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Ausgabe:

1878 Nr. 24

Spalte:

593-594

Titel/Untertitel:

Hippel’s Lebensläufe. Jubelausgabe für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen 1878

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 24.

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Ref. unter dem angedeuteten Vorbehalte dem nur bei-
ftimmen. Aber allerdings lautet der Ausdruck beinahe
fo, als wären die .Dinge an fich' eine hinter der Er-
fcheinungswelt verborgene zweite Welt, nach Analogie
etwa der Ideenwelt in der platonifchen Philofophie. Eine
folche Auffaffung könnte Ref. feinerfeits fich nicht mehr
aneignen, müfste fich vielmehr ihr gegenüber auf feine
neuerlichen Ausführungen gegen E. von Hartmann zurückbeziehen
(Dogmatifche Beiträge S. 161 f.).

Jena. Lipfius.

Hippel's Lebensläufe. Jubelausgabe für die Gegenwart
bearbeitet von Alexander von Oettingen. In
drei Büchern. I. Buch: Im Elternhaufe. II. Buch:
Auf der Wanderfchaft. III. Buch: Zur Heimath.
Leipzig 1878, Duncker & Humblot. (LXXII, 134;
209 u. 205 S. 8.) M. 9. —

,Die Lebensläufe würden einer unferer gelefen-
ften Romane fein, wenn fie nur einigermafsen componirt
wären', fchrieb Julian Schmidt vor ein paar Jahren.
.Manche Partien des Buchs flehen in ihrer Art fo einzig
und unübertroffen da, wie Werthers Leiden oder Hermann
und Dorothea und würden unfehlbar, wenn fie
— ausgefondert und in richtiger Bearbeitung — für fich
allein ftänden, eine verwandte Wirkung hervorgebracht
haben'. So Geizer, und mit ihnen haben fchon viele
hervorragende Literarhiftoriker diefen Wunfeh ausge-
fprochen und jenes Urtheil gefällt. Bisher jedoch hat
Niemand es verflicht, dem viel und mit Recht gelobten,
aber überaus feiten gelefenen Buch zu einer Auferflehung
zu verhelfen. Und die Bitte des Verf.'s, fein Werk fo
zu laffen, wie es ifl, fchien die Scheu, an feinem Bau
zu rütteln, darum aber auch den Entfchlufs, es niemals
zu Ende zu lefen, zu rechtfertigen. Hätte der
originelle Verfaffer, der fein Buch anonym in die Welt
hat gehen laffen, das fatale Dilemma, Aendern oder
Vergeflenwerden , wirklich erkannt, er wäre gewifs mit
feinem sint 11t sunt vorfichtiger gewefen. Und fo durfte
v. Oettingen doch im Sinne des Verfaffers felbft,
der unter uns faft vergeffen ifl und der uns doch
noch fo viel Gutes bringen und lehren kann, zu handeln
glauben, indem er fich zu dem Verfuch entfchlofs,
an ihrem 100jährigen Geburtstage die Lebensläufe in neuer
und lesbarer Geftalt uns vorzuführen. Das Originalwerk
fleht ja noch zu Jedermanns Verfügung. Allerdings
konnte es fich bei einer Bearbeitung nicht nur
um eine einfache Scheidung des Kerns von der Schale,
des Gerüftes vom Gebäude handeln, fondern recht
eigentlich um einen Neugufs; denn Barockes , Frag-
mentarifches und ungeniefsbar Gedehntes ift im Original
fo fehr mit dem Werthvollen, Anregenden und
Erhebenden verfchmolzen, dafs man nicht einfach mit
dem Stifte oder der Scheere trennen durfte. Um fo
verantwortungsvoller und fchwieriger wurde das Gefchäft
des Herausgebers. Er hat in dem fehr ausführlichen [
und orientirenden Vorwort pünktliche Rechenfchaft von
demfelben gegeben und zugleich eine intcreffante Skizze j
der Bedeutung des Buches und feiner Gefchichte geliefert
. Ref. ifl nicht Literarhiftoriker. Er mufs es Anderen
überlaffen, nachzurechnen und den Herausgeber
im Einzelnen vielleicht auf das aufmerkfam zu machen,
was er beffer oder zutreffender und vorfichtiger hätte
ausführen können. Aber das ifl unftreitig, dafs er aus
dem wunderfamen und wunderlichen Werke ein Buch
gefchaffen hat, welches wie wenige bildend wirkt und
welches man mit Freuden lieft und wieder lieft. Nicht
als ob nicht noch manches uns Fremde und Störende
in demfelben vorkäme: die Spuren, dafs es aus jener
Zeit flammt, da .Sophiens Reife' gefchrieben wurde,
laffen fich nun einmal nicht ganz verwifchen und follten
auch nicht verwifcht werden. Aber mit feinem Ge-

