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Ausgabe:

1879

Spalte:

407

Autor/Hrsg.:

Wiese, L.

Titel/Untertitel:

Die Bildung des Willens. 4. Aufl. mit neuer Einleitung 1879

Rezensent:

Thoenes, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 17.

408

Ueberfinnlichen nur durch den Glauben gelangen. Diefer
Glaube aber könne nicht durch Folgerung aus einer
finnlich erkennbaren Thatfache entliehen, fondern muffe
der Mittheilung Anderer entfliefsen. Vermitteln; folcher
Mittheilung gelange der Menfch zur Kenntnifs fowohl
des Ueberfinnlichen in ihm, nämlich feiner Seele, wie
des Ueberfinnlichen aufser ihm, nämlich der Seelen anderer
Menfchen und der aufsermenfchlichen Seele d. h.
.Gottes. Die erfte Mittheilung diefer Art habe natürlich
von Gott ausgehen müffen und fei die erfte Offenbarung
gewefen. Weitere Offenbarungen feien dann nachgefolgt.

In der Abhandlung über den Staat wird ftark betont,
dafs der Staat nur Rechts-, nicht aber Culturftaat fein
dürfe (S. 94). So fei es auch nur ein Nothftand, dafs
derfelbe heute für die Jugenderziehung forge (S. 103).
— Die Ehe unterliege einzig und allein den Gefetzen des
Staats (S. 117). — Körperliche Züchtigung, namentlich
für jugendliche Miffethäter männlichen Gefchlechts ohne
Ehrgefühl, und die Todesftrafe bei vorbedachtem Morde
muffe beibehalten werden. — Ueber die fociale Frage
äufsert er, dafs fie dann werde gelöft werden, wenn das
Chriftenthum Chrifti (nicht dasjenige der Kirche) die
Welt erobere (S. 141). — Von Schutzzöllen will der
Verf. nichts wiffen'(S. 143).

Aus der dritten Abhandlung, welche die Moral be-
fpricht, theilen wir nur noch mit, dafs dem Verf. die
Anficht ,empfindfamer Moraliften, welche jedes Vergehen
als Ausflufs einer Seelenftörung, alfo jede Strafe
grundfätzlich als eine Ungerechtigkeit betrachten', als
theoretifch richtig erfcheint, aber die Theorie führe in
ihrer äufserften Folge nicht nur zur Aufhebung der
Willensfreiheit, fondern gefährde auch den Beftand der
Gefellfchaft (S. 191). Auch der Selbftmord fei wohl
immer Folge einer Seelenftörung (S. 192).

Lennep. Lic. Dr. Thönes.

Wiese, Dr. L., Die Bildung des Willens. 4- Aufl. mit
neuer Einleitung. Berlin 1879, Wiegandt & Grieben.
(89 S. 8.) M. 1. 20.

Schon der Name des in der pädagogifchen Welt
weit bekannten und hochgefchätzten Verfaffers bürgt
dafür, dafs man in einem Vortrage von ihm mit dem
angegebenen Titel geiftvolle, gute und gefunde Gedanken
erwarten darf. Diefe Erwartung wird nicht getäufcht,
wie der Vortrag denn auch, was feiten derartigen Arbeiten
befchieden wird, in 4. Auflage erfcheint. Diefe
Auflage ift durch zwei von dem Herrn Verf. mit einer
Dame aus Caffel über das Büchlein gewechfelte Briefe,
welche demfelben als Einleitung und ftatt Vorrede vor-
angeftellt find, bereichert.

Was den Inhalt des Vortrages felbft anlangt, fo
will der Verf. darfteilen, welche hervortretenden Geiftes-
richtungen im Bildungsgange des deutfchen Volkes feit
der Reformation der ,Bildung des Willens' vorzugsweife
förderlich oder ungünftig gewefen find. Dabei verlieht er
unter ,Willen' den concreten Ausdruck für die ins Leben
tretende Sittlichkeit (S. 21). Die Gefichtspunkte feiner Betrachtung
entnimmt er dem Evangelium, als ,der Pädagogik
Gottes am Menfchengefchlechte' (S. 22). Keinen
anderen Ausgangspunkt des fittlichen Strebens für den
Chriften könne es geben, als den Glauben an den lebendigen
und heiligen Gott, und kein anderes Ziel, als
den eigenen Willen mit dem Willen Gottes in Ueber-
einftimmung zu fetzen. Die bald fleh fühlbar machende
Ohnmacht folchen Strebens aber fordere den Flrlöfer
und durch das Verhältnifs zu ihm werde der Glaube
perfonbildend und gemeinfchaftbildend. In den
Begriffen der ,Perfönlichkeit' und .Gemeinfchaft' werde
feine (des Verf.'s) gefchichtliche Darftellung ihre wefent-
lichen Gefichtspunkte finden. ■— Der Reihe nach werden
dann Luther, die Orthodoxie, der Pietismus, der Rationalismus
in feinen verfchiedenen Verzweigungen, die Ro-

[ mantik, der Humanismus und das kirchliche Leben feit
den Befreiungskriegen kurz, aber treffend befprochen.

