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Ausgabe:

1878 Nr. 4

Spalte:

97-99

Autor/Hrsg.:

Vaihinger, Hans

Titel/Untertitel:

Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert. Ein kritischer Essay 1878

Rezensent:

Pfleiderer, Edmund

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 4.

98

Vaihinger, Hans, Hartmann, Dühring und Lange. Zur

Gefchichte der deutfchen Philofophie im 19. Jahrhundert
. Ein kritifcher Effay. Iferlohn 1876, Bä-
deker. (XII, 235 S. gr. 8.) M. 4. 80.

Was zunächft das Aeufserliche und Formelle diefes
Buchs betrifft, fo beweift es nicht nur eine grofse und
vielfeitige Belefenheit, fondern ift auch mit eleganter
Gewandtheit, diefem beneidenswerthen und feltenen Vorzug
bei deutfchen philofophifchen Sachen, und ftellenweife
mit lebendigem, bilderreichem Schwung gefchrieben, der
freilich für unferen nüchternen Gefchmack hie und da
allzu pathetifch, wo nicht ein wenig phrafeologifch wird.
Doch mag fich dies gerne durch die Entftehung der
Schrift aus Vorträgen erklären und entfchuldigen laffen.

Materiell will der Verf. an drei typifchen Vertretern
unfere dermalige Geiftesrichtung in Philofophie oder
Culturgefchichte überhaupt zeichnen, aber durch die
hiftorifche Zufammenftellung zugleich ein Gericht üben
über die Syfteme, welche dem Ausfterbeetat verfallen
find, während in dem übrig bleibenden fiegreichen
uns das Programm der philofophifchen Zukunft entgegentreten
würde. Jene erfteren find die dogmatifchen
Syfteme, das idealiftifche von Hartmann und das ma-
terialiftifche von Dühring, über welche beide der Kriti-
cismus triumphirt, klaffifch vertreten vom ,Haupte der
Jungkantianer', von A. Lange. An und für fich kann
ich die vom Verf. erftrebte Vereinigung der hiftorifchen
Darftcllung mit einem fyftematifchen Zweck, wie fie bekanntlich
auch Vaihinger's Mufter, die ,Gefchichte des
Materialismus', zeigt, nicht für tadelnswerth halten, fo
wenig die Gefahr einer Trübung der hiftorifchen Objec-
tivität durch die fyftematifche Tendenz zu verkennen ift.
Hier jedoch mufs ich fürs Erfte die Wahl von Dühring
als Typus in Anfpruch nehmen, da derfelbe von allem
Andern abgefehen durchaus kein normaler und reiner
Materialift genannt werden kann, übrigens auch gar nicht
die hervorragende Bedeutung und Geltung haben dürfte,
welche ihm hier vindicirt wird. Er ift, wie es fcheint,
nur als der Dritte zum Kartenfpiel geprefst, das eigentlich
blofs die beiden Andern angeht. Was Hartmann
betrifft, der entfehieden die Antipathie des Verf. zu
haben fcheint, fo finde ich ihn in der That nicht objectiv
gewürdigt. Dafs gerade keine wefentlich neuen Gefichts-
punkte bei- feiner Kritik beigebracht werden, ift freilich
angefichts der Legion Hartmann'fcher Bekämpfungs-
fchriften begreiflich. Daneben aber fehlt dem Verf.
offenbar aller Sinn und jegliches auch nur von Ferne
fympathifche Verftändnifs für das unläugbar Wahre und
Werthvolle, was der geiftreiche Philofoph des Unbe-
wufsten neben feinen angreifbaren Punkten bietet.

Ueberhaupt figuriren, wie Vaihinger indefs felbft fühlt,
die beiden genannten Philofophen nur als dunkler Hintergrund
für den enthufiaftifch beleuchteten Lange, als
Piedeftal für die gar überfchwänglich gefeierte Geftalt
des ,Hauptes der Jungkantianer', auf deffen Wegen nach
dem ,einftimmigen Urtheil der Beften', d. h. natürlich
nach demjenigen eben der genannten Jungkantianer als
der allein noch berechtigten Vertreter einer wiffenfehaft-
lichen Philofophie unentwegt weiter gegangen werden
müffe.

Auch dem ,amor intellectualis' mufs man eine Portion
Blindheit zu Gute halten, und begeifterte Pietät
für einen jedenfalls bedeutenden Mann wie Lange
foll, felbft wenn fie ftark einfeitig und parteiifch ift,
einem frifch, kenntnifsreich und pikant gefchriebenen
Erftlingswerk nicht zu fchlimm verdacht werden. Hiervon
abgefehen jedoch glauben wir die genannten Mängel
bei Vaihinger's Darftellung von Lange in hohem
Grade bemerken zu müffen. Von Lange felbft find wir
überzeugt, dafs er bei längerem Leben feine Anfchauung,
neben allem Anregenden und Spornenden dennoch in
fich felbft fo ziemlich eine der unhaltbarften und

