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Ausgabe:

1879

Spalte:

598-602

Autor/Hrsg.:

Suphan, Bernhard (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Herder’s sämmtliche Werke. 1. - 3. Bd 1879

Rezensent:

Baur, Gustav

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597 Thcologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 25. egg

als ein Werk der Vorfehung, eine lebendige Gottesthat
betrachtet wird. Ich bin mit dem Verfaffer vollftändig
darüber einig, dafs wir nicht innerhalb des Chriftenthums
die Perfon Jefu als nur hiftorifche Thatfache im Gegen-
fatze gegen einen religiöfen Werth derfclben bezeichnen
können; es fcheint mir überhaupt widerfinnig zu fragen,
ob es Chriftenglauben ohne Chriftus geben könne. Aber
der Charakter diefer Offenbarung ift durch die prak-
tifche Begründung der wahren Religion allein doch kaum
klar geftellt. Er liegt wohl nicht darin, dafs eben der
Natur der Religion nach der Anfang rein perfönlich ift,
fondern dafs diefer Anfang nicht aus der gefchichtlichen
Entwicklung zu erklären ift. Mit anderen Worten, die
Bedeutung und der Werth der Offenbarungsthatfache
läfst fich nicht fcftftellen ohne die Thatfache der Sünde
und Gottentfremdung. Auch hiermit freilich würden
wir zu einem gebahnten Weg der Apologetik zurücklenken
.

Die Befprechung des Buches, welches uns fo viel
zu denken giebt, kann ich nicht fchliefsen, ohne noch
zwei Dinge zu berühren, nicht blofs weil fie im befonde-
ren bedenklich find, fondern weil fie mit Principien und
Methode in engem Zufammcnhange flehen. Das eine ift
die Erörterung des Wunders, welche zunächft den Begriff
desfelben auf die religiöfe Bedeutung einer natürlich
vermittelten Thatfache reducirt und deswegen auch
nicht den Glauben an die Wunder Chrifti zur allgemeinen
Eorderung gemacht werden laffen will, weil jene
Bedeutung nicht gemeingiltig nachzuweifen fei, und endlich
das sacrificiitm mUUectks verwirft. Nun wird aber
auf der anderen Seite doch die Möglichkeit der Wunder
darauf begründet, dafs unfere Naturerkenntnifs nicht
abgefchloffen und die Mctaphyfik eine fchlechte Wiffen-
fchaft fei. Daher foll Niemand ein Recht haben, die
Wunder anzugreifen, fondern wir follen abwarten, ob
und bis uns etwa die religiöfe Bedeutung derfelben aufgeht
, und fie uns dadurch gewifs werden. Worin fich
nun dies eigentlich vom sacrificium intcllectus unterfchei-
det, ift mir nicht recht klar geworden. So viel aber
fcheint klar, dafs jene Begründung der Möglichkeit durch
die Nichtvollendung der Naturerkenntnifs jedes fichere
Wiffen auf dem Boden des äufseren Gefchehens überhaupt
auflöft. Soll aber die Annahme diefer Möglichkeit
eines Gefchehens gegen die erkannten Gefetze nur
da ftattfinden, wo eben diefes Gefchehen im Lichte
einer religiöfen Bedeutung erfcheint, fo ift damit doch
nur ein unerträglicher Zwiefpalt der bekannten doppelten
Buchführung erneuert. Das andere betrifft die
Erklärung des Verfaffers, in welcher er fich zu der Annahme
einer perfönlichen Präexiftenz Chrifti bekennt
, ohne jedoch auf die Ableitung derfelben näher

Ich kann nur wiederholen, dafs die ernfte Arbeit, mit
welcher wir es zu thun haben, doch über alles das erhebt
, und ich danke dem Verfaffer für das, was er uns
giebt, auch darum, weil aus jeder Zeile hervorgeht, dafs
es ihm um die Sache zu thun ift. Darin liegt auch die
befte Bürgfchaft eines Erfolges. Und fo inhaltsreich ift
fein Buch auf alle Fälle, dafs mancher fich etwas daraus
zurecht fchnciden kann, dem das ganze zu viel ift.

Tübingen. C. Weizfäcker.

