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Ausgabe:

1878

Spalte:

115-120

Autor/Hrsg.:

Dieckhoff, A. Wilh.

Titel/Untertitel:

Die kirchliche Trauung, ihre Geschichte im Zusammenhange mit der Entwickelung des Eheschliessungsrechts und ihr Verhältnis zur Civilehe 1878

Rezensent:

Köhler, Karl

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ii5 Theölogifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 5. 116

feine eigene Anficht, gegen die Ref. nichts Erhebliches
einzuwenden findet, im Wefentlichen folgendermafsen
aus: das fchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ftellt fich
mit naturgefetzlicher Notwendigkeit ein. Glaube und
Anbetung Gottes find jedoch ethifche Factoren, zu
deren Ausübung in der abfoluten Abhängigkeit nur der
Anlafs, nicht die Nöthigung gegeben ift, und deren be-
ftimmter Gehalt mit jener allgemeinen Form des Bewufst-
feins noch nicht unmittelbar gegeben ift. Je nach dem 1
Werthurtheil, welches wir über unfer eigenes Leben in !
der Welt nach Mafsgabe unferer Entwickelungsftufe und ]
unferer Lebensrichtung abgeben, bleiben wir nun entweder
auf der Stufe eines materialiftifchen Glaubens
flehen, oder wir erheben uns zu einem geiftigen Gottesglauben
, jedoch nur innerhalb des äfthetifch-panthe-
iftifchen Typus, oder endlich wir ergreifen die ethifch-
theiftifche Weltanfchauung, welche fich in ihrer vollen
Energie erft unter dem Eindruck der concreten Erfchei-
nung Chrifti entwickelt hat. Ihr zufolge läfst fich der
Menfch von einem ethifchen Lebensideal erfüllen, welches
ihm fo hoch fleht und fo werthvoll ift, dafs er nicht
umhin kann, nach ihm als dem höchften Gute die ganze I
Welt zu beurtheilen, dafs er auf Grund feiner Beftim-
mung zu ethifcher Vollkommenheit fich felbft mehr
Werth beilegt, als der ganzen Welt, und dafs er diefe
fo anfleht, als ob fie für das, was ihm der höchfte
Lebenszweck ift, gefchaffen, regiert und geleitet würde.
Der Menfch ftrebt jedoch nicht nur nach Aufklärung
über fein befchränktes endliches Dafein, fondern auch
nach Sicherung, Erhaltung und Bereicherung desfelben.
An feinen Glauben fchliefst fich daher fein Cultus an,
der aus dem Selbfterhaltungstriebe entfpringt; und auf
der höchften Stufe religiöfer Entwickelung erhebt fich
aus dem Contraft zwifchen dem idealen Streben und der
natürlichen Ohnmacht diefer Selbfterhaltungstrieb in ver-
geiftigter Geftalt, um in Gott die Sicherung und den
Schutz feiner geiftigen Ideale zu fuchen, die ihm eine
durch das Gefetz der Vergänglichkeit beherrfchte Welt
vertagt. Auch in diefer praktifchen Richtung hat fich
die ethifche Weltanfchauung erft unter dem Eindruck
des Lebens Jefu zur vollen Energie entfaltet. Umgekehrt
ift nun aber Chriftenthum nichts Anderes, als
das innere Erleben der ethifchen Verföhnung und Heiligung
, und diefes Erleben ift nicht abhängig von der
Einficht in die Gefchichte Chrifti oder der theologi-
fchen Erklärung feines Erlöfungswerkes. Es ift allein
bedingt durch das Ergriffenfein von dem in Chrifto
in die Gefchichte eingetretenen göttlichen Lebensideale.
Die gefchickte Ausführung diefer Ideen, in denen man
in einem gewiffen Sinne eine Ergänzung Schleier-
macher'fcher Gedanken durch Gefichtspunkte Ritfchl's
erkennen kann und die ohne Zweifel ,gerade in der
jetzigen Krifis auch für weitere Kreife ein Intereffe bieten
werden', möge man beim Verf. felbft nachlefen, fei es
in dem fraglichen Vortrag oder fei es in deffen ver-
dienftlichem Buche über Schleiermacher's Theologie
(Nördl. bei Beck, 1. Bd. 1876).

Kiel. F. Nitzfeh.

1. Scheurl, Prof. Dr. Adf. v., Die Entwicklung des kirchlichen
Eheschliessungsrechts. Erlangen 1877, Deichert.
(V, 177 S. gr. 8.) M. 3. -

2. Dieckhoff, Prof. Dr. A. Wilh., Die kirchliche Trauung,

ihre Gefchichte im Zufammenhange mit der Entwickelung
des Ehefchliefsungsrechts und ihr Verhält-
nifs zur Civilehe. Roftock 1878, Stiller. (VII, 320 S.
gr. 8.) M. 6. —

Die durch So hm's und Fried berg's Controverfe
angeregte Forfchung über die Gefchichte der kirchlichen
Ehefchliefsung ift noch nicht zum Abfchlufs gekommen.

