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Ausgabe:

1878 Nr. 21

Spalte:

520-523

Titel/Untertitel:

Grübnau, Der Lehrbegriff der Kirche aus dem Standpunkte der wissenschaftlichen Naturerkenntniß betrachtet 1878

Rezensent:

Thoenes, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 21.

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fie auch zur Moralität fich nur durch die Religion habe
entwickeln können. Den Unterfchied aber zwifchen
Legalität und Moralität beflimmt er dahin, dafs legal
handele, wer Recht thue, weil und foweit es das Wohl
der Gefammtheit und fomit des Einzelnen erheifche,
moralifch derjenige, der abfolut frei von Rückfichten des
Vortheils, ja gegebenen Falls, gegen fie das Gute nur um
des Guten willen vollbringe (S. 101).

Viele würden ohne Zweifel dem fo formulirten Re-
fultate der Weygoldt'fchen Unterfuchung zuftimmen
können; aber fie würden mit ihrer Zuftimmung zögern,
wenn fie die Theonomie der Moralität mit Weygoldt nur
dahin beftimmen follten, dafs das Sittengefetz, obwohl
es reines Vernunftgefetz fei, doch von der Religion unter-
ftützt werde, in ihr den Hauch der Idealität, der Veredelung
und Kräftigung empfange (S. 93). Und noch
mehr würden fie fich dräuben, die Mittel zu billigen,
mit welchen das religiöfen Anfprüchen gegenüber in
diefer Weife eingefchränkte Refultat der Unterfuchung
erreicht wird. Abgefehen von vielen anderen Punkten
ift es befonders der Religionsbegriff des Verfaffers, der
zu den ftärkften Bedenken Veranlaffung giebt. ,Sich religiös
verhalten', erklärt er, ,heifst fich aefthetifch verhalten
'. — ,Der Begriff der Religion ift nichts anderes,
als der feinem Objecte nach in's Unfafsbare geftcigerte
Begriff des Erhabenen' (S. 86). Diefes Erhabene, das
Unendliche, fei, wie alles Schöne und Erhabene, die
Einheit eines Sinnlichen und Ideellen. Das Ideelle aber
ftelle fich zunächft nur dar als Gefetz der Ordnung, des
Mafses, der Harmonie und Zweckmäfsigkeit (S 87). Aller
weitere Inhalt jedoch komme dem religiöfen Object erft
durch das menfchliche Denken, Fühlen und Wollen zu
(S. 90). Die ganze Kette von Glaubensfätzen mit Ausnahme
der einfachen Thefis: Es ift ein Gott! fei nur
ein an den Himmel projicirtes Syftem ethifchcr und
phyfikalifcher Begriffe und beruhe alfo nur auf einem
bald mehr, bald weniger glücklichen Anthropomorphis-
mus (S. 106). Bei diefer an Feuerbach erinnernden An-
fchauung ift es felbftverftändlich, dafs der Verfaffer auch
den Begriff der Offenbarung nicht gebührend verwerthen |
kann; als Offenbarung gilt ihm nur, was der Menfch
felbft aus der Tiefe feines eigenen Innern fchöpft (S. 130),
und der Unterfchied zwifchen fogenannten natürlichen j
und offenbarten Religionen müffe fallen. Ebenfo ergiebt 1
fich als confequent, dafs Weygoldt das Gewiffen nur be- j
trachten kann als juridifche Anlage, vom Urgründe alles
Seins in die Organismen (auch in Thiere) gelegt, als
Correlat des Gefelligkeitstriebes, als Sprache der Gattungsidee
, die fich aber nicht auf den engen und zufälligen !
Rahmen der zoologifchen Gattung befchränke (S. 94. 95)-
Aus feinem Religionsbegriff erklärt fich, warum er
die Theonomie der Moralität nur in befchränkter Weife
anerkennen kann. ,AUe bcftimmtercn Ausfagen der Religion
in Betreff unferes fittlichen Verhaltens', fagt er,
,find in das religiös-aefthetifche Bezogenfein auf das Unendliche
erft hineingetragen worden; fie haben alfo ihre
tieferen Wurzeln nicht in diefem Bezogenfein, fondern
in der menfchlichen Vernunft, von der fie den Charakter
der Verbindlichkeit und überhaupt allen eigentlichen
Werth zu Lehen tragen' (S. 92). Die Religion könne
auf die Sittlichkeit nur ,kathartifch' wirken. Diefer
Schätzung der Religion gegenüber ift auffällig die ftarke
Betonung des Umftandes, dafs nur die Religion^ die
Legalität zur Moralität habe erheben können. Zum
Wefen der Religion gehöre es nämlich, dafs durch die 1
öftere Unvereinbarkeit der äufseren Ereignifse mit individuellen
Wünfchen der Menfch zum Nachdenken
komme und fo allmählich die Einficht gewinne, die
Gottheit habe ein Auge auf die Gefinnung, und unfer
Rechtthun dürfe nicht von irgend welchem Vortheile
abhängig gemacht werden (S. 98). Könnte Weygoldt
viel einwenden, wenn Jemand demgegenüber behauptete,
diefe Einficht, dafs der Werth des fittlichen Handelns in |

der Gefinnung beruhe, habe auch ohne einen Blick auf
die Gottheit gewonnen werden können?

