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Ausgabe:

1878 Nr. 7

Spalte:

172-173

Autor/Hrsg.:

Funcke, O.

Titel/Untertitel:

St. Paulus zu Wasser und zu Land. 2. unveränd. Aufl 1878

Rezensent:

Lindenberg, H.

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 7.

172

chen Wefens doch nicht fo gemeint fei, als ob nun
überhaupt Nichts über Gott auszufagen wäre. Freilich
ftofsen wir mit unferm Denken überall auf Widerfprüche,
wo wir uns Gott als Perfönlichkeit vorftellen wollen.
Der Pantheismus und der Materialismus befriedigen aber
weder unfern Verftand noch unfer Plerzensbedürfnifs.
Mit den alten fogenannten Beweifen für das Dafein
Gottes richten wir gegen die Gottesleugner Nichts aus.
Der Gottesglaube ift eine Forderung unferes über
die Abhängigkeit von der Natur hinausftrebenden
Freiheitsgefühles und aus pfychologifcher Nothwendig-
keit zu erweifen. Sobald er fich in Worte kleidet, mufs
er fich bildlicher Bezeichnungen bedienen. ,Gott ift erkennbar
, fo weit er fich offenbart, erkennbar aus den
innern Vorgängen und Thatfachen des religiöfen Lebens
felbft, in denen der Fromme unmittelbar das gegenwärtige
Walten Gottes erfährt'.

Von einem populären Vortrage wird man nicht die
Löfung aller einfchlagenden wiffenfchaftlichen Probleme
verlangen. Lipfius hat das dogmengefchichtliche Material
gerade fo weit herangezogen, als nothwendig war,
um die Zuhörer zu orientiren, und mit richtigem Ver-
ftändnifs auf den Punkt hingewiefen, wo der Gottesglaube
immer wieder neu entfteht. Es ift dies auch ein
Beweis für das Dafein Gottes , nur in der modernen
Wendung, dafs nicht direct objectiv diefes Dafein, fondern
vielmehr das gute Recht unfres Glaubens bewiefen
wird. Ganz überzeugend würde aber die Beweisführung
für Jemanden, dem unglücklicher Weife Feuerbach's
Illufionstheorie einfiele, doch erft dann werden, wenn
neben der pfychologifchen Begründung auch noch die
von Lipfius zurückgeftellte logifche Nöthigung zum Gottesglauben
ftärker betont würde.

Die eigenthümliche Schwierigkeit, populäre Vorträge
von Gelehrten, welche das Refultat ihres Forfchens und
ihres Denkens in fo uneigennütziger Art preisgeben, zu
recenfiren, tritt fehr ftark dem Recenfenten bei dem
zweiten diefer Vorträge, bei dem Vortrage von Prof.
H. Schultz über den chriftlichen Glauben an Jefus und
die gefchichtliche Frage des Lebens Jefu entgegen. Man
möchte fich fortwährend über die einzelnen Behauptungen
mit dem Vortragenden au^einanderfetzen, diefe und
jene Thefe angreifen, für diefen und jenen Ausfpruch
den Beweis discutiren. Ueberall weht Einem ein eben
fo frommer als wiffenfchaftlicher Geift entgegen; aber
es bleiben noch Bedenken zu erledigen. Aus verfchie-
denen Abhandlungen find des Verfaffers Anflehten über
den Unterfchied zwifchen dem gefchichtlichen Jefus und
dem zu glaubenden Chriftus bekannt. Es wird einer gründlicheren
Ausführung bedürfen, um uns zu überzeugen,
dafs zwifchen diefer Anficht und der Kantifchen ein
wefentlicher Unterfchied beftehe. Aber feffelnd weifs
Schultz immer zu fchreiben, und vor Allem ergreift uns
bei feinen Erörterungen ein vom Autor felbft auf uns
übergehendes Gefühl der Liebe und Verehrung für den
Meifter, der zu unferem Heile es durch perfönliche fitt-
liche Arbeit errungen hat, nicht blofs Jefus, fondern der
Chriftus zu fein.

Der dritte Vortrag, von Prof. Koehler in Friedberg
über Reich Gottes und Kirche, greift unmittelbar in die
Bewegungen der Gegenwart hinein, hält denfelben aber
ein Ideal entgegen, an dem fie fich orientiren tollen.
Ich kann in allem Wefentlichen nur meine Ueberein-
ftimmung mit diefem Vortrage ausfprechen, der mir
gerade deswegen fo fympathilch ift, weil er mit folcher
Frifche das Ideal als folches der Gegenwart vorhält.
Mit unumwölktem Sinn für die Realitäten des Lebens
doch das Ideal hoch halten, ift recht eigentlich die
Aufgabe des praktifchen Theologen, und diefer Aufgabe
kommt Prof. Koehler in fchönfter Weife entgegen.

