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Ausgabe:

1878 Nr. 21

Spalte:

517-520

Autor/Hrsg.:

Weygoldt, G. P.

Titel/Untertitel:

Darwinismus, Religion, Sittlichkeit 1878

Rezensent:

Thoenes, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 21.

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und Geduld, auf Gebet und Leben in der Kirche be-
fchränkt. Es kann aber gar nicht darauf ankommen, !
in der theol. Ethik jede ftoffliche Deckung mit der phi-
lofophifchen zu vermeiden, wenn es wahr ift, dafs das
Chriftcnthum die fittliche Vollendung des menfchlichen
Wefens mit fich bringt. Dafs H. diefes überfehen hat,
ift abgefehen von feiner Gcfammtanficht von Philofophie
und von Chriftcnthum dadurch mitveranlafst, dafs er in
der Theologie fein Chriftcnthum zur Darfteilung bringen
und die Allgemeingültigkeit feiner Ausfagen erft nachträglich
durch den Schriftbeweis feftftellen wollte. Die
Allgemeingültigkeit feines chriftlichen Glaubens, feiner
Welt- und Lebensanfchauung mufs aber der Theolog
im Voraus durch die Erklärung und Analyfe der normalen
Gedankengruppen des N. T. geltend machen. |
Auf dem Wege wird (ich ergeben, dafs alle Tugend- und (
Pflichtbegriffe, welche den beiden ethifchen Disciplinen ,
gemein fein müffen, in dem Gefammtumfang des chriftlichen
Lebens eigenthümlich motivirt werden. Alfo das
Zugeftändnifs H.'s, dafs der Theolog fein Chriftcnthum :
nicht nach deffen individuellen Bedingungen, fondern in
den allgemeingültigen Beziehungen darzuftellen habe, zieht
nothwendig eine ganz andere Methode der Theologie
nach fich, als welche er auch in diefer Vorlefung geübt l
hat. Von der Genauigkeit, welche H. aus feiner exege-
tifchen Praxis gewonnen hat, legen auch diefe Vorlefun- 1
gen reichliches Zeugnifs ab. Namentlich verwendet er
fie darauf, die Vollitändigkeit feiner Erörterungen ficher
zu ftellen, indem er ftets nachweift, dafs alle Beziehungen, j
in denen eine Sache zu betrachten ift, erfchöpft find. Um
fo mehr fällt es auf, dafs diefe Genauigkeit nicht auch
den einzelnen Begriffen zu Gute gekommen ift, in denen
fich die Rede bewegt. Keine einzige Definition
wird in diefen Vöriefungen aufgehellt. Ift es aber
nicht dieerfteBedingungwiffenfchaftlicherErkenntnifs, dafs
man die Merkmale der Begriffe feftftellt, aus denen man j
feine Rede bildet? Oder war es bei Hofmann's Zuhörern j
nicht mehr nöthig, fie zu diefem Verfahren anzuleiten? I
Ich will hierüber den Schleier fallen laffen. Denn de
viortuis ttä nisi bene.

Göttingen. A. Ritfchl.

Weygoldt, Kreis-Schulrath Dr. G. P., Darwinismus, Religion
, Sittlichkeit. Eine von der Haager Gefellfchaft j
zur Vertheidigung der chriftlichen Religion gekrönte
Preisfchrift. Leiden 1878, Brill. (153 S. gr. 8.)
M. 2. 75.

Von theologifcher Seite war bis auf R. Schmid
(,Dic Darwin'fchen Theorien' u. f. w.), deffen Buch in
Nr. 11 diefes Jahrg. der Literatur-Zeitung eine Befprcchung
gefunden, die Stellung des Darwinismus zu Religion und
Sittlichkeit wiffenfehaftlich ausführlich nicht erörtert
worden; um fo erfreulicher ift es, dafs die obengenannte
Haager Gefellfchaft die Veranlagung zu einer weiteren
wiffenfchaftlichen Behandlung des wichtigen Thema's
gegeben hat.

Der wefentlichfte Unterfchied nun zwifchen den Ausführungen
Schmid's und denen Weygoldt's befteht
darin, dafs Erfterer feine Stellung mehr auf der rechten,
Letzterer auf der linken Seite der theologifchen Forfchung
findet. Aufserdem zieht Schmid neben Religion und
Sittlichkeit auch noch die Philofophie in den Kreis feiner
Betrachtung herein und widmet einzelnen Abfchnitten
der Glaubenslehre, wie der Erfchaffung der Welt, der
Erfchaffung und dem Urftande des Menfchen u. a., eine
befondere Befprechung. Aber auch abgefehen von der
verfchiedenen theologifchen Stellung beider Verfaffer ift
das Buch Weygoldt's durchaus felbftändig, wie es auch
durch eine ebenfo rühmenswerthe Kürze, als Klarheit
der Darfteilung ausgezeichnet ift. Ueberdies wird in
demfelben das Verhältnifs der Religion zur Sittlichkeit

noch in einem befonderen längeren Abfchnitt behandelt,
welcher dem Buche von Schmid fehlt.