Mit der vorzüglich feit Anfang diefes Jahrzehents
in Deutfchland eingefchlagenen Bahn in der Leitung
des geiftigen und insbefondere des Schullebens ift der
Verf. nicht überall einverftanden. Befonders in feinem
oben erwähnten Briefe beklagt er, dafs es unter der
| Auctorität der Regierung nunmehr in das Belieben eines
1 Jeden geftellt fei, ob er für feine Ehe die Trauung begehren
und feine Kinder taufen und einfegnen laffen
wolle. Hiedurch werde der ,Atomifirung' im Volke
| Vorfchub geleiftet. Und ebenfo müffe die immer mehr
I durchgeführte Trennung der Schule von der Kirche neben
anderen Urfachen unvermeidlich dahin wirken, dem Volke
die Religion gleichgültig erfcheinen zu laffen. Auch habe
man, wie in den Schulen überhaupt, fo insbefondere in
den ,höheren Töchterfchulen' einfeitigen Intellectualis-
mus zur Herrfchaft kommen laffen.

Der Unterzeichnete fleht nicht auf dem Standpunkte,
den Erlafs der erwähnten Gefetze zu beklagen. Ift ja
doch durch ihre allerdings zunächft traurigen Wirkungen
nur an den Tag gekommen, wie viel mehr Arbeit in
Kirche und Staat für das religiös-fittliche Leben unferes
Volkes geleiftet werden mufs, als man früher annahm!
Wird aber diefe Mehrarbeit fernerhin geleiftet, was man
doch hoffen darf, fo kann auch die Befferung nicht ausbleiben
. Die Klage aber über einfeitigen Intellectualis-
mus in den Schulen möchte mehr Berechtigung haben,
wie denn auch des Verf.'s Bemerkungen auf S. 8 und
32, dahin gehend, dafs die Erkenntnifs des Guten und
Wahren keineswegs fchon gewährleifte, das Gute und
Wahre allein werde auch den Willen beftimmen, gegenüber
den Behauptungen mancher modernen Pädagogen
alle Beachtung verdienen. Hoffen wir, dafs die letzterwähnte
Klage vielfcitig und eingehend geprüft werde!

Lennep. Lic. Dr. Thönes.

Beck, Sem.-Dir. Dr. Karl Aug., Geschichte des katholischen
Kirchenliedes von feinen erften Anfängen bis
auf die Gegenwart.. Köln 1878, Du Mont-Schauberg.
(X, 288 S. gr. 8.) M. 3. —

Der Verfaffer, welcher Director des königl. Schullehrer
-Seminars zu Linnich ift, hat feit zwei Jahren Vorträge
über das katholifche Kirchenlied und deffen Ge-
fchichte gehalten; dielen Vorträgen verdankt das vorliegende
Werk feinen Urfprung. Der Mangel an ähnlichen
Hülfsmitteln auf katholifcher Seite gaben dem Verf.
Veranlaffung, den engen Rahmen diefer Vorträge zu erweitern
und denfelben die Form des vorliegenden Buches
zu geben. — Der Verf. theilt die Gefchichte des katho-
lifchen Kirchenliedes in zwei Zeiträume; der erfte Zeitraum
umfafst den ,religiöfen Gefang im alten
Bunde'; von diefem redet der Verf. auf den erften neun
Seiten. Der zweite Zeitraum, welcher die ,chriftliche
Zeit' überfchrieben ift, wird in neun Abfchnitte einge-
theilt, welche auf 273 Seiten behandelt werden; der erfte
Abfchnitt enthält ,die Zeit Chrifti und die apoftolifche
Zeit'; von den übrigen kommen vier auf die Zeit vor
der Reformation und vier auf die nachreformatorifche
Zeit ; jeder diefer Hälften ift ungefähr ein gleich
grofser Raum in der Behandlung gewidmet. Das vorwiegende
Intereffe des Verfaffers ift fchon im Mittelalter
bei dem deutfchen geiftlichen Liede; in der nach-
reformatorifchen Zeit ift nur von diefem die Rede, wobei
dann auch das lutherifche Kirchenlied ausführliche
Berückflchtigung findet. Durchweg ift die Gefchichte des
geiftlichen Liedes durch Beifpiele erläutert, fo dafs das
Werk zugleich eine Sammlung von Liedern aller der
vom Verf. befprochenen Zeiten und Arten enthält; die
wenigen altteftamentlichen Lieder und die der griechi-
fchen Kirche find nur in deutfeher Ueberfetzung mitge-
theilt, lateinifchen und altdeutfchen ift meiftens eine neu-