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Ausgabe:

1879

Spalte:

364-365

Autor/Hrsg.:

Köstlin, Heinr. Adf.

Titel/Untertitel:

Die Tonkunst. Einführung in die Aesthetik der Musik 1879

Rezensent:

Pfleiderer, Edmund

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. No. 15.

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denken können, dem Nebel der Speculation an, wo die
Phantafie ihre Gebilde ins Vacuum des Nichtwiffens
ftellt. Dahin gehört z. B. auch das ganze Witzfpiel der
Metaphyfik von Leibniz, zu deffen Jahresfeier diefe Rede
gehalten wird, einer Metaphyfik, welche dem heutigen
Naturforfcher den modernen exacten Errungenschaften
gegenüber fo werthlos vorkommt, als die mythologifche
Weltanficht eines Hellenen oder Brahmanen. Auf der <
fchwindelfreien Höhe diefes wahren Pyrrhonismus fei |
das Wort zu wiederholen: IgnorabimusX um es durch das
folide andere zu ergänzen: Laboremus

Wigand fieht in feiner Entgegnung von fonftigem
Beiwerk mehr ab und hebt die metaphyfifche Alternative
,Teleologie oder Zufall' fcharf heraus. Eine folche Kundgebung
von der hochftehenden Berliner Akademie aus
verdiene immer befondere Beachtung. Freilich fei es
eigenthümlich, ,eine Anfchauung, welche bereits von allen
felbftändig denkenden Darwinianern direct oder indirect {
aufgegeben ift, jetzt innerhalb der Berliner Akademie
nochmals aus der Rumpelkammer hervorgeholt und !
feierlich auf den Leuchter geftellt' zu fehen, um damit j
nebenher das Gedächtnifs des im Uebrigen fo weit überholten
Leibniz als Akademiegründers zu ehren. Rey-
mond's kritifche Apologie der Zuchtwahl erhält nun
ihre Metakritik, welche derfelben eine ftarke Kürze und
Flüchtigkeit vorwirft und betont, wie intereffanter Weife
nach dem unverhüllten eigenen Geftändnifs des Redners
lediglich ein fubjectives Bedürfnifs für feine erbarmungs-
lofe Bekämpfung der Teleologie mafsgebend fei. Dies
könne aber nicht mehr der Standpunkt des nach rechts
und links objectiv ruhigen Naturforfchers genannt werden
, fondern fei derjenige eines anderweitigen Parteimanns
, welcher in tendenziöfer Art die Grenzen feiner
Wiffenfchaft übcrfchreite. Was wohl die philofophifchen
Mitglieder der Akademie zu des Redners höchft fach-
mäfsig particulariftifcher Definition gefagt haben, welche
nur das mechanifche oder mathematifch-phyfikalifche Erkennen
als nennenswerthes Erkennen beftehen laffe?
Als ob es nicht, auch ohne fchon irgend transfcendent zu
fein, z. B. auf dem Gebiete der Ethik oder Aefthetik, überhaupt
auf demjenigen des menfchlichen Innenlebens gar
Manches gäbe, was einen recht würdigen und unvermeidlichen
Gegenftand ernften Nachdenkens bilde, auch
wenn es nicht in den Rayon der Materie und Kraft,
oder unter die Jurisdiction der Wage und Zahl falle.
Mit Einem Wort fei die ganze Frage, um welche fich
der Redner mühe, gar keine folche, welche ihn als Naturforfcher
irgend berühre, fondern vielmehr eine von denen,
welche der doch wohl neuerdings wieder etwas mehr
geduldeten Philofophie angehören. Denn es fei ja gar
keine Rede davon , dafs unverbrüchliche Caufalität und
Teleologie überhaupt eine Alternative bilden. Jeder
vernünftige Teleologe wiffe, dafs kein Zweck fich je anders
realifire, als in fVreng ätiologifcher Erfcheinungsordnung.
Diefe letztere, oder wie Lotze es ausdrückt, die mechanifche
Erklärung fei die Sache der Naturwiffen-
fchaft. Daneben gehe die ideale Deutung als eine
ftörungslofe Parallele her, foweit es fich wenigftens um
den ganzen immanenten Verlauf und nicht um die letzte
metaphyfifche, aber jedenfalls nicht mehr naturwiffen-
fchaftliche Grunddeutung handle.

Schliefslich läfst Wigand durchblicken, dafs R. auf
diefem ihm fremdartigen, weil eigentlich philofophifchen
Gebiet lange nicht feine fonftige fachmäfsige Sicherheit
und Klarheit befitze, fondern in ziemlich unficherer
Weife auf dem unnöthig betretenen metaphyfifchen
Problemengebiet tafte. ,Wir erblicken in diefer Rede,
welche fich nicht auf gleicher Höhe mit den früheren
Reden des berühmten Phyfiologen hält, ein unvermitteltes
Konglomerat von drei widerftrcitenden Anflehten:
vorn und zwifchendurch Teleologie, in der Mitte Darwinismus
und hinten Skepticismus' — mit diefem etwas
fcharfen Verdict fchliefst die Entgegnung, welche gegen

Reymond von einem naturwiffenfehaftlichen Fachgenoffen
und nicht etwa blofs aus dem philofophifchen Lager erhoben
wird.

