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Ausgabe:

1879

Spalte:

205-207

Autor/Hrsg.:

Bachmann, Johs.

Titel/Untertitel:

Ernst Wilhelm Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten und ungedruckten Quellen dargestellt. 2. Bd. 1. Hälfte 1879

Rezensent:

Diestel, Ludwig

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 9.

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blicken. ,Das Chriftenthum fcheint fortan eine ähnliche
Stellung zu den im Volks- und Staatsleben herrfchenden
Mächten erhalten zu follen, wie die im vorkonftantini-
fchen Zeitalter von ihm eingenommene war. Nur als
beftenfalls geduldete, nicht als mit dem nationalen Leben
unmittelbar verwachfene und dasfelbe beherrfchende
geiftigc Macht foll die Religion Chrifti fortbeftehen'
(S. 325) — ein Prognoftikon, in welchem der grofse Un-
terfchied zwifchen Kirchengewalt und chriftlichem Geifte
doch zu wenig in Rechnung gezogen ift. Dagegen hält
der Verf. die myftifch-fymbolifche und theofophifche Na-
turtheologie ,für noch fehr bedeutender und fegenbringender
Vervollkommnungen fähig'; die peffimiftifche
Zweckleugnung werde ,kaum anders als durch Entwickel-
ung einer myftifch-fymbolifchen Naturanficht im vollen
Umfange der durch die h. Schrift dargebotenen Linea-
mente zu heilen und zu überwinden fein' (S. 469), wie
er denn auch fich noch heute zu der in feiner Theolo-
gta naturalis (1859) ausgeführten Naturanficht voll bekennt
. Ueber die bizarre Combination von Kuenen's
Behandlungsweife der altteftamentlichen Religionsge-
fchichte mit dem Darwinismus mag den Verf. fein College
J. Wellhaufen wohl weiter aufklären. — Wer an
diefen und ähnlichen Urtheilen keinen Anftofs nimmt,
wird in dem intereffanten und überaus fleifsigen Buche
reiche Belehrung finden. Die Literaturangaben find,
foweit ich fie geprüft habe, faft durchweg correct. S.
246 mufs es zweimal ,Dieterich' ftatt Dietrich heifsen;
auch heifstderMünchener Orientalin Trumpp, nicht Trump
(S. 682. 816). Das S. 733 erwähnte Steinheim liegt nicht
bei Würzb urg, fondern unweit Heidenheim in Württemberg
. Das meift fade Gewitzel über den Darwinismus
zu buchen (S. 691 ff.) wäre nicht nöthig gewefen.

Tübingen. L. Dieftel.

Bach mann, Prof. Univ.-Pred. Dr. Jobs., Ernst Wilhelm
Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten
und ungedruckten Quellen dargeftellt. 2. Bd. I.
Hälfte. Gütersloh 1879, Bertelsmann. (173 u. 16 S.
gr. 8.) M. 3- -
Die vorliegende, nach dreijähriger Paufe erfchienene
Fortfetzung der Biographie fchildert einen der wichtigften
Abfchnitte im Leben Hengftenberg's, ,das Feftwurzeln in
Berlin' 1826—1829 in vierCapiteln: ,Bräutigam'sFreud'und
Leid', ,Dic Anfänge der evangelifchen Kirchenzeitung',,Ordinariat
. Hochzeit', ,Theologifche Anfchauung u. Arbeit'.
Darin mag die Urfache liegen, dafs erft ein Stück des
zweiten Bandes ausgegeben wird. Wenn die ausführlichen
Mittheilungen im erften und dritten Capitel wohl
nur den perfönlichen Freunden und Schülern H.'s In-
tereffe abgewinnen werden, fo läfst fich dies dadurch
c ntfchuldigen, dafs diefe den eigentlichen Leferkreis des
Buches bilden. Gleichwohl tragen fie Manches dazu
bei, den Mann in feinem individuellen Denken und Empfinden
näher zu beleuchten. Was feine akademifche
Stellung betrifft, fo warH., nachdem er erft April 1825 fich
habilitirt hatte, bereits im Januar 1826 zum aufserordent-
lichen Profeffor ernannt worden; eine Befoldung erhielt
er im December 1826; fchon im November 1828 wird
er Ordinarius in Berlin. Bezeichnend ift, dafs wir trotz
diefer ungemein fchnellcn Beförderung niemals einem
Ausdrucke voller Befriedigung und des Dankes begegnen
. Die fehr dankenswerthen Mittheilungen wichtiger
Actenftücke eröffnen uns einen klaren Einblick in die
Anficht des Minifters Altenftein. Derfelbe fchätzt die
wiffenfchaftliche Kraft des Mannes; allein er fucht ihn
auf alle Weife von Berlin zu entfernen, zuerft nach
Königsberg, dann nach Bonn. Während H. felbft fich
mehr und mehr als kirchliches Parteihaupt fühlt und
darin feinen eigentlichen Lebensberuf erblickt, fieht der
Minifter in feiner journaliftilchen Thätigkeit eine ftarke

