Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1878 Nr. 23

Spalte:

557-558

Autor/Hrsg.:

Ahner, Max

Titel/Untertitel:

Fredegis von Tours. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie im Mittelalter 1878

Rezensent:

Möller, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

557

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 23.

55«

fehen. Der Verf. widerlegt fich übrigens auf S. 18 felbft.
S. 25 zu Nr. 23 wird mit Recht eine De Roffi'fche Ver-
muthung abgelehnt (f. dazu Kraus, Blutampullen S. 63.
a. a. O. S. 142. 451 f.). Die Erklärung des Haufes auf
der datirten Infchrift v. J. 400 (S. 29 f. zu Nr. 27) als
Abbild des ewigen Haufes, der ewigen Hütten, iß um
fo unwahrfcheinlichcr, als die über dem Haufe hängende
Waage, wie es fcheint, mit demfelben zu combiniren ift.
Ein Beleg für die Formel , . . ante calendas venturas'
ift auch mir nicht bekannt.

Leipzig. Adolf Harnack.

Ahner, Dr. Max, Fredegis von Tours. Ein Beitrag zur
Gefchichte der Philofophie im Mittelalter. Leipzig
1878, Boehme. (58 S. gr. 8.; M. 1. 20.
Wir heifsen diefe kleine zufammenfaffende Monographie
über den Schüler Alcuin's willkommen, der nun
einmal durch befondere Umftände eine unverhältnifs-
mäfsige Berühmtheit erlangt hat, immerhin aber eine
charakteriltifche Erfcheinung bleibt, wenn er auch weder >
der Verfechter der Autonomie der Vernunft gegenüber
der kirchlichen Autorität, noch der Vorläufer der Spe-
culation eines Johannes Scotus Erigena gewefen ift.
Der Verf. Bellt zunächß die Nachrichten über das Leben
des Fredegis in dankenswerther Vollßändigkeit zufam-
men, wobei er dem auch noch von Wattenbach (Deutfchl. J
Gefchichtsqu. 4. A. I, 131 Anm.) wiederholten Vorwurf,
Fr. habe die Schule zu Tours verfallen laffen, als wenig- ':
Bens nicht direct erweislich entgegentritt. Direct wird '
ihm nur vorgeworfen, dafs er die Benedictinerregel in
Verfall habe gerathen lallen und an deren Stelle in
Tours wie auch fpäter in Sithiu (und hier fehr rückfichtslos j
und gewaltfam) die vita canonica begünBigt habe. Aufser-
dem kommt nur in Betracht, dafs allerdings erB unter
feinem Nachfolger der Unterricht in der KloBerfchule !
unentgeltlich wurde, und dafs andererfeits ja überhaupt j
nach Alcuin's und dann befonders nach Karl's Tode j
ein allgemeineres Nachlaffen des wiffenfehaftlichen Stre- I
bens eintritt. Der Verf. hat wohlgethan, feiner Schrift
den Text von Fred.'s wenige Blätter füllenden Tractat
de nihilo et tenebris einzuverleiben. Zur HerBellung des
Textes hat er neue Collationen benutzt 1) von jenem
Barifer Codex 5577 (ehemals Colbertin. 4167 f. Sickel,
Sitzungsberichte der Wiener Akad. 79. Bd. S. 512 f.
Monnmcnta Aknin, in Jaffe Biblioth. VI, 135), nach welchem
Baluz in den Miscell. die Schrift zum erBen Male
herausgegeben, und 2) von dem Vaticanifchen Codex
reginae Christian. 69 (f. Monum. Aknin, p. 138), den der
Verf. geradezu als Ablchrift jenes erflen bezeichnet.
In der Einl. S. 2 hat der Verf. berichtet, wem er diefe
Collationen verdankt. Zu dem danach conBituirten Texte
bemerke ich, abgefehen von der vielbefprochenen Haupt-
Beile (s. u.), Folgendes: Pag. 17, 8 (Bai. 404, 13) erhält
Prantl's Conjectur On/nis significatio eins significatio
est quod est, die BeBätigung des Paris., die ausgezeichneten
Worte find bei Bai. ausgefallen. P. 18, 5 (Bai.
404, 4 von unten) licB A. (aber gegen die Autorität des
Cod. aestimanda non esse. P. 18, 9 (Bai. 405, 1) wo
Bai. zu dem angelicae der Handfchrift naturac ergänzt,
will A. ohne handfehriftlichen Anhalt angelieo lefen, um
es mit dem folgenden Wort velamine zu verbinden.
Allein das velamine giebt keinen Sinn. Vergleicht man
die kurz vorhergegangene Stelle, wo Elemente, Licht,
Engel und Menfchenfeelen als die aus dem Nichts hervorgegangenen
Schöpfungen aufgezählt werden, mit der
vorliegenden, wo ebenfalls Elemente, Licht und Engel
erwähnt find, fo kann es nicht zweifelhaft fein, dafs in
velamine vielmehr vel animae Beckt; wie aber fonB der
Stelle zu helfen, fehe ich noch nicht. P. 21, 3 (Bai.
407, 3) wo Parts, necessaria, Vat. necessario hat, iB es vielleicht
nicht zu hart, letzteres feBzuhalten, fo dafs A.'s
Conjectur necessarimn entbehrlich würde. P. 21, 17 fucht 1

