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Ausgabe:

1879 Nr. 9

Spalte:

207-211

Autor/Hrsg.:

Lipsius, Rich. Adelb.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. 2. Aufl 1879

Rezensent:

Nitzsch, Friedrich August Berthold

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207

Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 9.

208

Kritik gefällte Verwerfungsurtheil' (S. 165). Sonft enthält
er fich der Erläuterung felbft da, wo es dringender
wäre geboten gewefen. Nach den entfehiedenen Aeufser-
ungen H.'s (I, 222) gegen die Agende befremdet es, dafs
die neue Kirchenzeitung jede Parteinahme im Liturgie- !
flreit ablehnte, wie es fcheint, kein Beweis von Zeugen-
muth. Allein nach der Lage der Dinge war jedes Auf- I
treten gegen die Agende gleichbedeutend mit fofortiger l
Unterdrückung des Blattes, eine Parteinahme dafür
jedoch mit fofortigem Verluft aller Abonnenten gerade
in den Kreifen, für welche es berechnet war. Ueber-
dies hing ja die Entfcheidung nicht von freier Dis- j
cuffion ab, fondern mehr von der ratio ultima. Wunderlich
berührt es, dafs der Verf. nicht feiten die jungfräuliche
Schüchternheit' feines Helden hervorhebt, während
fchon damals alle feine mitgetheilten Aeufserungen
bezeugen, dafs er fich den gereifteften Männern völlig
ebenbürtig gefühlt habe. Auch das fpätere perfönliche l
Auftreten des Mannes liefs jenen Jugendfehler am we-
nigften vermuthen, eher das Gegentheil. Im Nov. 1828 :
erbittet er fich von Tübingen das theologifche Doctor-
diplom: er erhält es mit der Unterfchrift des dama- j
ligen Decans — Ferd. Chrift. Baur.

Tübingen. L. Dieftel.

1. Lipsius, Dr. Rieh. Adelb., Dogmatische Beiträge zur

Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs.
[Aus: Jahrbb. für proteftant. Theol.'j Leipzig 1878,
Barth. (V, 215 S. gr. 8.) M. 3. —

2. Lipsius, Kirchenr. Prof. Dr. Rieh. Adelb., Lehrbuch
der evangelisch - protestantischen Dogmatik. 2. Aufl.
Braunfchweig 1879, Schwetfchke & Sohn. (X, 863
S. gr. 8.) M. 12. 80.

Lipfius' zuerft i. J. 1876 erfchienenes .Lehrbuch der
ev. - proteft. Dogmatik' hatte neben einer Reihe von '
kürzeren Recenfionen namentlich von zwei Seiten her
eine ausführlichere Beurtheilung erfahren. Einerfeits hatte
der Hallifche Licentiat W. Herr mann (in den Theol.
Stud. u. Krit. 1877, andererfeits Biedermann (in
der Proteft. Kirchenzeit. 1877, No. 2—6) eine eingehende
Anzeige veröffentlicht. Mit Beiden hat der Verfaffer
in feiner Replik in den Jahrbb. für proteft. Theologie
(1878, I —IV) fich gründlich auseinandergefetzt; und die
,Dogm. Beiträge' enthalten eine Zufammenftcllung der
(abgefehen von einer einzigen jetzt weggefallenen Note)
unveränderten in der genannten Zeitfchrift niedergelegten
Abhandlungen zu einem befonderen kleinen Buche.

Im erften Artikel (S. 1—125) wird hier gegenüber
Ritfehl und der Schule desfelben 1. über den Begriff
der Religion, 2. über die wiffenfehaftliche Aufgabe der
Dogmatik, 3. über die Pfychologie der Religion, 4. über 1
die Offenbarung, 5. über die religiofe Bilderfprache, 6.
über den Gottesbegriff, 7. endlich über die Chriftologie
gehandelt, im zweiten fodann (S. 126—215) gegenüber
Biedermann und der fpeculativen Schule 1. über das
metaphyfifche Problem, 2. über das religionsphilofo- i
phifche Problem, 3. über das religiöfe Myfterium, 4. über
die Erkennbarkeit Gottes.

I. Der Religionsbegriff des Verf. ftimmt mit dem
Ritfchl'fchen darin überein, dafs auch er in der Religion
die Befriedigung eines praktifchen Bedürfnifses des Men-
fchengeiftes erkennt, welches fich aus dem Contrafte zwi-
fchen feiner Abhängigkeit von der Welt oder feinem Verflochtenfein
in den Naturmechanismus und feinem Freiheitstriebe
oder feinem Streben nach Selbftbehauptung
gegenüber der Naturgcwalt nothwendig ergiebt. Aber
Lipfius will einmal nicht mit R. die Religion ohne Weiteres
als Weltanfchauung unter der Idee Gottes und
als Selbftbeurtheilung aus der Abhängigkeit von Gott ,
im Verhältnifs zur Welt definiren (S. 10), vielmehr handle