Tübingen. E. Pflei derer.

Köstiin, Dr. Heinr. Adf., Die Tonkunst. Einführung in
die Aefthetik der Mufik. Stuttgart 1879, Engelhorn.
(XII, 370 S. gr. 8.) M. 7. -

Dem Verfaffer ift der Feinfinn für die Tonkunft angeboren
. Jofephine Lang' ift der wohlbekannte mufikali-
fche Schriftftellername feiner Mutter. So ift denn fchon
im Jahre 1875 von jenem eine ,Gefchichte der Mufik'
(Tübingen, Laupp) erfchienen, welche verdienten Beifall
fand; denn bereits hat fie eine zweite Auflage, fowie die
Ueberfetzung in mehrere Sprachen erlebt. Das vorliegende
, äufserft fleifsig gearbeitete Werk bildet hiezu
das mehr fyftematifche Seitenftück. Mit Recht nennt
der Verf. die Mufik die populärfte unter den Fünften,
ja das Lieblingskind unferer Zeit. Um fo nöthiger ift
es, in dem Gewirre der Meinungen und Urtheile, welche
über diefelbe beftehen und ergehen, an der .Anbahnung
einer gefunden und natürlichen Kunftauffaffung in der
Welt der Mufiker und Mufikfreunde zu arbeiten, das
mufikalifche Urtheil zu klären und die zur Mode gewordene
fanatifche Mufikwuth zu ernüchtern'. — Mit diefen
Worten drückt Köftlin felbft die Abficht feines trefflichen
Buches aus. Zu diefem Behufe will er nicht mit den
Begriffen oder Formeln der blofs allgemeinen Aefthetik
operiren, fondern dringt darauf, dafs man die Mufik
ganz fpeciell auf ihrem eigenen Gebiete kennen lerne
und ihre fpeeififchen Mittel oder Gefetze für fich
erforfche. Der erfte Theil der Schrift behandelt daher
die Elemente der Tonkunft, wie Ton und Klang,
wobei die epochemachenden Helmholtz'fchen Leiftungen
in umfichtiger und klarverftändlicher Weife verwerthet
find. Dies findet fogleich feine Anwendung auf eine
Charakteriftik der verschiedenen Mufikinftrumentc, welche
uns über manchen alltäglichen Bekannten in neifsiger
Auswahl intereffante gefchichtliche und zugleich cultur-
hiftorifche Notizen giebt. Der zweite Theil wendet fich
zu den Formen der Tonkunft. Zunächft werden
deren Siamina, nämlich Tonleiter und Accord fowohl
phyfikalifch beleuchtet, als von ihnen fehr inftruetiv gezeigt
, wie fich aus der Unmaffe möglicher Töne und
Tonverbindungen in eigenthümlich gefchichtlichem und
nationalem Wechfel unfere jetzigen feften Formen durch
die Arbeit von Jahrhunderten herausgebildet haben.
Weiterhin wird demWefen und Gefetz der Melodie, fowie
der polyphonen Tongebilde bis zu den feinften und
kunftvollften Geftaltungen der Fuge und Sonate eine eingehende
Darlegung gewidmet, welche durch eingeftreute
Beifpiele befonders für den felbft Mufik Treibenden
illuftrirt wird; indeffen wird auch der denkende Laie
das erforderliche Verftändnifs gewinnen können. Der
dritte Theil ift der geiftigen Seite der Tonkunft
gewidmet. Neben dem finnlichen Wohllaut und der
formalen Correctheit handelt es fich hier vor Allem um
die Frage, was denn recht eigentlich den geiftig idealen Inhalt
derMufik ausmache. Der Verf. polemifirt fcharf gegen
jede Auffaffung, welche derfelben die Darfteilung von
etwas Fremdem zumuthe, feien dies nun reale Vorgänge,
Vorftellungen und Gedanken, oder feien es namentlich
nach der beliebteften Theorie Gefühle und Stimmungen.
Auch Letzteres könne nur als fecundäre, relativ willkürliche
und zufällig wechfelnde Wirkung der Mufik,
nicht aber als ihr eigenfter Inhalt bezeichnet werden.
Denfelben bilde vielmehr blofs das nicht weiter definir-
bare ,Mufikalifch-Schöne' als folches, welches als ein ganz
eigenartiger Ausflufs der allgemeinen Idee des Schönen
zu betrachten fei. Wir geftehen offen, dafs uns diefe
äfthetifch-philofophifche Löfung oder vielmehr Nicht-
löfung am Schlufs nicht recht befriedigen will, und die