Hemmung feiner wiffenfchaftlichen Entwickelung und
will ihn darum den pietiftifchen Kreifen Berlins entziehen,
i Das gegebene Material läfst deutlich wahrnehmen, dafs
der junge kaum fünfundzwanzigjährige Mann durch feine
Rührigkeit, Entfchiedenheit und Energie bald ein hoch
geachteter Mittelpunkt der pietiftifchen, damals jugendkräftigen
Strömung wurde. Altenftein hat nur darin
geirrt, dafs er H. gleichfam als Opfer und halb gezwungenes
Werkzeug diefer Partei anfah, während er fehr
bald als das Haupt auftritt, welches der Partei eine
wefentlich veränderte Haltung giebt; erft durch ihn wird
| die religiöfe Strömung zur feften kirchlichen Partei. Die
daraus fich ergebenden nothwendigen Conflicte mit den
! alten Freunden, die ihn bisher gehoben hatten, treten noch
nicht hervor, zeigen fich jedoch bereits im Hintergrunde.
Seiner Ernennung zum Ordinarius ging ein Ruf nach
Glauchau vorher. Da nun Bleek für Bonn ernannt war,
fo handelte es fich nur darum, H. in Berlin zu halten,
zumal die de Wette'fche Stelle noch nicht wieder be-
j fetzt war. Ueberdies reichte er einen Theil der Chrifto-
logie als specialen doctrinae ein. Den Widerftand des Minifters
Rheinen am meinen die Bemühungen des damaligen
Kronprinzen (mehr allmählich als plötzlich) befeitigt
zu haben. — Der Gedanke, eine pofitiv-kirchliche Zeit-
1 fchrift zu gründen, befchäftigte übrigens die frommen
j Kreife der Hauptftadt fchon längere Zeit; aus H.'s Ini-
j tiative ift er nicht hervorgegangen. ,Der Unglaube
(heifst es in der dem Minifter überreichten Anzeige) hat
fich überlebt; das religiöfe Bedürfnifs ift allgemein er-
1 wacht; man fühlt, dafs die Vernunftreligion nicht leiften
kann, was fie verfpricht; man will feften Grund und
Boden, Troft im Leben und im Tode und empfindet die
Nothwendigkeit einer Offenbarung. Aber viele von den
j redlich Suchenden werden irre gemacht durch das be-
ftändige Gefchrei über Myfticismus, Pietismus und Separatismus
, mit denen die Ungläubigen ihrem Intereffe
gemäfs den entfehiedenen Glauben an die göttliche
I Offenbarung zu vermengen ftreben'. Jener Glaube an
| die Offenbarung erfcheint als identifch mit dem ,an die
fefte kirchliche Tradition'. Die intereffanten Randbemerkungen
Altenftein's charakterifiren die damalige Situation
fehr anfehaulich und verrathen einen Scharfblick,
den man diefem Minifter fonft nicht zuzutrauen pflegt.
Auch fonft weift der Biograph nach, dafs H. den Begriff
der Kirche als einer äufseren, durch ftrenge Einheit
1 der Lehre und des Glaubens zufammengehaltenen Gemein-
fchaft wieder energifch betont hat. Bekanntlich liegt derfelbe
feiner ganzen Anfchauung zu Grunde und mufste ihn
| nothwendig fpäter zum Gegner derUnion und zum Wächter
ftrenger Confeffionalität machen. Sehr bezeichnend ift
die zweifellos richtige Bemerkung des Verf.'s S. 157:
,Melanchthon hat ihm nächft der heiligen Schrift das
Meifte gewährt (f. I, 158)'. Nicht minder charakteriftifch
I ift es. dafs wir wohl über feine Arbeit an Vorlefungen
und Schriften viele Mittheilungen erhalten, aber niemals
auch nur die Andeutung, dafs ihm die doppelte Anforderung
wiffenfehaftlicher Forfchung und Wahrung des
Glaubens je den leifeften Scrupel bereitet hätte, wie diefe
Diffonanz fich bekanntlich durch die Aeufserungen von
im Ganzen gleichgerichteten Zeitgenoffen wie ein rother
Faden hindurchzieht. Man bekommt den Eindruck, als
wenn die Wiederherftellung der kirchlichen Tradition
z. B. der fog. Chriftologie im A. T. für ihn lediglich
1 eine Sache technifcher Leiftung gewefen fei. Leider
[ müffen wir uns die Mittheilung vieler fehr charakterifti-
fcher Aeufserungen verfagen, wie z. B. über Altenftein
(S. 108): ,es mag vielleicht beffer fein, dafs er an
! der Spitze fleht als ein ganz entfehiedener Chrift; denn
j dann könnte leicht die Heuchelei fehr überhand nehmen'.
| Der Verf. vertheidigt feinen Helden gegen Calvinismus und
j bemüht fich zu zeigen, der Pietismus fei für ihn nurDurch-
1 gangsphafe gewefen. Die Anficht von der exil. Abfaffung
I von Jef. 40—66 bezeichnet er als ,das von rationaliftifcher