Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1879

Spalte:

281-289

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Otto

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage 1879

Rezensent:

Gottschick, Johannes

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5

Download Scan:

PDF

Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 12.

282

handenen erften Bedürfnifs genügen durch eine Skizze
des Lebens und Wirkens deffen, dem in den Herzen fo
vieler Schüler, die ihn im Geift mit dem vorangegangenen
Tholuck zufammenftellen, eine dankbare Erinnerung lebt.
Wir begleiten den Predigerfohn aus Ohlau, den Bruder
Karl Otfrieds auf feinem Lebenswege von feiner Studienzeit
zu Breslau nach Göttingen, wo eine innere Wendung
feines geiftlichen Lebens auch über fein Studium
entfcheidet, den Juriften zum Theologen macht, dann
wieder zurück nach Breslau unter Scheibel's und Steffens',
und nach Berlin unter Tholuck's und Neanders', Kott-
witzens und Straufs' Einwirkungen; wir lernen den felb-
ftändig und charaktervoll auftretenden jungen Pfarrer
von Schönbrunn und Rofen kennen, dann feine auf-
fteigende Laufbahn als Univerfitätsprediger in Göttingen
und als Profeffor in Marburg, bis wir endlich in feine
Hallefche Wirkfamkeit eintreten. Wir glauben nicht zu
irren, wenn wir gerade die Mittheilungen über die Anfange
Müller's und feine innere Entwicklung als dasjenige
bezeichnen, was von vielen dankbar empfangen werden
wird; freilich zugleich als das, was den Wunfeh nach
reicheren Mittheilungen wachruft, denn es find doch im
Grunde nur fehr fpärliche Andeutungen, welche uns hier
gewährt werden. Es ift eine für Alle mit Müller aus
perfönlicher Berührung bekannten nicht neue aber hier
Beftätigung findende Wahrnehmung, dafs auch er erfte
tiefgehende religiöfe Impulfe von der Romantik empfangen
hat; und doch frappirt diefe Wahrnehmung
immer wieder, wenn man fie neben den Eindruck des
fertigen Dogmatikers Müller ftellt. Der Weg von der
äfthetifch-poetifchen und gefühlsmäfsigen Auffaffung des
Chriftenthums zur ethifchen und zugleich lehrhaften —
der durch fchwere Zweifel ging —. ift von Sch. angedeutet
, aber man fähe gern tiefer hinein. Bezeichnende
Seiten an der kirchlichen Perfönlichkeit Müllers treten
fchon in den Jahren feines Schönbrunner Pfarramts hervor
bei Gelegenheit von kirchl. Ereignifsen, welche in
der Erinnerung der jetzigen Generation fchon erheblich
mehr zurückgetreten find als Müller's Betheiligung an der
Unionsfrage, den Aufgaben der preufsifchen General-
fynode und den Verhandlungen über die Wiedertrauung
Gefchiedener, welche von Sch. weiterhin erörtert werden
. Viel werth ift mir die Briefftelle S. 17 gewefen,
der fchlichte Bericht des jungen Mannes an feine Eltern
von einer gefahrvollen Stunde, in der er feine Seele in
Gottes Hand gab; mir war's, als hörte ich denfelben Ton
feiner Stimme, mit welchem er fpäter in einem Halle-
fchen Cholerafommer bei gegebener Veranlaffung ebenfo
fchlicht auf Paul Gerhards Wort verwies: Unverzagt
und ohne Grauen etc.

Kiel. Möller.

Pf leiderer, Prof. Otto, Religionsphilosophie auf gefchicht-
licher Grundlage. Berlin 1878, G. Reimer. (XX,
797 S. gr. 8.) M. 11. —

In der anfehaulich lebendigen Sprache, in der über-
fichtlich conftruirten Gruppirung, die als Vorzüge des
Verfaffers bekannt find, hat er einen überreichen Stoff
darffellend wie beurtheilend in anziehender Weife behandelt
, wie es nicht anders fein kann, folche, die feinen
Standpunkt nicht theilen, vielfach zum Widerfpruch
reizend, befonders da, wo mit der Vornehmheit des Ur-
theils die Gründlichkeit des gefchichtlichen Verftänd-
nifses oder die Sorgfalt der Argumentation nicht gleichen
Schritt halten. Er ift jetzt auf den Standpunkt
Biedermann's übergetreten, erneuert alfo die Weltan-
fchauung Hegel's in einer zwifchen Orthodoxie und Naturalismus
die Mitte haltenden und deffen Intellectualis-
mus religiös zu vertiefen bemühten Auffaffung und mit
der Modification der fpeculativen Methode, dafs er an
die Stelle der dialektifchen Bewegung des Begriffs den
regreffiven Weg der Verarbeitung der Erfahrung, nach