Zwei beachtenswerthe neue Erfcheinungen auf diefem
Gebiete liegen in den oben genannten Arbeiten v.Scheurl's
und Dieckhoff's vor. Wir bringen fie gemeinfehaftlich
zur Anzeige, da der behandelte Gegenftand wie der kirchliche
Standpunkt der beiden Verfaffer die gleichen find
und demnach zahlreiche Berührungspunkte nicht fehlen:
es gewährt ein eigenthümliches Intereffe, zu beobachten,
wie trotzdem die juriftifche und die theölogifche Behandlung
der Aufgabe fchliefslich zu ganz verfchiedenen Er-
gebnifsen führt.

In das Einzelne der rechtsgefchientliehen Unter-
fuchungen einzugehen geftattet hier der Raum nicht.
Es mufs genügen zu fagen, dafs beide Verff. durch ihre
Forfchungen unfere Kenntnifs des von ihnen behandelten
Gefchichtsgebietes in dankenswerther Weife bereichert
haben. Insbefondere fei auf die Unterfuchungen v.
Scheurl's zur Gefchichte des mittelalterlichen und des
reformatorifchen Ehefchliefsungsrechts und auf die Nach-
weifungen, welche Dieckhoff über die Entwickelung
der kirchlichen Trauformen und dann über die eherechtlichen
Theorien bei den Theologen und Juriften der lu-
therifchen Kirche bis auf J. H. Böhmer giebt, verwiefen.
Dem Erfteren mufs dabei nachgerühmt werden, dafs er,
obwohl Jurift, doch keineswegs in einfeitig juriftifchem
Formalismus befangen erfcheint; vielmehr verficht er
den Einflufs, welchen die Volksfitte und das religiöfe
und fittliche Intereffe der Kirche auf die Ausbildung der
betreffenden Rechtsinftitute geübt hat, wohl zu würdigen.

Für beide Verff. läuft die gefchichtliche Unterfuchung
fchliefslich in die Frage nach dem Verhältnifs der kirchl.
Trauung zur Civilehe aus. Von Anfang an ift von
kirchlich confervativer Seite ein hohes Intereffe darauf
gelegt worden, der kirchlichen Trauung auch unter der ■
Herrfchaft der Civilehe die Bedeutung eines Ehefchliefs-
ungsactes zu wahren: man glaubte das mit der Anerkennung
des Satzes, dafs durch den Civilact eine wirkliche
Ehe zu Stande komme, vereinbaren zu können.
Diefer Standpunkt ift durch v. Scheurl's und Dieck-
hoff's Arbeiten ein überwundener geworden. Sohm
hat bekanntlich zu erweifen gefucht, dafs der Civilact
und die kirchl. Trauung fich zu einander fo verhielten, wie
die deutfehe Verlobung zur deutfehen Trauung, d. h. wie
Ehebegründung zum Ehevollzug. Gegen diefe Conftruc-
tion erhebt fowohl v. Scheurl als Dieckhoff Wider-
fpruch. Nun führen die Nachweifungen, welche der
Erftere, zum Theil auf Grund ganz neuen von ihm beigebrachten
Urkundenmaterials giebt, allerdings zu einem
Ergebnifs, welches von dem Sohm'fchen nicht fehr weit
abliegt. Auch nach ihm hat es am Ende des Mittelalters
in Deutfchland nur Eine Verlobung gegeben, welche,
ganz verfchieden von dem römifchen contractus de contrahendo
matrimonio wie von den kanonifchen Sponfalien
de futuro, wirklich ehefchliefsende Bedeutung hatte
und durch die darauf folgende Trauung zum Vollzug
kam (S. 132 ff.). Gerade darin jedoch, dafs durch jene
Verlobung die Ehe wohl begründet, aber noch nicht
zur thatfächlichen Wirklichkeit wurde, liegt der wefent-
liche Unterfchied des damaligen Zuftandes von dem
heutigen. ,Ich glaube', — fagt v. Scheurl ganz richtig
(S. 40) — ,es hat im Grunde das alte deutfehe
Recht überhaupt keine Ehefchliefsung im eigentlichen
Sinn des Wortes gekannt, fondern das Verhältnifs auf
Grund der Verlobung mitteilt der Trauung und Heimführung
fo zu fagen von felbft Ehe werden laffen'. Und
Dieckhoff weift mit Recht darauf hin (S. 298 ff.), dafs
ein Act, welcher noch eine folgende Confummirung vorausfetze
, nicht Ehefchliefsung im modernen Sinn heifsen
könne, da der heutige Civilact den Anfpruch mache,
die Ehe nach allen Beziehungen voll zu verwirklichen und
demnach jede fpätere Perfectionirung ausfchliefse. Beide,
der Jurift und der Theologe , erkennen an, dafs zwifchen
dem Civilact im Sinn des Reichsgefetzes und
einer nächfolgenden kirchlichen Schliefsung der Ehe ein