Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1878 Nr. 25

Spalte:

614

Autor/Hrsg.:

Holtzmann, Heinrich Julius

Titel/Untertitel:

Ueber Fortschritte und Rückschritte der Theologie unseres Jahrhunderts und über ihre Stellung zur Gesammtheit der Wissenschaften 1878

Rezensent:

Lipsius, Richard Adelbert

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

6*3

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 25.

614

religiöfe Problem fo fehr im Mittelpunkte feines ge-
fammtcn Denkens, wie bei ihm. Diefem Umfland wird
von vorliegender Monographie weniger Rechnung getragen,
als unteres Krachtens nothwendig oder doch wunfchcns-
werth gewefen wäre.

Die Religionsphilofophie felbft wird nach zwei Ent-
wiokelungsftufen dargeftellt, als Grundlegung und
Ausbildung unterfchieden und jede wieder in zwei
untergeordnete Phafen gctheilt. Diefe Eintheilung ift in 1
der allgemeinen Entwickelung Fichte's naturgemäfs gegeben
; über die gewählten Bezeichnungen wollen wir
mit dem Verf. nicht rechten. In der erden Periode
vertritt Füchte, im theilweifcn Anfchlufs an Spinoza,
einen ,determinidifc hen Idealismus'. Urkunden
desfelben find die »Aphorismen über Religion und Deismus
'. Diefelben find jedoch fo lückenhaft, dafs auch |
der Verf., trotz einiger gewagter und unteres Erachtens
nicht immer gelungener Ergänzungsvcrfuche uns kein ;
ganz klares Bild desfelben entwerfen kann. Es würde j
mir rchtiger erfcheinen, diefe blofs vorbereitenden An- j
fchauungen ganz unberückfichtigt zu laden. — Den ,fub-
jectiven ethifchen Idealismus' vertritt Fichte in
feiner zweiten Periode, in welcher er, ganz auf dem 1
Boden Kant's fiehend, feinen .Verfuch einer Kritik aller |
Offenbarung' fchreibt. Von diefer Schrift giebt uns der j
Verf. eine ausfuhrliche Inhaltsangabe, doch wäre ein
fiärkeres Hervorheben der befonders in Betracht kom- I
menden Momente zu wünfehen. — In der dritten Periode, j
d. h. auf dem Boden der Wiffenfchaftslehre, wird Fichte's j
Religionsphilofophie .objectiver ethifcher Idealismus
'. Der Verf. fucht fcharffinnig nachzuweifen, dafs
die bisherige Argumentation von der poftulirten Einheit t
des Natur- und Sittengefetzes auf einen Gefetzgeber 1
haltlos war, dafs Fichte mit Nothwendigkeit weiter ge- '
trieben ward, das Sittengefetz felbft für das Abfolute zu
halten, und von hier aus auch die Welt für Schein zu
erklären. Hier müffen wir dem Verf. entfehieden wider-
fprechen. Der transfeendente Gefetzgeber, von dem fo-
wohl das Natur- wie das Sittengefetz abhängt, ift bei
Füchte ebenfowenig wie bei Kant theoretifeh erfchloffen,
fondern praktifch poftulirt, daher jener Phnwand, felbft
wenn er gewichtiger wäre, als er es ift, nicht zutrifft.
Der Fichte der Wiffenfchaftslehre vereinigt Sitten- und
Naturgefetz nicht dadurch, dafs beide nur als verfchie-
dene Anfchauungsweifen desfelben Gefetzes erfcheinen,
fondern dafs dem Sittengefetz als dem höheren das Naturgefetz
entfehieden untergeordnet wird. Auch ift die j
finnliche Welt für Fichte nicht in der Weife blofser Schein
wie der Verf. andeutet. Mit grofser Sorgfalt wird dann
alles gefammelt, was Fichte bei verfchiedenen Anläffen
und in gar verfchiedenem Zufammenhang über Religion
und darauf Bezügliches gefagt hat. Die Anordnung nach j
den Gcfichtspunkten einer kritifchen Phänomenologie und
einer fpeculativen Ontologie feheint uns jedoch, trotz der
gegentheiligen Beweisführung des Verf.'s, nicht aus Fichte's
Gedankengang gefchöpft und deshalb nicht geeignet, die |
Hauptpunkte in helles Licht zu ftellen. — Am reichlichften 1
fhefsen die Quellen betreffs der vierten Periode, des ,abfo-
luten realen Idealismus', und auch der Verf. verwendet
darauf den meiften Raum, zumal er hier häufig lange
Citate aus den wefentlich gleichen, nur redactionell verfchiedenen
Ausführungen giebt, welche die verfchiedenen
Schriften Fichte's enthalten.

r~affen wir unfer Urtheil kurz zufammen: Der Stoff
ift aus den verfchiedenfien Schriften des Philofophen
mit einer Vollfiändigkeit zufammengetragen, die Nichts
zu wünfehen übrig läfst; die Darftellung ift klar, be-
ftimmt und durchfichtig. Die Anordnung ift überficht-
lich und alles berückfichtigend, läfst jedoch, weil zu wenig
auf den Gcfammtzufammenhang des Fichte'fchen Philo-
fophirens Rückficht genommen ift, die treibenden Grundgedanken
zu wenig hervor treten.