Herder's sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernh. Su-
phan. 1—3. Bd. Berlin 1877 u. 78, Weidmann.
(XLIV, 548; XIV, 386 u. XX, 499 S. gr. 8.)

a M. 4. —

.Keiner unferer Klaffiker bedarf fo unumgänglich
einer hiftorifch-kritifchen Bearbeitung als Herder, keiner
belohnt fie in fo eminentem Mafse, für keinen ift bisher
fo wenig gefchehen'. Mit diefen Worten Julian Schmidt's
beginnt Suphan die Vorrede zu feiner neuen Herder-
ausgabc. Knüpfen wir zunächft an den letzten jener
drei Sätze an, fo mag er der Mehrzahl des .gebildeten
Publicums' überrafchend vorkommen: flehen doch J. G.
von Herder's fämmtliche Werke in den fechzig Bänden
der Cotta'fchen Ausgabe, in drei Gruppen geordnet, fo
.reinlich und zweifelsohne' neben Leffing, Goethe und
Schiller auf der Bücherbank, vielleicht auch neben Klop-
ftock und Wieland, mit welchen fie dann das Vorrecht
theilen, fehr wenig durch Gebrauch abgegriffen zu werden
. Wer aber Herder's Schriften irgendwie zu einem
wiffenfehaftlichen Zwecke zu benutzen hatte, der mufste
in die Klage einftimmen, welche fchon vor dreiundzwanzig
Jahren Loebell in feinen trefflichen Vorlcfungen
über die Entwickelung der neueren deutfehen Poefie aus-
gefprochen hat: ,Von diefer Ausgabe und von mancher
andern unfrer Claffiker mufs man fragen: für wen find
fie eigentlich gemacht? Für den blofsen Liebhaber enthalten
fie viel zu viel; er würde fich in derRegcl mit der
Hälfte des Dargebotenen begnügen: den Litterator, der
doch im Stande fein mufs, folche Autoren ganz kennen
zu lernen, ja jeden forfchenden Lefer, welcher der Entwickelung
einesSchriftftellers nachgehen will, laffen fie un-
verfehens im Stich, und zuweilen gerade in befonders
wichtigen Punkten. — Vielleicht hat keiner unferer grofsen
Autoren von feinen Herausgebern fo viele Willkür erfahren
wie Herder'. Diefe Thatfache ift um fo auffallender, da
ein berühmter Philologe, Heyne, und ein berühmterHifto-
riker, Johannes v. Müller, neben dem Bruder des Letzteren,
dem Theologen Johann Georg Müller, die Haupther-
ausgeber gewefen find. Aber der Hiftoriker hatte vor
einzugehen. Wir können ihm daher auch in diefer j dem objectiv Gegebenen fo wenig Refpect, dafs er beiSache
nicht weiter folgen, aber doch die Bemerkung j fpielsweife die bekannte Sammlung, welche Herder felblt
nicht unterdrücken: wenn auch dies aus dem Sittenge- unter dem Titel .Volkslieder' veröffentlicht hatte, nicht
fetze abgeleitet werden foll, fo erhalten wir die Pcrfpec- blofs unter dem veränderten Titel .Stimmen der Völker',

tive einer Dogmatik, welcher fo viel möglich fein wird,
als einft in den Zeiten des treffllichen Daub. Denn
von welchem Punkte aus folche Conftructioncn beginnen,
ift fchliefslich nicht fo wichtig, als dafs fie überhaupt
"emacht werden. Wo bleibt aber dann die Geltung
des dogmatifchen Bcweifes für das Perfonlcben allein,
wenn wir durch denfelben in diefes Gebiet geführt werden?
oder wo wird dann das Beweifen überhaupt aufhören ?

So find es nun der Bedenken doch etliche geworden,
die fich nicht unterdrücken laffen wollten, und eigentlich

fondern auch mit veränderter Anordnung und vielfach
verändertem Inhalte herausgab, wofür er fich allerdings
auf Andeutungen berufen konnte, die von Herder felbft
ausgegangen waren, die der Herausgeber aber nur fehr
oberflächlich und willkürlich benutzte. Und der Philologe
erlaubte fich mit den Werken eines von ihm felbft
hochverehrten Zeitgenoffen, was er fich bei einem alten
Autor niemals erlaubt haben würde. Er änderte Ausdrücke
ab, .welche der Selige felbft mit andern ver-
taufcht haben würde', und liefs weg, ,was auf erlebte

mehr, als zu der principiellen Sympathie paffen will, mit i gelehrte Streitigkeiten Beziehung hat', und fo haben wir

welcher wir begonnen haben, und welche trotz allem denn die erfte epochemachende Schrift Herder's, die

auch beliehen bleibt. Andere werden fich, wie fchon ge- Fragmente, in der Vulgataausgabe nur in einer verftüm-

fagt, beklagen über den dunklen Styl, der wenigftens j melten und noch dazu aus der erften von Herder felbft

nicht ausfchliefslich Folge des tieferen Denkens ift. Wie- beforgten Ausgabe und aus feiner zweiten Ausgabe der

der andere vielleicht über die mancherlei herben An- ; erften Fragmentenfammlung gemifchten Geftalt wäh-

griffe nach allen Seiten, die bei guter voller Zu verficht : rend feine folgende höchft bedeutfame Schrift, die kri-

auf die eigene Sache wohl auch unterbleiben könnten. | tifchen Wälder, fogaj- um mehr als ein Drittel gekürzt