs er nicht aus
der Erinnerung früherer Gnadenheimfuchungen, fondern
aus der gegenwärtigen Lebensgemeinfchaft mit Gott heraus
redet. Diefem Zuftand aber entfpricht eine gehobene,
alle Saiten des Menfchenherzens mächtig ergreifende
Sprache, wie denn die Propheten niemals trocken docirt,
fondern in der erhebenden Sprache heiliger Poefie geredet
haben. Und auch darin müffen die Propheten
als Vorbilder der evangelifchen Predigt gelten, dafs fie,
ftatt in Aphorismen fich zu ergehen, die Heilswahrheit
in ihrer organifchen Einheit, mit lebensvoller Aufeinanderbeziehung
ihrer fich wechfelfeitig bedingenden Glieder
und Factoren verkündet haben. Den priefter-
lichen Charakter der Predigt aber will der Verf. fichern,
wenn er darauf dringt, dafs fie nicht nur das an die Gemeinde
gerichtete Wort Gottes, fondern auch die durch
das Wort gewirkte Gemüthsftimmung der Gemeinde zum
Ausdruck bringe, wie die Propheten mitten im Ermahnen
, Drohen und Verheifsen oft in Zufammenfaffung mit
dem Volke priefterlich betend fich an Gott wenden. Mit
Recht beruft fich der Verf. auf Schleiermacher, der es
nachdrücklich fordert, dafs die Predigt als Cultusact, als
Darftellung und Bethätigung des fchon vorhandenen geift-
lichen Lebens zum Zweck feiner Förderung und Erbauung
aufgefafst werde.

Diefe Metamorphofe der gefammten Predigtweife
wird von dem Verf. auf Grund feiner wohlbegründeten

auf die innerhalb jener Gebiete auftretenden, noch un- genwärtigen Predigtweife faft unüberfteigliche Hinder-
gelöften Probleme. Und wenn die Theorie auch zu- j nifse entgegenftehen. Denn die Prediger und Gemeinden
nächft nicht produetives Vermögen wirkt, fo hilft fie find mit dem, was jetzt als Gotteswort dargeboten
doch dazu, von dcmfelben unlautere, fremdartige und , zu werden pflegt, überaus zufrieden. Man glaubt die

Predigt nur für die dem chriftlichen Heil mehr oder
minder Entfremdeten einrichten zu müffen, indem man
entweder diefes Heil ihnen andemonftrirt und fo im

mithin Hörende Elemente zu entfernen und es in ftraffer
Zucht zu halten.

Die vom Verfaffer gegebene Gefchichte der Predigt
läfst uns überblicken die mehr oder minder gelungene günftigften Fall ein von entfprechender Erfahrungsge
Reproduction des gefchriebenen Gotteswortes, fofern das- wifsheit verlaffenes Scheinbekenntnifs erreicht, oder indem
felbe in dem Glauben der Gemeinde Wurzel gefchlagen, i man vom chriftlichen Lebensprincip aus fortwährend
und es ift daher einleuchtend, dafs in der Gefchichte der ; gegen ihr Glauben und Erkennen polemifirt, das fie,
Predigt die allgemeine Gefchichte des chriftlichen Glau- < ohne ein befferes Lebensprincip erfafst zu haben, nicht
bens und Lebens fich reflectirt, obgleich fchöpferifche aufgeben können. Diefe unruhigen Polemiker find in-
Perfönlichkeiten wie Ephraem der Syrer und Luther fofern dem Dante ähnlich, als die Höllenqual ihrer
durch ihre alle Entartungen durchbrechende Reproduc- ; Widerfprüche immer noch intereffanter ift, als ihr Paration
des göttlichen Wortes ein neues Leben und Pre- dies, von dem fie überhaupt nicht viel zu fagen haben,
digen erzeugten. In feiner von unbegrenzter Belefenheit i Und doch ift es gerade der feiige Gottesfriede der Gläu-
zeugenden Gefchichte der Predigt giebt uns der Verf. bigen, durch welchen die Ungläubigen an ihrem Schein-