fchmack und treffendem Urtheil über das uns jetzt Werthvolle
und Erfreuliche fowie zugleich mit Pietät gegen
den Verfaffer hat der Herausgeber feiner fchwierigen
Aufgabe fich entledigt. Jeder Lefer wird das Buch mit
1 Dank für diefe Gabe aus der Hand legen, und er wird
fich auch an dem uns Ungewöhnlichen, vor allem an den
! originellen Sturm- und Drangmenfchen mit ihrem reizbaren
Gefühlsleben, ihren hochgefpannten Anfprüchen, aber
auch ihrem echten Idealismus zu erfreuen wiffen. Mit
Wahrhaftigkeit ift das ganze Buch Hippel's gefchrieben;
darum erträgt man auch vieles in ihm, was fonft ab-
1 ftofsend wirken würde. Selbft auf den fentimentalen
Niederungen wachfen hier gute und gefunde Fruchtbäume
; und fo folgt man dem Dichter nicht ungern auch
in diefe Gefilde. Er felbft ift doch ein kerniger Menfch,
der in feinem Buche Charaktere gefchaffen hat, die
nicht nur hoch emporragen über das Gemeine und
Durchfchnittliche ihrer Zeit, fondern die in jede Zeit
gefetzt werden können und in jeder Zeit gleich hoch
gefchätzt werden müfsten. Eine ernfte und wirkfame
Frömmigkeit kommt in den Lebensläufen zum Ausdruck.
Niemand wird andererfeits verkennen, dafs der Verf.
fowohl unter dem Einflufs des Rationalismus als des
Pietismus fleht trotz feiner fröhlich frommen, humoriftifch
ernften, orthodoxen Paftorin, jener .Originalchriftin'. Es
läuft auch noch manches Ungefunde, Ueberfpannte mitunter
; man müfste felbft Romantiker fein, um dies zu
verkennen; galt doch dem Verf. Rouffeau faft wie ein
echter Jünger Chrifti. Aber von dem Tribut, den der
Dichter feiner Zeit gebracht hat, abgefehen, welcher
doch auch zugleich fein Buch zu einer wichtigen Quelle
für die Kenntnifs der damaligen religiöfen Stimmungen
und Zuftände macht — weifs er das Wefen und die
Wirkung von Moral und chriftlicher Religion in der
Hauptfache wohl zu durchfehauen und richtig wiederzugeben
. Seinen beiden bedeutendften Charakteren,
dem alten Paftor und dem Herrn von (G)eldern, hat der
Dichter fein letztes Wort in diefen Fragen in den Mund
gelegt, werth immer wieder gelefen zu werden; während
er in den beiden Frauengeftalten das lebendige Chriften-
thum in eigenthümlicher Individualilirung vorgeftellt hat.
Durch den Verfuch ,die Religion unter dem Gefichts-
punkt des Reiches Gottes in fociale Ethik umzuwandeln'
ift er, wie der Herausgeber mit Geizer bemerkt, ein
Vorläufer der neueften Zeitbeftrebungen geworden.

Die Stärke des Romans, für deffen Verfaffer bei
Einigen felbft Kant gegolten hat, beruht im Dialog,
charakteriftifch für die bewegte und unruhige Zeit. Gleich-
mafs und ftilvolle Schönheit, Schilderung .glücklicher
Gegenwart' und .anmuthigen Dafeins' fucht man vergebens
. Der Geift der Antike hat den- Dichter kaum
geftreift. Wer unter uns follte das nicht vermiffen?
aber die Dichtung darf noch mehr bringen als äftheti-
fchen Genufs, und der Dichter büfst es zuletzt felbft
am fchwerften, dafs er das Harmonifche und Mafsvolle
mifsachtet hat. Hier hat er einen treuen Verehrer gefunden
, der die Mängel corrigiren wollte, nur um die
Vorzüge leuchten zu laffen. Wir fchliefsen mit dem
lebhaften Wunfche, dafs die mühfame Arbeit dem Herausgeber
durch das Bewufstfein belohnt werden möge,
einen bedeutenden Schriftfteller wieder in den Kreis der
gclefenen und hochgefchätzten Autoren unferes Volkes
eingeführt zu haben.

Leipzig. Adolf Harnack.

Ruete, Sem.-Lehr. Herrn., Anthologie geistlicher Lyrik

aus neuerer und neuefter Zeit. Hannover 1878, Meyer.
(XU, 95 S. gr. 8.) M. 1. —

Eine anfprechendc Blumenlefe von Liedern und
Gedichten geiftlicher und kirchlicher Art aus unferem
Jahrhundert, für Lehrer und Seminariften beftimmt. —