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Ausgabe:

1879 Nr. 12

Spalte:

280-281

Autor/Hrsg.:

Schultze, Leop.

Titel/Untertitel:

D. Julius Müller. Mittheilungen aus seinem Leben 1879

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 12.

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gebenen zu freuen. Hocherfreulich erfcheint mir vor
allem das die ganze Darftellung tragende tiefe Verftänd-
nifs für die eigentlich durchfchlagenden Factoren des
Reformationszeitalters; nicht blofs bei politifchen Hifto-
rikern, auch bei Theologen hat man in der Gegenwart
nicht feiten Urfache, über Mangel an Verftändnifs jener
in der Gefchichte deutfchen Geifteslebens einzigartigen
Zeit zu klagen: ift doch die Tendenz, die Originalität
eines Luther zu verkleinern, das religiöfe Moment in
ihm zurücktreten zu laffen, noch keineswegs erlofchen.
Faft noch mehr dem Leben entfremdet, jedes wirklichen
hiftorifchen Blickes baar ift freilich jene Auffaffung, welche
vermeint, dafs im 16. Jahrhundert die Bewegung der
dogmatifchen Ideen der allmächtige oder gar einzige
Regulator der Entwicklung gewefen fei. Und ift diefe
Anfchauung denn fchon ganz aus den theologifchen
Kreifen verfchwunden? Auch hier mögen wir von
unferem Autor, von der dem politifchen Hiftoriker eigenen
Weite des Blickes lernen, wenn er nachdrücklich die
Schwächen und Mängel des Proteftantismus, in Sonderheit
desjenigen der vierziger Jahre, betont: die verhängnifsvolle
politifche Unfähigkeit und Verblendung feiner fürftlichen
Häupter, feine nicht minder verhängnifsvollen inneren Spaltungen
, die Abnahme derreligiöfen Begeifterung. An einem
concreten Beifpiel aufgezeigt, zur Anfchauung gebracht,
in einer eng begrenzten Gefchichte, der gleichwohl eine uni-
verfale Bedeutung zukommt, werden die in Rede flehenden
Schatten hoffentlich nicht mehr fo häufig wie bisher
überfehen werden.

Wenn es mir geftattet ift, noch auf einige Einzelheiten
hinzuweifen, fo kann ich aus der Menge deffen,
was die Aufmerkfamkeit des Kirchenhiftorikers auf fich
zu ziehen geeignet ift, nur Weniges, nur das Belangreichfte
herausheben. Hierhin dürften zu rechnen fein die
Schilderungen der kirchlichen und der Verfaffungs-
Verhältnifse im Kurfürftenthum Köln bei dem Regierungsantritt
Hermanns 1515 fS. 10—34), der geiftigen und
kirchlichen Zuftände im Erzflift bei Beginn der Reformation
(S. 56—65); die völlig neuen Auffchlüffe über
das Wormfer Geheimgefpräch vom December 1540 (bekanntlich
die Werkftätte, in welcher das Regensburger
Buch gefchmiedet worden), aus den Briefen Butzers an
Philipp von Heffen erhoben (S. 112—115; II, 30—43);
die an verfchiedenen Stellen eingeflochtenen Skizzen der
Politik Karls V. (z. B. S. 97 f. 266—269), vor allem die
Darlegung der tief einfehneidenden Bedeutung des Gel-
dernfehen Krieges auch für die Kölnifche Sache (S. 210
—218); die Charakteriftiken des Erzb. Hermann (S. 36 ff.
66 ff. und lonftl und feines Hauptgegners Gropper (S.
131 —136 u. a. a. St.), wie die wenigen und doch fcharfen
Züge zum Bilde des Landgrafen Philipp S. 110—112.
Ganz befondere Beachtung fcheint mir aber die durchgängige
Würdigung Martin Butzer's zu verdienen,
namentlich die zwar knappe, aber tief eindringende und
ergiebige Charakteriftik S. 101 —107. Je weniger die
beiden neueften theologifchen Stimmen über Butzer
feiner gefchichtlichen Bedeutung gerecht geworden find
(Herzog in der Allgem. deutfeh. Biographie III, 664—
667 und W. Krafft in der neuen Aufl.. der Real-Ency-
klop. III, 35—46), umfo lebhafter wird diefe Ausführung
der allgemeinften Beachtung empfohlen werden dürfen.
Ohne die bedenklichenSeiten des,Diplomatifirens' Butzers
zu verkennen, deutet V. mit Recht an, dafs dem unermüdlichen
Strafsburger Theologen unter den Reformatoren
zweiten Ranges der oberfte Platz gebührt. ,Man
kann und darf nicht diefen Reformator, wie Ranke ihn
nennt, von ,unzweifelhaftem Talent für fecundäre Pro-
duetion' neben Luther und Calvin ftellen, aber auf das
deutlichfte treten, irre ich nicht, die Vorzüge des ,fried-
fertigen Butzer' hervor, wenn man ihn als Kirchenpolitiker
mit dem ,beugfamen' Melanchthon vergleicht. Die
pulle der Verdienfbe, die fich der Praeceptor Germaniae
um die Bildung unferes Volkes erworben hat, wird wohl

