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Ausgabe:

1879

Spalte:

186-187

Autor/Hrsg.:

Gareis, Carl

Titel/Untertitel:

Staat und Kirche in der Schweiz. Eine Darstellung des eidgenössischen und kantonalen Kirchenstaatsrechts mit besonderer Rücksicht auf die neuere Rechtsentwickelung und die heutigen Conflicte zwischen

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifclie Literaturzeitung. 1879. Nr. 8.

186

mifsbräuchliche Anwendung der fo häufig zur Unter-
ftützung der gefetzlichen Anfchauung verwendeten Stelle:
Matth. 5 j 17—20 aus. Wenn aber der Verf. in diefem
Zufammcnhang denen, welche den Sonntag und mit ihm
die Ehe als urfprüngliche göttliche Stiftungen anfehen,
u. A. die Meinung unterlegt, dafs die Ehe nach ihrer
Anfchauung eine für alle Menfchen verbindliche Gottesordnung
fei, fo fcheint uns dies thatfächlich nicht begründet
zu fein. Auch fchliefst die evangelifcheAnfchauung
vom Sonntag gewifs nicht aus, denfelben zwar nicht
als eine gefetzliche, für das Heil des Menfchen verbindliche
Ordnung, aber doch in gewiffem Sinne als eine
urfprüngliche Gottesordnung anzufehen, als ein göttlich
fanetionirtes Grundrecht des Menfchen, der cbenfo
phyfifch, als ethifch und religiös auf den Sonntag angelegt
ift, und der Verf. felbft erkennt dies an, wenn er
gelegentlich der Darlegung der Anfchauung der alten
Kirche vom Sonntag in Uebercinftimmung mit derfelben
den ewigen Kern, die göttliche Idee in dem Sabbaths-
gebot hervorhebt. ,Was für die Juden', fagt er, ,eine
Satzung für die äufsere Geftaltung des Lebens war, das
bleibt für alle Zeiten ein der Deutung bedürftiges Zeichen
des göttlichen Willens. Es bezeugt eine Forderung
Gottes, welche alle Menfchen angeht, und eine Ver-
heifsung für die, welche Gottes Willen thun'. Zu vergleichen
ift damit die Stelle, in welcher der Verf. Cal-
vin's Stellung zu der Sonntagsn-age) die im Wefentlichen
diefelbe gewefen fei, als diejenige Luther's und Melanch-
thon's, entwickelt, und behauptet, dafs derfelbe diefen
proteftantifchen Standpunkt auch dann nicht verleugnet
habe, als er im Gegenfatz zu revolutionären Beftrebungen
eine innere Beziehung zwifchen dem Sabbathgebot und
dem chriftlichen Gottesdicnft herzuftellen gefucht.

Dafs mit der gefetzlichen Auffaffung des Sonntags
die herrfchendeSonntagsenthciligung nicht zu überwinden
und die der Kirche entfremdeten Maffen auf folchem
Wege nicht zu ihr zurückzuführen find, darin ift dem
Verf. nur beizuftimmen. Durch Geltendmachung des gefetzlichen
Standpunktes, wie er unter der Hcrrfchaft des
Territorialismus bis zur völligen Verleugnung der evan-
gelifchen Freiheit und dem entfehiedenen Rückfall in
jüdifches und römifches Wefen fich entwickelt hat, ift
eine grofse Verwirrung der Begriffe über die erften
evangelifchen Grundanfchauungen im Volke herbeigeführt
worden, und hat infonderheit die Kirche für weite
Kreife einen Geruch von Polizei bekommen, der ihr unendlich
gefchadet hat. Der reformatorifche Standpunkt,
welchem das 3. Gebot, wie der Verf. fehr richtig fagt,
mit der Pflicht der Liebe zu Gottes Wort und zu feiner
Gemeinde zufammcnfällt und welchem Luther im Katechismus
in feiner Erklärung des Gebots einen cbenfo
evangelifch-freien, als weife befonnenen Ausdruck gegeben
, hat fich auch praktifch am meiften bewährt.

Sicher ift bei der Behandlung der Sonntagsfrage
gegenüber dem Volk und der Gemeinde bei der bisherigen
Tradition mit befonderer Vorficht zu Werke zu
gehen, um dem antinomiftifchen Zug der Zeit keine Nahrung
zu geben; nur ift die gefetzliche Anfchauung nicht
fowohl durch direetc Polemik, als indirect durch
Weckung der Liebe zu Gottes Wort und des Verftand-
nifses für die Wohlthaten und Segnungen des Sonntags
und die 1 lerrlichkeit des wahren Gottesdicnftes, mit
einem Wort durch warme Verkündigung der evangelifchen
Sonntagsanfchauung felbft von Innen heraus zu
überwinden.