es fich erft auf Grund des Verhältnifses Gottes zu
dem Menfchen und des Menfchen zu Gott um
eine Anfchauung der Welt und der Stellung des Menfchen
zu ihr, in erfter Linie aber um die Sicherftellung
des perfönlichen Wohles oder Heiles in der irgendwie
vorgeftellten Gemeinfchaft mit Gott. Wenn ferner Ritfehl
die Religion wefentlich deshalb für nothwendig erklärt,
weil der Menfch nur auf Gott geftützt feine fittliche
Beftimmung als Selbflzweck der Natur gegenüber aufrechterhalten
könne, fo entgegnet Lipfius, mit diefer
einfeitig ethifch- teleologifchen Paffung fei einerfeits die
religiöfe Lebensanficht des Chriftenthums nicht er-
fchöpft, andrerfeits das Grundwefen aller, auch der vor-
und aufserchriftlichen Religiofität nicht richtig bezeichnet
, da die erften religiöfen Regungen vielmehr dem
praktifchen Bedürfnifse des Menfchengeiftes entfprungen
feien, fich gegenüber den feindlichen Naturgewalten zu
fchützen. Namentlich im Chriftenthum fei, obgleich
dasfelbe nach einer anderen Seite hin als die abfohlt
fittliche Religion zu gelten habe, gerade die Anerkennung
eines perfönlichen Verhältnifses des Menfchen
zu Gott (einerfeits ein Innewerden unferer Abhängigkeit
von Gott, andererfeits ein Act innerer Erhebung des
Menfchen zu Gott), kurz die myftifche Seite die Hauptfache
, wie fich dies in den wefentlichen Thatfachcn der
unmittelbaren inneren Erfahrung zeige, und zwar nicht
nur in der bedeutungsvollen Lehre von dem testitnomum
Spiritus saneti internum, von der unio mystica, überhaupt
von der unmittelbaren Gegenwart des Geiftes Gottes
in dem frommen Subject, fondern auch fpeciell in der
Bedeutung der Liebe Gottes als der im Gemüths-
leben der Menfchen fich auffchliefsenden verföhnenden
und ihrer Gemeinfchaft mit Gott fie verfichernden Gotteskraft
, an deren Stelle nicht lediglich eine zweckfetzende,
äufserlich gefchichtlich offenbarte göttliche Willensnorm
gefetzt werden könne.

Im 2. Hauptftück hält der Verf. feine Anficht über
den Sinn und das Mafs aufrecht, in welchem die Dogmatik
eine flreng wiffenfehaftliche Haltung gewinnen
könne und muffe, und weift nach, dafs fich die
Ritfehl'fche Schule, bezichungsweife R. felbft, in diefer
Hinficht einer Inconfequenz fowie eines zu viel und eines
zu wenig fchuldig macht. Gegenüber der Anficht Herr-
mann's, die in dem monftröfen Satze gipfelt, für die Er-
fchwerung oder Erleichterung der religiöfen Aufgabe
mache es gar nichts aus, ob die Metaphyfik, welcher
der Chrift folge, materialiftifch oder idealiftifch gerichtet
fei, weilt er nach, dafs die Dogmatik als Wiffenfchaft
nicht umhin könne, fich mit der Wiffenfchaft überhaupt
auseinanderzufetzen und ihre Sätze wenigftens im Einklang
mit den Thatfachen aller wiffcnfchaftlich generierten
Erfahrung zu entwickeln, dafs es alfo ungenügend
fei, wenn fie die Giltigkcit ihrer Sätze lediglich
für eine beftimmte ,von einem concreten fittlichen Ideale
beherrfchte' Gemeinfchaft erweife. Will er fomit allen
Widerfpruch gegen anderweitige geficherte Refultate
der wiffenfehaftlichen Forfchung vermieden wiffen, fo
leugnet er damit nicht, dafs der Vernich, die dogma-
tifchen Ausfagen als objectiv oder allgemein giltige zu
erweifen, immer nur annäherungsweife gelingen könne,
und erkennt an, dafs die Dogmatik über das überzeitliche
und überräumliche Sein anders als in Bildern und
Gleichnifsen nicht zu reden vermöge. Ja, während Ritfehl
einerfeits die H.'fche Trennung des dogmatifchen Gebietes
von dem metaphyfifchen und pfychologifchen
begünftigt und fich im Wefentlichen mit der Aufzeigung
des praktifch religiöfen Werthes der verfchiedenen dogmatifchen
Ausfagen begnügt, andererfeits aber dennoch
felbft den Anfpruch erhebt, feinem Syftcm eine theo-
retifch allgemeingiltige Grundlage gegeben, die Gefetze
unferes geiftigen Lebens wiffenfehaftlich hinlänglich feft-
geftellt und mindeftens die wiffenfehaftliche Noth-
wendigkeit des Gottesgedankens nachgewiefen zu