den ihr als Gefetz immanenten logifchen Principien
fetzt. Dazu hat er die Kunft, die pfychologifche Genefis
religiöfer Vorftellungen aufzufpüren, die wir aus feinem
,Paulinismus' kennen, hier auf einen umfangreichen reli-
gionsgefchichtlichen Stoff angewandt und die Einfeitig-
keit der conftruetiven Speculation ergänzt durch pfychologifche
Erklärungen, die ebenfo fehr das ftarre Gegebenfein
der überlieferten Begriffe in Flufs bringen,
wie fie energifch dem rohen Naturalismus mancher Re-
ligionshiftoriker entgegentreten. Von feinem früheren
Werke unterfcheidet fich das vorliegende dadurch, dafs,
während er dort die Pfychologie und Metaphyfik der
Religion von ihrer Gefchichte gefchieden behandelt hatte,
er jetzt einen befonderen Fortfehritt darin fieht, beides fo
verwoben zu haben, dafs die allgemeinen philofophifchen
Refultate über das Wefen der Sache aus der gefchichtlichen
Darftellung des Befonderen (NB. nicht blofs der
Religions- fondern auch der Theologie- und Philofophie-
Gefchichte) von felbft hervortreten, ,uns gleichfam in
die Hände fallen'. Von diefer Methode giebt fofort eine
Probe der erfte Theil ,Gefchichte der neueren Religions-
philofophie' S. 3—276, der diefelbe von Leffing bis auf
die Gegenwart behandelt und in feingegliederter Con-
ftruetion uns zeigt, wie von verfchiedenen Seiten her
die Richtungslinien ihrem Vereinigungspunkte, einer
Speculation in der Art Hegel's, zuftreben —■ eine in-
ftruetive, aber kaum überzeugende Einführung in die
fpeculative Religionsphilofophie. Etwas obenhin ift
Schleiermacher behandelt, bei dem man doch aufser
dem fubjectiven Religionsbegriffe auch den Werth beachten
mufs, den er der Gemeinfchaft zufchreibt. Unerlaubt
oberflächlich ift Kant behandelt. Obwohl Pfl.
mit Selbftgefühl von feiner befonderen Auffaffung Kant's
fpricht, erhebt er fich nirgends über die landläufigen
Einwände. Wenn er Kant's Erkenntnifsvermögen ein
nichts erkennendes nennt, fo ift ihm der Grundgedanke
Kant's, eine zufammenhängende Erfahrungserkenntnifs
als möglich zu begreifen, verborgen geblieben, was nicht
befremdet bei Jemand, der Kant nachfagen kann, er
erkläre mechanifche Caufalität und Teleologie beide für
blofs regulativ, nach ihm werde das Gefetz aus den Er-
fcheinungen abftrahirt. Durchaüs auf dem Alltagsniveau
hält fich feine Auffaffung der Lehren Kant's vom Intelli-
giblen. Ift es ihm auch nicht hoch anzurechnen, dafs
er das Ding an fich wie Jacobi etc. verfteht, dazu bietet
I die Kritik der rv V. Anlafs — fo dürfte er an feine
Erneuerung des trivialen ,unwiderleglichen' Einwandes
Jacobi's doch nicht die Bemerkung knüpfen, der (NB.
bei Pfl. fchlecht wegkommende) Neokantianismus ignorire
denfelben, kenne ihn vielleicht gar nicht; offenbar kennt
er Cohen und Stadler nicht. Die Gerechtigkeit aber
könnte Kant endlich beanfpruchen, dafs ihm nicht
trotz Verwahrung imputirt werde, er fetze der Sinnlichkeit
die Vernunft als ein fertiges intelligibles Wefen
entgegen, das mit Freiheit ausgeftattet Grund des Sitten-
gefetzes wie des Böfen fei. Die intelligible Freiheit ift
die principielle Formulirung des Inhalts des Sittenge-
fetzes, identifch mit der Autonomie; beide Begriffe
' wollen nicht ein überfinnliches Dafein bezeichnen, das
: den Urfprung des Gefetzes erklärte, fonden das regu-
j lative Sittengefetz formuliren. Auch die Herleitung des
i radicalen Böfen aus der int. Freiheit hat Kant ausdrücklich
abgelehnt.

Der II. Theil enthält die genetifch-fpeculative Religionsphilofophie
felbft. Abfchn. I 255—311 (das Sub-
ject des religiöfen Bewufstfeins) befpricht das pfychologifche
Wefen der Religion und das Verhältnifs
von Glauben und Wiffen. Abfchn. II 312—722 erörtert
,das Object des religiöfen Bewufstfeins: den Glaubensinhalt
' nach den locis Gottes-, Engel- und Teufel-,
| Schöpfungsglaube, Theodicee, Offenbarungs- und Wun-
i der-, Erlöfungs- u. Mittler-, Ewigkeitsglaube. Abfchn. III
I redet von der Bildung und Lebensordnung der reli-