Im 5. Abfchnitt werden nun die Confequenzen der
Abftammungslehre in Bezug auf Religion und Kirche
gezogen. Mit Recht erklärt der Verfaffer hier, dafs
nur eine teleologifch gefafste Entwickelungslehre den
Gottesgedanken nicht ausfchliefse. Wenn er dann aber
weiter meint, dafs auch eine folche nur mit freiem
Proteftantismus, nicht aber mit Katholicismus und Orthodoxismus
im Frieden ftehen könne, dafs fie den Wunderglauben
vernichten, den Gedanken der Tranfcendenz
Gottes aufheben und gegenüber dem anthropocentrifchen
Standpunkte den Gedanken der blofs tranfitorifchen Bedeutung
des Einzelnen im Verhältnifs zum Ganzen fordern
müffe, fo ift es lehrreich, in diefer Beziehung die
betreffenden Abfchnittc des Schmid'fchen Buches zu
vergleichen, welche gar nicht zu einem radicalen Reful-
tate gelangen und von Weygoldt (S. 125) betreffs der in
ihnen niedergelegten Logik doch wohl nicht gerecht be-
urtheilt werden. — Im 6. Abfchnitt endlich, welcher das
Verhältnifs des Darwinismus zur Sittlichkeit behandelt,
wird treffend ausgeführt, dafs die mechaniftifche Welt-
auffaffung Darwin's, wenn fie zur allgemeinen Geltung
gelangte, zwar als Legalität die Sittlichkeit nicht aufheben
würde (was bei Schmid nicht hervorgehoben ift),
wohl aber als Moralität.

Wir wünfchen dem Buche Weygoldt's recht viele
Lefer. Wenn auch eine grofse Zahl derfelben, wie Ref.,
in recht vielen Punkten mit dem Verfaffer nicht wird
übereinftimmen können, fo wird doch kein Lefer das
Buch aus der Hand legen, ohne mannigfaltig angeregt
worden zu fein.

Lennep. Lic. Dr. Thon es.

Grübnau, Dr., Der Lehrbegriff der Kirche aus dem Standpunkte
der wiffenfehaftlichen Naturerkenntnifs betrachtet
. Berlin (1877), Denicke. (III, 399 S. 8.)

M. 5. —

Der Verfaffer will laut der Vorrede mit feinem Büchlein
einen Beitrag geben zu dem Zwecke, den im deutfehen
Reiche entbrannten Kampf mit der römifchen Curie zum
Abfchluffe zu bringen. Diefer Kampf könne nicht auf
dem Wege der bürgerlichen Gefetzgebung allein zu er-
wünfehtem Ende gebracht werden; vielmehr werde die
Entfcheidung auf dem Glaubensgebiete der Kirche liegen.
Darum handele es fich, ob das neuerftandene Vaterland
fich den ,veralteten, wahrheitswidrigen und gemeinfchäd-
lichen Satzungen des römifch-kath. Lehrbegriffs blindlings
unterordnen, oder aber in feiner Fortentwickelung
dem von Gott felbft offenbarten, ebenfo unverbrüchlichen,
wie alleinfeligmachenden Naturgefetze der menfchlichen
Gefellfchaft uneingefchränkt Folge leiden folle'.

Schon aus dem Wortlaute diefer Krage id erfichtlich,
dafs der Verfaffer fich für das ,alleinfeligmachende' Natur-
gefetz entfeheidet. Der näheren Begründung aber diefer
Entfcheidung find die acht Abfchnittc feines Buches gewidmet
. Dasfelbe gehört zu jener Gattung von Literatur,
welche dem Zwecke dient, in populärem Gewände einem
möglichd grofsen Kreife die extremden Confequenzen
materialidifcher und atheidifcher Philofophie zugänglich
zu machen und die religiöfe Ueberzeugung Vieler zu
erfchüttern. Zu den allerfchlimmden Producten diefer
Literatur gehört die vorliegende Schrift infofern allerdings
nicht, als fie noch ein gewiffes Mafs des Andandes
behauptet; aber doch möge aus der nachfolgenden Skizze
erkannt werden, welcherlei Dinge auch in folcher Weife
dem deutfehen Publicum heute dargeboten werden.

Im erden Abfchnitte wird ausgeführt, dafs alle
Wiffenfchaften nur Zweige am Baume der Naturwiffen-
fchaft feien; denn die Natur fei die Gefammtheit alles im
Weltenraume Befindlichen (S. 12). Nach dem jetzigen
Stande der Wiffenfchaft unterliege es keinem Zweifel,