jede tiefer eindringende Forfchung in nur helleres Licht
fetzen; aber zeigt nicht auch er mehr als einmal jene
fiüigherzigkeit und Zaghaftigkeit, die fo oft mit nur zu
gutem Rechte feinen fchulmeifterlichen Schülern vorgeworfen
ift? Butzer war fefter als Melanchthon in grofsen
und weniger eigenfinnig als diefer in kleinen Fragen; er
hatte mehr Zutrauen zu den guten Seiten der Menfchen
und weniger Menfchenfurcht' (S. 106 f.). In der That,
es ift mir nicht zweifelhaft, dafs die weitere Forfchung
diefe Sätze in ihrem vollen Umfange beftätigen wird:
Melanchthon, nicht nur der Praeceptor Germaniae, auch
der jugendliche Humanift, der kühne Genoffe Luthers,
auch Melanchthon, der Lehrer der evangelifchen Kirche,
wird ftets in Ehren gehalten werden, der hervorragende
Reformator, der laut gepriefene Kirchenpolitiker wird
den ihm mit Unrecht eingeräumten Platz an Butzer abzutreten
haben — und der berühmte Wittenberger wird
dabei nur gewinnen: macht man ihn nicht mehr zum
Kirchenftifter, ftellt man ihn nicht mehr als ebenbürtig
Luther und Zwingli an die Seite, fo wird feine wahre
Bedeutung bereitwilligerer Anerkennung begegnen, wird
feine (dafs ich mich gelinde ausdrücke; unmännliche
Haltung billigere Beurtheilung finden, als man in der
Gegenwart — im Kampfe gegen das ungefchichtliche

I Bild des Reformators — ihm zu Theil werden zu laffen
geneigt, ja im Stande ift; man wird dann auch beftimmter
und klarer das Tragifche erkennen, das feinem Leben
anhaftet, indem der ftille, ängftliche Gelehrte, zumal nach

j dem Tode Luthers, durch die Verhältnifse an eine Stelle
gefetzt war, der er von Haufe aus nicht gewachfen war,

nicht gewachfen fein konnte.--

Der Darfteilung felbft hat V. forgfame, zum Theil
ausführlichere Auszüge aus den einfchlagenden Reforma-
tionsfehriften und aus der Streitliteratur einverleibt (fo
z. B. aus den Canones des Kölner Provincial-Cortcils von
1536 S. 76—78, aus Gropper's PLnchiridion S. 78—82,
aus den Streitfchriften des Jahres 1543 S. 142 ff. 153 ff.
165 ff. 169;—176 und aus der Reformationsordnung Her-
mann's S. 178—196). Diefe Mittheilungen find um fo
dankenswerther, je feltener man der excerpirten Schriften
habhaft werden kann und je fchwerer es ift, lieh durch
die weitläuftige Schreibart diefer Quart- und P'oliobände
hindurchzuarbeiten. — Ungemein willkommen find endlich
die reichhaltigen ,Quellen und Erörterungen',
welche als 2. Abtheilung mit befonderer Paginirung den
Schlufs des Werkes bilden. Unter den PJrörterungen
dürfte die Würdigung von ,Gropper's und Butzer's pole-
mifchen Schriften als hiftorifchen Quellen' (S. 28—52)
von hervorragendfter Wichtigkeit fein, während unter den
Quellen die Briefe Butzer's an Philipp und ein Schreiben

I des Landgrafen an Butzer und Jakob Sturm die erfte

[ Stelle einnehmen; das letztere (vom 9. September 1545
S. 103—109) gehört ohne Zweifel zu den intereffanteften
Schriftltücken, welche aus der reformationsgefchichtlichen
Correspondenz in neuerer Zeit veröffentlicht find, und
geftattet im Verein mit den mitgetheilten Proben Butzer'-
fcher Briefe einen erfreulichen Schlufs auf die grofsartige
Förderung, welche die in der Vorbereitung befindliche
Publication des Briefwechfels des Landgrafen Philipp mit
Butzer der P~orfchung bringen wird.

Marburg. Th. Briegcr.

Schultze, Gen.-Superint. D. Leop., D. Julius Müller. Mittheilungen
aus feinem Leben. [Aus: ,Neue preufs.
Zeitung'.] Bremen 1879, Müller. (61 S. 8.) M. 1. —

Diefe Mittheilungen über den heimgegangenen
theueren Mann aus dem Munde des ihm wie als Schwie-
gerfohn fo auch geiftlich als dankbarer Schüler nahe-
ftehenden Verfaflers beanfpruchen nicht eine umfaffende
Würdigung von Müller's theol. Bedeutung zu geben oder
etwa den Anfprüchen an eine Biographie zu genügen.
Sie wollen nur dem ohne Zweifel in weiten Kreifen vor-