In einer Einleitung (S. 1—7) betont Weygoldt mit
vollem Rechte die grofse Tragweite der Darwin'fchen
Theorien für Wiffenfchaft und Leben und weift darauf
hin, dafs in dem dureh fie entbrannten Kampfe fowohl
von den Anhängern, als -von den Gegnern derfelben
weder mit der nothwendigen Klarheit und Gründlichkeit,
noch auch mit Ehrlichkeit überall verfahren worden fei.
Erfelbftverfichert, es an Ehrlichkeit wenigftens nicht fehlen
zu laffen. — Der zweite Abfchnitt ('S. 8—28) giebt eine
kurze Gefchichte der Abftammungslehre, berichtet fo-
dann über die wichtigften Thatfachen, auf welche die-
felbe fich gründet, wie über die Gefetze der Defcendenz,
und befpricht endlich mit feiner Ironie den Häckel'fchen
Stammbaum des Menfchen. Die 2. Unterabtheilung
diefes Abfchnittes würde an Klarheit und Ueberfichtlich-
keit wohl gewonnen haben, wenn Weygoldt feinen Stoff
den Schriften nicht Darwin's felber, fondern den fyfte-
matifcheren Häckel's entnommen hätte. — Die Be-
urtheilung der Abftammungslehre bildet den Inhalt des
3. Abfchnitts. Der Verfaffer befpricht hier die vielfachen
Schwierigkeiten und Einwürfe, mit welchen die Darwin'-
fche Selectionstheorie, nach welcher die Defcendenz der
Arten durch rein mechanifche Agentien auf dem Wege
der allmählichen Summation minimaler Veränderungen
vor fich gegangen fein foll, zu kämpfen hat, und kommt
zu dem Refultate, dafs ,cler empirifche Nachweis der
Defcendenz, deffen Erbringung zur Aufgabe der exaeten
Forfchung gehöre, mit der Züchtungslehre nicht geliefert
fei' (S. 41). Den Gedanken der Entwickelung felbft aber
hält er dennoch feft; diefer flehe, wenn auch nicht em-
pirifch nachgewiefen-, philofophifch feft (S. 31). Das
philofophifch geförderte Denken müffe den Wunderglauben
abweifen; Wunderglaube aber fei es anzunehmen, dafs
fo complicirte Organismen, wie z. B. der Menfch, plötzlich
fertig in die Welt hineingeftellt worden feien (S. 29).
Viele werden es dem Verfaffer nicht zugeben, dafs die
Philofophie über Thatfachen, welche ins Gebiet der empi-
rifchen Forfchung fallen, mafsgebend zu urtheilen habe;
beffer hätte er auf mancherlei Thatfachen der Geologie
und vergleichenden Pflanzen- und Thiergeographie (vgl.
z. B. Schmid a. a. O. S. 43 ff.) für die Berechtigung des
Entwickelungsgedankens fich berufen. Treffend wird dagegen
in diefem Abfchnitt weiter nachgewiefen, dafs die
Eliminirung der Teleologie aus der Naturbetrachtung
unberechtigt fei, und auch der Züchtungslehre fei der
Zweckbegriff geradezu unentbehrlich, wenn fie nicht in
den wichtigften Fragen in der Luft fchweben wolle.
Es leuchtet von felbft ein, dafs die fo feftgeftellte Berechtigung
der Teleologie auch für die Naturbetrachtung
für die Beantwortung der ganzen Frage von einfehneiden-
der Wichtigkeit ift, wie denn auch der Nerv der Schmid'-
fchen Unterfuchung gerade in diefer Feftftellung liegt.
Wie liefse fich das Leben der Welt auf Gott zurückführen
, wenn in ihr nicht Zwecke verwirklicht würden,
und was wäre die menfehliche Sittlichkeit, wenn wir nicht
die Fähigkeit hätten, uns felbft in unferem Flandeln zu
beftimmen nach werthvollen Zwecken!

Ehe nun der Verfaffer dazu übergeht, die Con-
fequenzen des Darwinismus in Beziehung auf Religion
und Sittlichkeit zu beleuchten, fchiebt er in den Gang
der Unterfuchung ein befonderes Capitel über die Grenzen
der Religion und Sittlichkeit ein. Er motivirt diefe Ein-
fchiebung damit, dafs man die bezeichneten Grenzen
vielfach in der Art für berichtigt halte, dafs die Religion
keine Grenzen und die Sittlichkeit nichts Eigenes habe
(S. 66), wie denn die meiften Gegner Darwin's, zumal
die theologifchen, mit der Gefährdung der kirchlichen
Dogmatik ohne Weiteres auch die Sittlichkeit gefährdet
fein liefsen (S. 65). Diefe Meinung nun fucht Weygoldt
als haltlos darzuthun; er kommt zu dem Refultat, dafs
die Sittlichkeit als Legalität durchaus autonom fei, wenn