exaltirteft dualiftifchen, welche es je gegeben, zu einem
höheren, in fich felbft confiftenteren Standpunkt fortgebildet
hätte. Nicht fo der begeifterte Jünger, für den
es die gröfste Wonne ift, wenn er gerade die meiftan-
gegriffenen Seiten in der Lehre feines Meifters nur um
fo zuverfichtlicher und fouveräner gegenüber dem verächtlichen
Haufen der unkritifchen Gegner mit ihrem
,rohen rationaliftifchen Denken' wiederholen, ja fogar von
fich aus ihre Mifslichkeit noch zufpitzen kann. Man
könnte daher feine Schrift das enfant terrible des Lange'-
fchen Kriticismus nennen, welches mit einer ans Naive
ftreifenden Unverfrorenheit die Geheimnifse desfelben
ausplaudert und als den felbftverftändlich ,höheren Standpunkt
' hinftellt, welchem ausfchliefslich die deutfehe und
internationale Zukunft gehöre. Uns ift es nur eine
Satisfaction, von einer Stimme aus jenem Lager felbft
vor aller Welt beftätigt zu hören, was wir feimer Zeit
(Jen. Lit.-Zeitung) bei einer Befprechung Lange's fagten,
aber damals von der fascinirten Tagesmeinung uns noch
fehr verargen laffen mufsten. Diefer Kriticismus ift
nach V. felbft identifch mit Skepticismus und nimmt
,richtig aufgefafst in der neueren Zeit diejenige Stellung
ein, die im Alterthum dem abfoluten Skepticismus zukam'
(S. 72 u. oft). Allein was fchadet das? Andere Stimmen
desfelben Lagers haben ja auf Grund des durchgängigen
,Relativismus' aller Begriffe bereits erklärt, dafs
es eigentlich gar keinen Skepticismus gebe und dafs z.
B. auch Hume fich felbft und feither alle Welt fehr ge-
täufcht habe, wenn er fich als Skeptiker bezeichnete,
während er doch nur ein ganz folider wiffenfehaftlicher
Empiriker war. Auch diefe, von Unbefangenen längft gemachte
Beobachtung wird durch V. nolens volens beftätigt
, dafs die echten Stammväter des Jungkantianismus
hinter Kant liegen, d. h. eben in jener Richtung,
gegen welche nach Paulfen's und Anderer fcharffinnigem
hiftorifchem Nachweis das Hauptwerk ihres angeblichen
Meifters, die Kritik der reinen Vernunft in erfter Linie gerichtet
war, ich meine Locke und Hume, die fich weiterhin
mit der alten Skepfis und Sophiftik berühren. V.
meint zwar: ,Wir laffen uns auch nicht durch diejenigen
bange machen, welche fagen, wir gehen hinter Kant
zurück'. Ganz recht; ein Verbrechen fehe ich darin auch
keineswegs, fondern halte im Gegentheil die ernftliche
Kenntnifsnahme von jenen Engländern für eine der
lehrreichften und nützlichften Arbeiten, fchon weil fie fich
vor der Neuzeit durch eine ganz mufterhafte Ehrlich-
[ keit und Geradheit ihres Denkens und Sprechens auszeichnen
. Nur fcheint es mir dann ein komifches Lucus
a non lucendo, wenn man fich trotz des Recurfes auf diefe
englifche Stufe mit Emphafe Jungkantianer' zu nennen
fortfährt. Was foll es, um nur Eins anzuführen, z. B.
heifsen, wenn S. 85 diefes Buchs die Lehre vom intel-
ligibeln Charakter bezeichnet wird als ein natürlich Seniler
Gedanke des grofsen Königsberger Weifen, deffen
epikritifche Reactionsbemühungen uns fo oft den Ausruf
: what a fall! auspreffen'. Meines Wiffens fteht jene
gerügte Lehre fchon in der erften Auflage der Kritik
der r. V. Wer giebt denn da den Jungkantianern' das
Recht zu einer fo willkürlichen Chronologie, bei dem
bekanntlich in Einem frifchen Zug abgefafsten Werk das
Eine für jung, das Andere für hinfällig fenil zu erklären?
Schliefslich kann ich nicht umhin, auf eine eigenthüm-
liche Inconfequenz oder Selbftkritik unferes Lange'aners
am Ausgang feines Buches hinzuweifen. Nach ihm und
feinem Meifter wäre durch Kant und Lange die wiffen-
fchaftliche Philofophie, d. h. die Kritik bereits in allem
Wefentlichen abgemacht. Alles Weitere wäre nur noch
die metaphyfifche und fonftige Begriffsdichtung, die aber
ihren Werth gerade durch ihre Nichtwiffenfchaftlichkeit,
ihren ethifch-äfthetifchen Dichtungscharakter fortwährend
behält. Eben damit fchiene mir bei der Vagheit und
[ offenbaren Nebenfächlichkeit der geforderten leichten
Fühlung mit dem Leben auf fie das Wort Uhland's an-