Wenn fchliefslich der Verf. ein freundliches Zufam-
menwirken Derer, welche aus humanen, und Derer,
welche aus eigenthümlich-chriftlichen Gründen eine Hebung
der Sonntagsfeier anftreben, empfiehlt, fo ift dies
vom Standpunkt chriftlicher Klugheit wohl gerathen,
zumal die Hoffnung nicht unbegründet erfcheint, dafs
auf folchem Wege Jene allmählich mehr für den Standpunkt
Diefer gewonnen werden, als auf dem entgegengefetzten
Weg. Dazu hat der Sonntag nicht blofs ein
religiöfes, fondern, wie gerade neuerdings immer mehr
zur Anerkennung kommt, ein allgemein menfchliches
Intcreffe, das mit jenem im letzten Grund eng verwach-
fen ift.

Wir wünfehen dem trefflichen Vortrag, der eins der
bedeutendften Vota in der Sonntagsfrage ift, und das
Licht evangelifcher Klarheit in diefelbe bringt, diejenige
Aufmcrkfamkeit und unbefangene Würdigung beim theo-
logifchen Publicum, die er verdient.

Dresden. Meier.

Gareis, Carl, u. Phpp. Zorn, Proff. DD., Staat und
Kirche in der Schweiz. Eine Darfteilung des eidge-
nöffifchen und kantonalen Kirchenftaatsrechtes mit
befonderer Rückficht auf die neuere Rechtsentwickelung
und die heutigen Conflicte zwifchen Staat
und Kirche. 2. Bd. Mit 2 (chromolith.) Kärtchen,
Zürich 1878, Orell, Füfsli & Co. (260 u. XCVII S.
gr. 8.) M. 10. —

Der vorliegende zweite Band, mit welchem das Werk
von Gareis und Zorn (vgl. Theol. Lit.-Ztg. 1878, Nr. 4)
zum Abfchlufs kommt, bringt zunächft das fehweizeri-
fche Kirchenftaatsrecht, foweit es allgemeiner, über die
Kantonsgrenzen hinausgreifender Natur ift, zur Darfteilung
und zwar im 3. Abfchnitt (,die Bisthümer') das
katholifchc, fodann (Abfchn. 4) das, was in Bezug auf
die evangelifche Kirche von ,interkantonalen' Normen
vorhanden ift; im letzten Abfchnitt endlich wird die
Rechtslage der Freikirchen behandelt. Der Löwcnantheil
fällt dem Abfchnitt über die katholifchc Kirche zu. Es
ift ein vielfach intereffantes und lehrreiches, doch keineswegs
erquickliches Bild, das uns hier geboten wird: der
Kampf um Sein oder Nichtfein zwifchen der römifchen
Kirche und dem modernen Rechtsftaate ift wohl nirgends
mit der principiellen Schärfe und Unverföhnlichkeit im
Gang wie in der Schweiz. Abgefehen von wenigen Kantonen
, die fich den mittelalterlich katholifchen Charakter
noch ungetrübt bewahrt haben, überall die äufserfte
Verwirrung: proviforifche, blofs thatfächliche Vcrhhltnifse,
diametral fich entgegenftchende Anfprüche, offener Kriegs-
zuftand. Auch was in früheren Jahrzehenten unter fchwe-
ren Mühen zu Stande gekommen war, wie der Bafeler
Bisthumsvertrag, ift unter den Stürmen der jüngften
Zeit wieder zufammengeftürzt, die Ausficht auf eine befriedigende
Neuordnung in unabfehbare Ferne gerückt;
und dort, wo der Conflict noch nicht zum Ausbruch
gekommen ift, wie im Bisthum St. Gallen, fehlen wenig-
ftens nicht . principielle Vorbehalte und Anfprüche von
beiden Seiten, welche die Keime zu gleichen Verwickelungen
wie anderwärts in fich bergen. Was überall die
Stärke der Curie im Kampfe mit den Staaten bildet,
das tritt auch hier in fignificantcr Weife hervor, die bc-
wufste Klarheit des Zieles, die logifche Confequenz in
der Behauptung des Principes, die zähe Beharrlichkeit
und kluge Benutzung der Ümftände: Rom vergiebt fich
nichts und es kann warten; auf der anderen Seite dagegen
, und nicht zum Wenigften feitdem die liberale
Richtung die Staatsleitung beherrfcht, recht viel Zerfahrenheit
, Kurzfichtigkeit, gewaltfames Zufahren, überhaupt
ein unverkennbarer Mangel an Einficht in die
tiefere Natur deffen, um was es fich handelt. — Neben
dem bedeutenden Umfang des 3. Abfchnittes (S. 1—224)
ift die knappe Kürze des vierten gleichfalls kennzeichnend
: was von Anfätzen zu einer organifchen Zufammen-
faffung der evangelifchen Landeskirchen zu berichten
war, erforderte nicht mehr als drei Seiten. — Mit unverkennbarer
Vorliebe find fchliefslich die Freikirchen
behandelt. Intereffant ift die ftatiftifchc Ueberficht S. 229f.,
welche zur Darfteilung bringt, welche Religionsgemein-
fchaften in den verfchiedenen Kantonen den Charakter