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Ausgabe:

1879 Nr. 22

Spalte:

526-530

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Eduard von

Titel/Untertitel:

Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik 1879

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 22.

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zuerft in Beziehungen zu dem Prinzen von Oranien, der
fich feiner Vermittlung bei der Werbung um Charlotte
von Bourbon bedient. 1573 ift T. in Genf, 1574 wieder
in Holland und zwar nun als Hausgeiftlicher des Prinzen
von Oranien, dem er von Ort zu Ort folgt. Er hat in
diefer Stellung und bei dem grofsen Vertrauen, welches
der .Schweiger' ihm fchenkte, einen beträchtlichen Ein-
flufs ausgeübt in den mancherlei Streitigkeiten, welche
die niederländifche Kirche in diefen Zeiten bewegten.
Als der Prinz 1584 in Delft ermordet wurde, war T.
gerade nicht in feiner Begleitung. Er war in Antwerpen
zurückgeblieben und macht nun die Schreckenszeit der
Belagerung der Stadt durch den Prinzen von Parma
mit. Wieder ohne Amt wendet er fich nach der Ucber-
gabe der Stadt im Auguft 1585 nach Leiden, dann nach
Emden. Doch wird er fchon im September 1586 nach
Haarlem berufen als Prediger der dortigen franzöfifchen
Gemeinde. Auch von hier aus ift er ftetig für das allgemeine
Intereffe der Kirche thätig und vermöge der
weiten Bekanntfchaft, die er erlangt hat, wieder in den
mannichfaltigften Eragen zur Mitwirkung berufen. 1590
geht er als Prediger nach Amfterdam, wo er fein arbeitsreiches
Leben im J. 1602 befchliefst. T. war ftrenger Cal-
vinift und befonders eifrig für die Erhaltung der Zucht in
der Kirche. Als fein Amfterdamer College Arminius 1591
erftmals der Abweichung von der calvinifchen Prädefti-
nationslehre verdächtig wurde, zeigte T., dafs er auch infofern
echter Calvinift war, als er zwar die Ideen des
Arminius keineswegs unterftützte, aber feinerfeits die
Prädeftinationslehre doch auch nicht als den Herzpunkt
des evangelifchen Syftems behandelte. Der Anabaptismus
war ihm ein befonderer Greuel, dagegen hat er
gegen Lutheraner und Katholiken möglichfle Toleranz
geübt wiffen wollen. In den Streitigkeiten über die Kir-
chenverfaffung ift fein calviniftifcher Standpunkt cha-
rakterifirt durch feine Abneigung gegen die Betheiligung
der ftaatlichen Obrigkeit am Kirchenregiment. T. hat
einige Schriften polemifcher und ascetifcher Natur veröffentlicht
. Die meiften find urfprünglich franzöfifch
gefchrieben, dann aber in's Holländifche überfetzt. Von
der Schrift ,des marques des enfans de Dieu et des con-
solations en leurs afßictions' giebt es, fo viel ich weifs,
auch eine deutfehe Uebcrfetzung, die 1609 zu Amberg
erfchien.

Der zweite Mann, den Sepp behandelt, Overhaag
oder Hyperphragmus, begegnet uns gelegentlich fchon
in Taffin's Leben. T. wird angegangen, fich über diefen
Mann auszufprechen, als derfelbe 1574 ein Predigtamt
in Rotterdam begehrt. O. ift nämlich der Plinneigung
zur Sectirerei verdächtig. Er giebt Anftofs, weil er —
wie es in einem Briefe heifst — nicht ,met den Dienaers
oftc lidmaeten der Renken, maar met dopers, swevendc
geesten, libertinen1 etc. verkehre. Wie O. hier in Rotterdam
um diefer feiner Neigungen willen ein Kirchenamt
nicht erlangt, fo geht es ihm auch noch an anderen
Orten. Ohne eine prononcirte Anfchauung felbft zu
vertreten, ift O. der Anwalt einer abfoluten Toleranz
für alle religiöfe Parteien, welche feine Zeit aufweift,
befonders für die Wiedertäufer. In mehreren Schriften
ift er bemüht, eine folche Toleranz als allein dem Chri-
ftenthum entfprechend nachzuweifen. Geboren in Gent
war O. hier zuerft Prediger, fpäter ift er — nirgends zur
Ruhe kommend — in Emden, Rotterdam, wieder in
Gent, fchliefslich in einigen kleineren Orten Südhollands.
Wie es fcheint, darb er in hohem Alter ca. 1600. Sepp
bringt ihm fehr viel Sympathie entgegen und preift ihn
als theologus pectoralis'. — In Agge van Albada, dem j
der'dritte Auffatz gilt, tritt uns ein begeifterter, deci- I
dirter Anhänger Schwenkfeld's entgegen. A. ift Jurift,
lebt und webt aber in theologifchen Intereffen. Mit
Berufung auf die Arbeiten Anderer, befonders auf M.
Loffen's Auffatz: ,Aggacus Albada und der Kölner
Pacificationscongrefs im Jahre 1579' (Riehl's hift. Tafchenbuch
1876), läfst Sepp mit Abficht die politifche Thä-
tigkeit des Mannes — die bedeutfam nur auf dem genannten
Congrefs ift, hier aber allerdings fehr zu beachten
ift — auf fich beruhen, um aus den Briefen des-
felben feine Theologie und feine Bemühungen um die
Verbreitung der Schwenkfeld'fchen Anfchauungen darzulegen
. Auch wer diefer Theologie keinen Gefchmack
abzugewinnen vermag, wird fich von A.'s edeler Perfön-
lichkeit angezogen fühlen und von Sepp's mifhevoller
Unterfuchung dankbar Kenntnifs nehmen.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Hartmann, Eduard von, Phänomenologie des sittlichen
Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik.
Berlin 1879, C.Duncker. (XXIV, 871 S. Lex.-8.) M. 16.—