Jena. Bernhard Pünjer.

Holtzmann, Prof. Dr. Heinr., Ueber Fortschritte und Rückschritte
der Theologie unseres Jahrhunderts und über
ihre Stellung zur Gesammtheit der Wissenschaften. Rec-
toratsrede. Strafsburg 1878, Trübner. (36 S. gr. 8.)
M. 1. —

Der doppelte Titel diefer geift- und gefchmackvollen
Rede könnte Befremden erregen, denn die Rückfehritte
der Theologie des 19. Jahrhunderts haben mit allem Anderen
, nur nicht mit derWiffenfchaft etwas zu thun. Aber
fie find es auch, welche die alte Frage nach dem Heimatsrechte
einer theologifchen Facultät in der Universitas
literarum niemals zur Ruhe kommen laffen. So begreift
es fich, wenn der Verf. die, aus bekannten Urfachen um
ein Jahr verfpätete, Uebernahme des Strafsburger Recto-
rats mit einer Rede unter diefem doppelten Titel einleitet
, obwohl feine Abficht nur darauf geht, ,ln gedrängten
Zügen ein Bild von den Beftrebungen und Zielen der
wiffenfehaftlichen Theologie der Gegenwart zu entwerfen
und den Standpunkt zu kennzeichnen, welchen fie in F'olge
des grofsen, feit hundert Jahren eingetretenen Um-
fchwungs eingenommen oder wenigftens anzuftreben hat'.
Die Unterfuchungcn über das pfychologifche Wefen und
die gefetzmäfsigen Lebensäufserungen der religiöfen
Function überhaupt, über Urfprung und Werth der
verfchiedenen ,religiöfen Vorftcllungen und Vorftell-
ungskreife insbefondere werden in ihrem Zufammen-
hange mit den heutigen erkenntnifstheoretifchen, pfy-
chologifchen und anthropologifchen Forfchungen, die
Unterfuchungcn über die Entftehung der altteftament-
lichen und urchriftlichen Literatur in ihrem Zufammen-
hange mit der heutigen Philologie undGefchichtsforfchung
aufgewiefen. ,Wo immer in unferer heutigen Theologie
ftatt blofs überliefert und geübt, vielmehr wirklich gelehrt
und geforfcht wird, da gefchieht dies erftens in
demfelben Mafse, als zugleich die nämliche Methode
befolgt wird, welche fich in den übrigen Geifteswiffen-
fchaften Bahn gebrochen hat, und da gefchieht dies
zweitens fo, dafs zugleich jene principielle Feinheit der
Methode , wie fie die Geifteswiffeiifchaften den Natur-
wiffenfehaften genähert hat, auch auf diefem Endpunkte
der ganzenLinie erkennbarft zu Tage tritt'. Die.Klammer',
welche die verfchiedenen Befchäftigungen der theolog.
Facultät zufammenhält, ift bekanntlich die praktifche
Abzweckung auf den Kirchcndienft. Diefes praktifche In-
tereffe macht ficher die theologifche Facultät des akade-
mifchenBürgerrechts keineswegs unwürdig: denn Zwecken
des praktifchen Lebens dienen die anderen Facultäten
nicht minder und ohne praktifche Uebungen können auch
fie ihre Aufgabe nicht erreichen. Wird aber die Frage
der Aufhebung der theologifchen Facultäten einmal zur
Sprache gebracht, fo hat der Redner Recht, wenn er
bemerkt: ,Es ift Pflicht des wohlberathenen Menfchcn,
fein Haus beftellt zu erhalten und des Lebens fich fo
zu freuen, wie wenn er jederzeit abberufen werden könnte.
So werden wir unferer Berufsaufgabe als Pfleger der
theoretifchen Theologie in dem Mafse genügen, als wir
zugleich jederzeit auf eine an fich mögliche Umpflanzung
und Ueberfiedelung unferer Producte aus dem fpeeififch-
thcologifchcn Bereich in ein allgemeineres wiffenfehaft-
liches ßetriebsfeld vollkommen eingerichtet find'. Aber
freilich mufs man hinzufetzen, dafs das Gefagte nur von
einem kleinen, immer mehr zufammcnfchmelzenden Häuflein
gilt, das von den dermalen in Staat und Kirche faft
allenthalben herrfchenden Mächten zurückgefetzt, verdrängt
und wo es irgend angeht befeitigt wird. Auf die
herrfchende Theologie pafst von Allem, was der Verf.
von den Beftrebungen der heutigen wiffenfehaftlichen
Theologie ausfagt, lediglich nichts.

Jena. Lipfius.