Wenn man die drei Vorträge gelefen hat, fo wird
man die Warnung, den einen Verfaffer für die Anflehten der
andern nicht verantwortlich zu machen, die in der Vorrede
fteht, doch etwas überfiüffig finden. Es find drei
fehr ausgeprägte Individualitäten, die uns ihr Herz zeigen,
jede fehr verfchieden von der andern. Aber Alles, was
fie fagen, athmet Ueberzeugung und legt Zeugnifs ab
von eignem Denken, und wer ein Herz hat für das
Chriftenthum, wird fich fagen: es fteht noch gut um
eine Gottes- und Weltanficht, welche folche Apologeten
befitzt.

Strafsburg i. E. A. Kraufs.

Funcke, Paft. O., St. Paulus zu Wasser und zu Land.

2. unveränd. Aufl. Bremen 1877, Müller. (XXIV,
426 S. 8.) M. 4. —

Es erfcheint auf den erften Blick als ein kühnes
Wagnifs, an den knappen, zum Theil trockenen Reifebericht
des Lukas Act. 27 und 28 eine Reihe von erbaulichen
, anregenden Betrachtungen anknüpfen zu wollen
, die einen ftattlichen Band von 426 Seiten füllen.
Dem aus den ,Reifebildern' bereits bekannten Phantafie-
reichthum und der Leichtigkeit der Ideenaffociation des
Verf.'s ift es gelungen, ohne dafs man fagen könnte, es
werde dem Lefer ein x für ein u gemacht. Die Homiletik
freilich dürfte in grofse Verlegenheit gerathen,
wenn fie diefe Art der Behandlung von Schrifttexten
claffificiren wollte, aber damit ift ihre Berechtigung noch
keineswegs in Abrede geftellt. Mit lebhafter Anfchau-
ungsgabe verfetzt fich der Verf. in die jedesmalige Situation
hinein und fpinnt, irgend einen oft nur nebenfächlichen
Umftand ergreifend, feine Betrachtung fo lange
fort, bis fie ihn auf Gegenftände führt, die eine prak-
tifche Verwerthung zulaffen. So giebt z. B. die Ausfahrt
des Schiffes in die offene See hinaus (27, 2) ihm Ver-
anlaffung zu einer Betrachtung über das Verhältnifs des
Chriften zur Natur; an die Worte: ,Ariftarchus war mit
uns' knüpfen fich Gedanken über chriftliche PYeundfchaft,
der Verkehr des Paulus mit den Chriften von Sidon
(27, 3) giebt Gelegenheit, über, den Segen chriftl. Gemein-
fchaft zu reden, das Panier der Zwillinge (28, 11) erinnert
ihn an die Bedeutung chriftlicher Symbole; der Umftand,
dafs Paulus in Rom zuerft an die Juden fich wendet
(28, 14), führt auf eine Betrachtung über Nationalität
und Patriotismus ; an die Briefe aus dem Gefängnifs
fchliefsen fich Bemerkungen über Correfpondenz vom
fittlichen Gefichtspunkt aus. So kommt im Laufe der
Darfteilung eine grofse Reihe von Capiteln der praktifchen
Ethik zur Sprache, die durch Beifpiele aus dem
Leben erläutert werden. Dafs die Anknüpfung hie und
da etwas kühn ift, foll nicht geleugnet werden. Von
dem an der Küfte von Malta zerfchellenden Schiff mit
einer Zeile auf die in Trümmer gehende Paftorenkirche
zu kommen, bedarf es fchon eines gewagten Salto mortale
. Und wenn an Cap. 27, 9—20 eine Betrachtung über
die göttliche Weltregierung auch im Kleinen angeknüpft
und mit mehrfachen Beifpielen erläutert wird, fo erwacht
j in dem Lefer der Verdacht, der Verf. habe in dem Gefühl
, dafs auch die glänzendfte Phantafie nicht Alles an-
fchaulich auszumalen im Stande ift, — eines Lücken-
büfsers bedurft. Wie man aber auch über die Art der
Anknüpfung urtheilen mag, durch das ganze Buch weht
ein frifcher, gefunder, wohlthuender Geift. Der Verf.
vereinigt chriftliche Entfchiedenheit mit einem unbefangenen
, unparteiifchen Urtheil und einem offenen Blick
für alle Erfcheinungen des Lebens. Er fchont weder
die Schwächen derer, die mit ihm auf wefentlich gleichem
Grunde flehen (S. 248. 276. 289 etc.), noch verkennt er
das Gute, wo er es an Andersgefinnten findet (S. 249.
295. 323 etc.). Sein ceierum censeo: das Chriftenthum
ift Let>en und Handeln, wird in immer neuen Variationen
durchgeführt, und der leichte Confervationston, der einen
Scherz am rechten Orte nicht verfchmäht, verhindert nicht,
dafs nicht der Lefer oft plötzlich mit einer kurzen über-
rafchenden Wendung auf eine ernfte fittliche Forderung