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Ausgabe:

1878 Nr. 4

Spalte:

89-90

Autor/Hrsg.:

Martens, Wilh.

Titel/Untertitel:

Die Beziehungen der Ueberordnung, Nebenordnung und Unterordnung zwischen Kirche und Staat. Historisch-kritische Untersuchungen mit Bezug auf die kirchenpolitischen Frgaen der Gegenwart 1878

Rezensent:

Köhler, Karl

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89

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 4.

90

Gaftrccht vornehmlich auf deutfchem Boden mifsbrauchen
und den Mangel an innerer Wahrheit durch um fo unnachgiebigeren
Propagationsdrang zu decken fuchen.
In ,gemeinverftändlicher, nicht vorwiegend auf Theologen
berechneter', aber durch edle Einfachheit auch den
durchgebildeten Theologen anfprechender Darlegung
wird zuerft die Gefchichte der fogen. evangelifchen
Gemeinfchaft, dann ihre Lehre, dann ihre Verfaffung
und fchliefslich im befonderbn ihr Schaffen und Treiben
in Deutfchland gezeichnet. Ref. kann nicht umhin,
zuerft an die grofse Zahl feiner von methodiftifchem
Treiben befchwerten Amtsbrüder in Württemberg zu
denken, wenn er das fragliche Büchlein im Allgemeinen
und ganz befonders deffen zweiten Abfchnitt mit den
bündigen Anmerkungen wider den realitätslofen Sacra-
mentsbegriff und die unwahre Vollkommenheitslehre
jener Secte zur Beachtung und geeigneten Verwerthung
empfiehlt; überhaupt aber wird jeder pofitiv gefinnte
und praktifch gerichtete Theolog gerne von der einfach
klaren Beleuchtung Notiz nehmen, die hier der Frage
nach der fubjectiven Heilsvermittelung aufs neue zugewendet
wird. Am meinen wäre freilich zu wünfehen, j
dafs es dem Büchlein gelingen möchte, unter jener achtbaren
Claffe von Laien, die viel religiöfes lntereffe haben
und, von den religiöfen Windftrömungen der Gegenwart
beunruhigt, mit einigem Schwanken nach der richtigen
Linie fragen, recht viele und aufmerkfame Lefer zu
linden.

Sulz a/N. Dekan Kern.

Martens, Regens a. D. Dr. Wilh., Die Beziehungen der
Ueberordnung, Nebenordnung und Unterordnung zwischen
Kirche und Staat. IIiftorifch-kritifche Untcrfuchungen
mit Bezug auf die kirchenpolitifchen Fragen der Gegenwart
. Stuttgart 1877, Cotta. (VI, 485 S. gr. 8.)
M. 8. —

Der Verf. befpricht nach einander die vier Phafen,
welche das Verhältnifs zwifchen dem Staat und der
kathol. Kirche (von der evangelifchen ift wenig die Rede)
bisher durchlaufen hat: das hierokratifche Syftem, |
d. h. das der Unterordnung des Staates unter die Kirche,
das ftaatskirchliche (Beherrfchung der Kirche durch den
Staat), das des chriftlichen Staates, wo der Staat das
Chriftenthum zwar nicht in benimmt confeffioneller Ausprägung
, aber doch in einer gewiffen abftracten Allgemeinheit
zu feiner Grundlage nimmt, daher zwei Staatskirchen
paritätifch neben einander anerkannt und mit
der katholifchen auf dem Fufsc einer gleichberechtigten
Macht Verträge fchliefst (Coordinationstheorie), endlich
das des modernen Rechtsftaates. Die Gefchichtsdar-
ftellung, ohne auf die letzten principiellen Gründe der
verfchiedenen Kntwickelungsformen zurückzugehen, zeugt
von reicher Sachkcnntnifs und einer höchft fchätzens-
werthen übjectivität und Unbefangenheit. Welches der
Standpunkt des Verf. felbft fei, erfährt man nicht recht
eigentlich. Die beiden mittleren Syfteme (Staatskirchenthum
und Coordinationstheorie) bekämpft er, und man
wird feiner Kritik in diefer Richtung faft durchgängig j
beiflimmen müffen. Nur die hierokratifche Theorie und j
die des religionslofen Rechtsftaates erkennt er als in fich j
einheitlich und folgerecht (S. 366). Die erftere verwirft
er nicht geradezu. Er findet, dafs fie in der heil. Schrift
zwar nicht offenbart fei (aber die Tradition?) — jedoch
•auch nicht fchriftwidrig (S. 23), welches letztere nun
freilich ftark anzuzweifeln wäre: Glaubenszwang und
Glaubensvcrfolgungen find unflreitig in directem Wider-
fpruch mit dem Geifte und dem Worte des N. T. und
Jefu felbft (man denke an Matth. 10, 13. 14). Andrer-
feits tritt der Verf. auch der rechtsftaatlichen Theorie
nicht principiell entgegen. Am liebften möchte er einen
Compromifs zwifchen den beiden letztgenannten Syftemen: I

