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Ausgabe:

1879 Nr. 10

Spalte:

234-235

Autor/Hrsg.:

Schulze, Ludw.

Titel/Untertitel:

Philipp Wackernagel nach seinem Leben und Wirken für das deutsche Volk und die deutsche Kirche. Ein Lebensbild 1879

Rezensent:

Lauxmann, Richard

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 10.

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fatz der römifchcn Kirche, dafs der Papft der Stellvertreter
Gottes und Chrifti auf Erden fei, bis zu feinen
letzten Confequenzen zur Geltung zu bringen. Dafs
diefe den feitherigen confeffionellen Frieden ftörende
Tendenz auch in den Rheinlandcn mächtig geworden
war, zeigte fich bei dem Conflict, welchen fie zwifchen
dem Erzbifchof Clemens Auguft von Drofte-Vifchering
und der preufsifchen Regierung hervorrief. ,Da find
wir erft wieder katholifch geworden; vorher wufsten
wir felber kaum, was wir waren', fagte damals ein älterer
katholifcher Landgeiftlicher, während noch wenige Jahre
vorher ein Iliftoriker wie Ranke in der Vorrede zu feiner
Gefchichte der Päpfte (1834) hatte fchreiben können:
,Was ift es heutzutage noch, das uns die Gefchichte der
päpftlichen Gewalt wichtig machen kann? nicht mehr
ihr befondercs Verhältnifs zu uns, das ja keinen wefent-
lichcn Einflufs weiter ausübt: noch auch Beforgnifs irgend
einer Art: die Zeiten, wo wir etwas fürchten konnten
, find vorüber: wir fühlen uns allzugut gefichert'
Von Jahr zu Jahr ftellte fich klarer heraus, dafs die rö-
mifche Kirche, unter der Regierung Friedrich Wilhelm's
IV namentlich durch das Revolutionsjahr 1848 gefördert
, in der That noch eine Macht fei, welche man zu
fürchten und welcher gegenüber man fich nur ,allzugut
gefichert' gefühlt hatte, und dafs ihre Hauptforderung
lediglich auf unbedingte Unterwerfung unter ihr Syftem
und den deffen Spitze bildenden abfohlten Willen des
Papfles gerichtet fei. Die Erfüllung diefer Forderung
ift es, was den correcten Katholiken macht, und fo
thaten fich jetzt jene ,zornigen Heiligen' hervor, wie
Amalie fie fo treffend zu nennen liebt, weil fie die Be-
thätigung ihrer Heiligkeit vor allem in Hafs und Verfolgung
gegen jede Abweichung von der Confequenz
des Syftems fuchen. Auch darüber hätte fie fich nicht
verwundern follen, dafs die auf dem vaticanifchen Con-
cil das Dogma von der Unfehlbarkeit zuerft beftreiten-
den Bifchöfe nachher dem Majoritätsbcfchluffe fich gefügt
haben. Denn wenn nach Bellarmin's bekanntem
Ausfpruche die römifchc Kirche ein fo fichtbares und
greifbares Reich von diefer Welt ift, wie die Republik
Venedig oder das Königreich Frankreich, fo ift es von
ihrem Standpunkte aus lediglich in der Ordnung, dafs
die anfänglich opponirende Minorität, cbenfo wie die
eines Land- oder Reichstages, der fchliefslichen Ent-
fcheidung der Majorität fich unterwirft. Dennoch wird
es auch in Zukunft der römifchen Kirche nicht an Angehörigen
fehlen, welche lieber in der Stille dem Vorbilde
der ,Mutter der Barmherzigen' nachleben, als der
Fahne und Lärmtrommel der ,zornigen Heiligen' folgen,
und diefe werden auch mit Proteftanten einen für beide
Theile erfpriefslichen modus vivendi finden. Ob aber
evangelifche Chriften irgendwelche Ausficht auf einen
ehrlichen Frieden mit einer Kirche felbft haben, welche
ihre beften eigenen Kinder ausltöfst, fobald fie nicht
allen Forderungen ihres Syftems in blindem Gehorfam
fich fügen, und ob es wohlgethan ift, wenn Proteftanten
in dem Kampfe des Staates gegen die fchriftwidrigen
Anfprüche diefes Syftems fich auf die Seite des letzteren
ftellen, das find Fragen, auf welche die vorliegende
Schrift eine fehr klare und beftimmte Antwort enthält.
Einem Staate, welcher nicht gefonnen ift, feine Selbftän-
digkeit und Würde aufzugeben, wird im Wcfentlichen
Schwerlich etwas anderes übrig bleiben, als mit befon-
nener Entfchiedenheit feine Rechtsordnungen feftzuftellen
und es dem Papfte und deffen Organen zu überlaffen,
dagegen etwa zu proteftiren, dabei aber den zu Recht
beftehenden Ordnungen fich zu fügen, wie ja beides von
Innocenz X in Bezug auf den weftphälifchen Frieden
und von Pius VII in Bezug auf mehrere Bcftimmungen
des Wiener Congreffes gefchehen ift.