A. durch Einfchiebung eines cum vor latibulum sunm
poneret zu helfen. P. 22, 8 (Bai. 405, 4 v. unten) lieB
A. hoc nnmqnam erat und giebt fälfehlich an, dafs Bai.
ebenfo lefe; diefer aber hat nnsqnam, wie auch in der
That erforderlich iB, wenn man hoc lieB. Par. hat hoc
corrigirt aus hic. Vat. hat hic. Es fragt fich, ob der
Cod. wirklich numquam hat, in welchem Falle hic allenfalls
erträglich wäre, oder ob hier bei A. ein Druckfehler
vorliegt. P. 22, 20 (Bai. 408, 8) hat A., wie mir
fcheint, ohne genügenden Grund, die von Bai. an den
Rand gefetzte Conjectur qnia Batt qnae der Handfchrift
aufgenommen. Im dritten Theilc (Lehre des Fr.) handelt
der Verf. zuerB von dem viel befprochenen Verhält-
nifs von Autorität und Vernunft und zeigt anknüpfend
an die BeBimmung des Verhältnifses bei AuguBin meines
Erachtens einleuchtend, dafs in der That weder von
einem principiellen Rationalismus die Rede fein kann,
noch auch nur von einer folchen Verhältnifsbeßimmung,
wie fie Reuter (Gefch. der Auf kl. I, 40 f.) unter der
Vorausfetzung, dafs an der bekannten Stelle nicht rati-
one fondern rational/' zu lefen fei, vorfichtig zu formuli-
ren verflicht hat. Es ergiebt fich aber, dafs der Codex
nicht, wie Bai. druckt, ratione hat, fondern das finnlofc
ratio.*) Dafs Bai.'s Lefung unmöglich iB, darüber iB
nach Prantl und Reuter kein Wort zu verlieren; aber
der Verf. weiß auch Reuter's Conjectur zurück, wir
müffen den Tenor der folgenden Sätze überblickend
fagen: mit Recht. Nur ficht Reuter richtig, dafs an der
Stelle kein Subßantiv, fondern ein qualiricirendes Ad-
jectiv zu anetoritas erforderlich iß. Schon aus diefem
Grunde iß Prantl's Conjectur revelationc zurückzuweifen,
in deren Verwerfung der Verf. Reuter beipflichtet. Der
Verf. fetzt nun frifchweg divina, was zunächß wie ein
Zerhauen des Knotens ausfieht, genauer betrachtet fich
aber als glücklicher Griff ausweifen dürfte. Man bedenke,
dafs dies Pradicat in dem kurzen Auffatz dreimal zur
Bezeichnung der wahren Autorität gebraucht wird, dem
Sinne nach auch hier unzweifelhaft gefordert wird, und
dafs das Verfehen des Schreibers erklärlich iß, da ratio
in der Zeile vorher fich wirklich findet. In dem Ab-
fchnitt über die Dialektik des Fred., welche er auch aus
Agobard's Schrift gegen ihn zu erläutern fucht, erinnert
der Verf. wohl mit Recht, dafs bei dem Nichts, das er
als etwas Reales durch dialektifche Erfchleichung zu er-
weifen glaubt, von vornherein nicht an jedes beliebige
Nichts, fondern an das Nichts der Schöpfungsdoctrin zu
denken iß. Mit vollem Rechte tritt der Verf. endlich
auch der Annahme Ritter's, welche mehrfach Beifall gefunden
hat und zuletzt noch von Noack (Joh. Scot. Eng.
in Kirchmann's philof. Bibl. Heft 233 S. 35) reproducirt
worden iß, entgegen, als wenn in dem Nichts und der
Finßernifs die unergründliche überwefentliche Natur
Gottes zu fuchen fei. Vielmehr entfpricht das Nichts
des Fr. der geßaltlofen Materie, welche fonB in der
kirchlichen Auffaffung als erßes Product der Schöpfung
aus Nichts angefehen wird.

Kiel. Möller.

*) . . . knie responsioni obviandum est primum ratione, in quantum
hominis ratio patitur, (leimte anetoritate, non qualibet, sed ratio dum-
taxat, qnae sola anetoritas est solaque immobilem obtinet firmitatem.

Zimmermann jun., Georg Rud., Ratpert, der erste Ziir-
chergelehrte. Ein Lebensbild aus dem neunten Jahrhundert
. Bafel 1878, Schneider. (IX, 247 S. gr. 8.)
M. 3. 60.

Der Verf. fucht in diefer Schrift offenbar zweierlei
zu vereinigen: es foll dem Mönch Ratpert, welcher während
der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in St. Gallen
als Lehrer, Gefchichtfchreiber und Dichter eine hervorragende
Stellung einnahm und aufserdem durch feine
Abßammung aus Zürich als ,erßer Zürchergelehrter' ihm