die Möglichkeit, zu einem folchen unbefchadet der beider-
feitigen Standpunkte zu gelangen, fucht er auf den letzten
Blättern feines Werkes darzulegen, und man gewinnt
den Eindruck, dafs die ganze vorausgegangeneGefchichts-
darftellung den Zweck habe, den Weg zu diefen Compro-
mifsvorfchlägen zu bahnen. Um fie annehmbar erfcheinen
zu laffen, iff der Verf. bemüht nachzuweifen, dafs die
Forderungen des hierokratifchen Syftems vom Standpunkt
der kathol. Kirche nicht dogmatifch nothwendig
feien. Durch die Unfehlbarkeitserklärung werde das Verhältnifs
der Kirche zur Staatsgewalt in keiner Weife
berührt (S. 387). Die Bulle Unam sanetam (S. 45) habe
die Eigenfchaft einer Definition ex cathedra nur in ihrem
Schlufsfatz (wo allerdings der Wortlaut diefcs Zugeftänd-
nifs ganz unausweichlich macht); — aber diefer Satz hat
doch nur eine Bedeutung als die abfchliefsende Zufam-
menfaffung des Gefammtinhaltcs der Bulle und kann
mithin von diefem unmöglich in fo mechanifcher Weife
getrennt werden. Ferner meint der Verf., das Breve
Mendt, welches fich Clemens V. von Philipp dem Schönen
abdringen liefs und welches nach der Meinung des Königs
die Erklärung enthalten follte.dafs die Bulle Unam sanetam
auf Frankreich keine Anwendung zu finden habe, habe
keinen Sinn, wenn man der Bulle einen dogmatifchen
Charakter beilege (S. 49). Aber es fragt fich, ob das
Breve wirklich das fagt, was der König gefagt haben
wollte. Näher angefehen erweift es fich als eine claffifche
Leiffung römifcher Schlauheit: unter dem Scheine den
Anforderungen des weltlichen Machthabers nachzugeben
hat der Papft verftanden Alles, was fein Vorgänger aus-
gefprochen hatte, im Princip zu retten. Er erklärt: die
Bulle Bonifacius' VIII folle dem Königreich Frankreich
nicht zum Präjudiz gereichen, und diefes folle dem
römifchen Stuhl nicht weiter unterworfen fein, als es vor
Erlafs derfelben der Fall gewefen. Aber die durch die
Bulle verkündigte Herrfchergcwalt des Papftes beffand
ja, vom römifchen Standpunkt, fchon längft ehe jene
erlaffen war, denn fie datirt von der Einfetzung Chrifti,
und ein Präjudicium konnte es für FYankreich fo wenig
wie für ein anderes Reich fein, fich der von Gott geordneten
Majoritas zu unterwerfen. — Aehnlich verhält es
! fich mit dem SyIlabus errorum vom 8. Dec. 1864. Der
Verf. ift unbefangen genug anzuerkennen, dafs dcrfelbe
die hierokratifche Theorie zum Ausdruck bringe, meint
jedoch, dogmatifch verpflichtend fei er nicht, da er vom
Papft weder verfafst noch verkündigt worden fei (S. 382).
Aber der Syllabus war gewifs nicht als die beliebig zu
würdigende Privatarbeit eines Ungenannten gemeint, als
er den fämmtlichen Bifchöfen der katholifchen Welt
gleichzeitig mit der am felben Tag erlaffenen Flncyclica
Quanta cura mitgetheilt wurde, fondern als der erläuternde
Anhang diefer letzteren, welcher ihrerfeits der Charakter
einer Erklärung ex cathedra unmöglich abgefprochen
werden kann. — Dem Verf. fehlt die Erkenntnifs, wie
tief die kirchlichen Herrfchaftsanfprüche mit dem Wefen
des Katholicismus felbft verwaenfen find, wie es denn
auch nicht richtig ift, dafs das hierokratifche Syftem erft
feit Pfeudoifidor aufgetreten fei (S. 8). Es reicht mit
feinen Wurzeln viel weiter zurück; bei Auguftin liegt es
bereits vollftändig präformirt vor, wenn derfelbe auch
aus nahe liegenden Gründen von einer Herrfchaft ,des
; Papftes' über den Staat noch nicht redet (ib.). Die Ab-
fchwächungsverfuche des Verf. erweifen fich an diefer
Stelle ebenfo unwirkfam wie ähnliche Verfuche, die
Spitzen der hierarchifchen Anfprüche umzubiegen, welche
vom Standpunkte der Coordinationstheorie vielfach gemacht
worden find und gemacht werden, und deren
Unhaltbarkeit von dem Verf. felbft fcharffinnig und
treffend nachgewiefen wird. Die Männer der Centrums -
partei, namentlich P. Reichenfpcrgcr, erfahren in diefer
Hinficht mehrfach eine wohl verdiente fehneidige Kritik
(S. 390. 459).

Friedberg. K. Koehler.