Leipzig. G. Baur.

Schulze, Prof. D. Ludw., Philipp Wackernagel nach feinem
Leben und Wirken für das deutfehe Volk und
die deutfehe Kirche. Ein Lebensbild. Mit einem
Bildnifs Wackernagel's (in Stahlft.). Leipzig 1879,
• DörfiTing & Franke. (XII, 316 S. gr. 8.) M. 6. -

Das deutfehe Volk empfängt in dem vorliegenden
Buch eine durchaus gediegene und gehaltvolle Gabe.
Dafs die Lebensgefchichte Philipp Wackernagel's feinem
Heimgang fo rafch gefolgt ift, haben wir dem Herausgeber
doppelt zu danken.

Die kerndeutfehe Natur Wackernagel's, bei welchem
fich fonft wohl im beften Sinne das Wort nil humani
bewährt hat, zeigt fich in feinem Leben vor allem darin,
dafs man dies Buch an vielen Stellen als ein Stück Gefchichte
deutfehen Volkslebens lieft. Nicht nur, dafs
in den verfchiedenen Lebensabfchnitten des feinen Mannes
fich Nord- und Süd- und Mitteldcutfchland begegnen
und in ihrem eigenartigen Gepräge uns vor Augen treten
: die ganze gefchichtliche Entwicklung unferes Volks
in diefem Jahrhundert fpiegelt fich in feinem Lebensgange
. Die Begeiftcrung der PYeiheitskricge wirkt noch
in feiner Jugendzeit nach, der Sturm der 48gcr Jahre
bewegt fein Mannesalter bis auf den Grund, und fein
Lebensabend ift verklärt durch den Triumph deutfeher
Kraft über den Erbfeind. Wackernagel's Biographie wird
fo ein fchöner Beitrag zur Zcitgefchichte. Die Zeichnung
des ,alten Vater Jahn', nicht nur in feiner Wirkung auf
Wackernagel, der ihm feine chriftliche Erweckung verdankte
, fondern in feiner Stellung zum damaligen
Deutfehthum überhaupt, ift eine hochintereffante. Die
Vorgefchichte des evangelifchen Kirchentags aber, welche
mit Wackernagel's Namen unzertrennlich verbunden ift,
wird von den Gefchichtfchreibern unferer Zeit nie umgangen
werden dürfen.

Wir verftchen den Reiz, den ein folchcr Lebensgang
auf den Biographen ausübt. Aber die Arbeit ift darum
doch keine leichte gewefen. Nicht fowohl deswegen,
weil der Vcrfaffcr feinen Helden nicht in längcrem persönlichen
Umgang kennen lernte, — hat fich doch Philipp
Wackernagel in feinen fchriftlichen Erzeugnifsen,
deren fo viele find, immer ganz und ungetheilt gegeben.
Auch nicht deswegen, weil in ihm, was in unferen Tagen
viel heifsen will, eine wahre universitas litcrarnm vereinigt
war, weil in feinem Geifte Natur- und Sprach-
wiffenfehaft, Pädagogik und Theologie aufs lebendigfte
in einander eingriffen, — auch diefer Vielfeitigkeit ift der
Biograph nach unferem Eindrucke vollkommen gerecht
geworden. Die gröfste Schwierigkeit war die pfychologi-
fche. Die ausgeprägtefte Männlichkeit und das zartefte
Kindesgemüth, ein Hingenommenfein von den höchften
Gedanken, welche ein Menfchenherz bewegen können,
und wieder eine Feinfühligkeit im Kleinftcn, die fich bis
zur reizbarften Empfindlichkeit fteigern konnte: diefe
merkwürdigen Gegenfätze in Wackernagel's Wefen machten
nicht nur im Leben da und dort Conflicte unvermeidlich
, fie mufsten auch der Lebensfchilderung grofse
Schwierigkeiten bereiten. Der Verfaffer hat mit denfelben
treulich gerungen; und fo weit wir aus der Ferne zu
urtheilen vermögen, fcheint ihm felbft in der Elberfelder
Frage die richtige Stellung und Darftellung gelungen
zu fein.

Haben folche Conflicte etwas Tragifches an fich, fo
fehen wir den Biographen mit defto gröfserem Genuffe
fich in den drei grofsen Gebieten der Lebensarbeit
Wackernagel's, wie in Luftgärten, ergehen.

Eingehend befchäftigt fich der Verfaffer mit den
naturwiffenfehaftlichen Leiftungen Wackernagel's, obwohl
diefelben meift nur Anfätze geblieben find. Seine kry-
ftallographifchen Arbeiten werden im Einzelnen gewürdigt
, feine Naturanfchauung wird im Grofsen gezeichnet.
Wunderbar tiefe Blicke in die Gestaltungen der Körper-