Wieder einmal wird in diefem Buch die Klage erhoben
, dafs wir noch keine wiffenfehaftliche Ethik haben.
Eben deshalb, meint Hartmann, gebe es auch noch
keine Gefchichte der Ethik. Den Grund der Erfcheinung
findet er darin, dafs man die Sache noch nie am richtigen
Ende angefafst. Allererft nämlich müffe die voll-
ftändige und forgfältige Durchforfchung des Erfcheinungs-
gebietes erledigt fein. Der fo geftellten Aufgabe unterzieht
er fich nun in dem vorliegenden Buch und ftellt
auf diefer Grundlage eine Socialethik und Individualethik
in Ausficht. — Es handelt fich alfo darum, die verfchie-
denen möglichen Formen des fittlichen Bewufstfeins —
oder Moralprincipien, wie fie der Verfaffer nennt — nach
und auseinander zu entwickeln, endlich aber bis in den
Urgrund der Sittlichkeit vorzudringen, wenn es denn
einen folchen giebt, was fich in der Unterfuchung her-
ausftellen wird. In das Heiligthum des echten fittlichen
Bewufstfeins führt uns der Philofoph durch die Vorhalle
des pfeudomoralifchen Bewufstfeins. Diefes ift:
doppelter Art, entweder Egoismus oder Heteronomic.
Die erftere Art zerfällt in vier Unterarten, die durch
Kreuzung der beiden Einthcilungsgründe pofitiv — negativ
, irdifch — transfeendent gewonnen werden. Das
heteronome Bewufstfein zerfällt wieder in Unterarten je
nach der dem Subject andern Macht, deren Gefetzen es
fich unterwirft. Aber das alles hat nur propädeutifchen
Werth. Wer es mit den verfchiedenen Formen des Egoismus
und der Heteronomie verfucht hat und mit diefen
Verfuchen bis zu Ende gekommen ift, dem geht die
doppelte Erkenntnifs auf, dafs die — peffimiftifch begründete
— Selbftverleugnung die Vorbedingung aller
wahren Sittlichkeit ift, und dafs, wie nur Selbereffen
fett macht, auch nur ein autonomes Moralprincip zu
wahrhaft fittlichem Handeln verhilft. Das alfo ift das
echte fittlichc Bewufstfein, welches nicht mehr egoiftifch
und autonom ift. Es ift autonom d. h. eine innere Sclbft-
gefetzgebung liegt zu Grunde, die zunächft in fubjec-
tiven Moralprincipien zur Erfcheinung kommt. Folglich
handelt es fich zunächft um diefe, und der Philofoph
führt die ganze Reihe folcher Principien an uns vorüber,
die aus der dreifachen Quelle des Gefchmacks, des Gefühls
und der Vernunft hervorgehen. Die Vernunftprin-
eipien find die höchften, und fie gipfeln im Princip des
Zwecks, welches unbewufst fchon in allen fubjectiven
Principien wirkt, andererfeits aber den Angelpunkt zwi-
fchen ihnen und den objectiven Principien bildet, zu
welchen letzteren alfo damit der Ucbergang gemacht ift.
Das Gefammtwohl und die möglichfte Steigerung der
Culturentwicklung ergeben fich da als objective Moralprincipien
oder Ziele der Sittlichkeit. Beide
fchränken fich aber ein, da das Gefammtwohl durch die
Culturentwicklung nicht gefördert fondern gehemmt wird.
Der fo entftehende Conflict führt über beide Principien
in ihrer Einfeitigkeit hinaus zum abfchliefsenden objectiven
Moralprincip der fittlichen Weltordnung, in welchem
beide fo verbunden find, dafs das Gefammtwohl der
Culturentwicklung untergeordnet ift. Damit ift die Phä-