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Ausgabe:

1878

Spalte:

497-499

Autor/Hrsg.:

Cremer, Hermann

Titel/Untertitel:

Die Befähigung zum geistlichen Amte 1878

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theo'ogifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 20.

498

Uebeln der Zeit leicht damit trottet, dafs (ich Alles von
felbft machen werde, verdient die Gedankentiefe und
der religiös-ethifche Ernft, womit Thierfch an vielen
Stellen redet, alle Hochachtung. Im Uebrigen vermögen
wir feiner Gefammtauffaffung des Schriftwortes, namentlich
des prophetifchen Wortes nicht zuzuftimmen. So viel
follte als eine Lehre der Gefchichte feftftehen, dafs die
Verfuche, nach den Ausfagen der Bibel den Zeitpunkt
des Endgerichtes vorauszubeftimmen, nothwendig fehl-
fchlagen müffen und allemal die Gefahr bedenklicher
fchwarmgeiftiger Verirrungen mit fich führen.

Friedberg. K. Koehler.

Grassmann, weil. Prof. Herrn., Ueber den Abfall vom

Glauben. Mahnungen an die wiffenfchaftlich Gebildeten
der Neuzeit. Stettin 1878, Brandner. (47 S. 8.)
M. 1. —

Der Verf. hat in feiner Jugend zu den Füfsen
Schleiermachers und Neanders gefeffen, dann aber fich
dem höheren Lehramte zugewendet und auf dem Gebiete
der Natur- und Sprachwiffenfchaften gearbeitet. Dem
in erfchreckendem Mafse namentlich unter den gebildeten
Ständen hervortretenden Abfall vom Glauben gegenüber
erachtet er es für Pflicht der ,Gläubigen', mit rückhalt-
lofem Bekenntnifs hervorzutreten. Die Erkenntnifs diefer
Pflicht hat ihn veranlafst, fich mit der vorliegenden kleinen
Schrift an das gebildete Publikum zu wenden. Er redet
vom Standpunkt einer milden Vermittlungstheologie,
etwa im Sinne Neanders, doch mit unverhohlener Abneigung
gegen alle liberal-kirchliche Tendenzen. Die
Leugnung des Wunders bekämpft er mit Entfchiedenheit,
fcheint jedoch in demfelben mehr ein mirabile als ein
miraculiim zu erblicken (S. 16). Er theilt nicht die
mechanifche Anficht von der Infpiration der Bibel,
unterfcheidet vielmehr die göttliche und menfehliche
Seite dcrfelben (S. 33;. Das kirchliche Activbürgerrecht
will er zwar nicht von der Zuftimmung zu den fämmt-
lichen Bekenntnifsen der betreffenden Confeffion, aber
doch zum Apoftolicum, bez. zum kleinen lutherifchen
Katechismus abhängig machen (S. 44). Als Ideal fchwebt
ihm vor die Bildung evangelifcher Freigemeinden, jede
mit ausgeprägtem Sonderbekenntnifs, welche zunächft
zu gefonderten Kirchengemeinfchaften und dann, fofern
fie in dem Bekenntnifs der ,Göttlichkeit' Chrifti überein-
ffimmen, zu einem weiteren evangelifchen Bunde zu-
fammentreten möchten (S. 10). Als Minimum fordert
er jetzt fchon, dafs aus den kirchlichen Wählerliften
alle die zu ftreichen feien, die ihre Kinder nicht taufen
oder ihre Ehen nicht kirchlich einfegnen laffen, oder die
fich öffentlich als Feinde des Chriftenthums zu erkennen
gegeben oder durch ihren Wandel Aergernifs erregt
haben. Er hofft, dafs die Beftrebungen, ,welche das
Bekenntnifs abzuschaffen oder wenigftens abzufchwächen
verfuchen', nicht zum Ziele gelangen werden, lieht jedoch
für den Fall, dafs es in der preufsifchen Landeskirche
zu ähnlichen Zuftänden wie in Baden käme, die Noth-
wendigkeit voraus, Vereine zu gründen, welche, ähnlich
wie der Guftav-Adolf-Verein für die ganze evang. Kirche,
,für die lautere Predigt des Evangeliums wirken'.
(S. 45- 46.)

Friedberg. K. Koehler.

Cremer, Prof. Paft. D. Herrn., Die Befähigung zum geistlichen
Amte. Berlin 1878, Wiegandt & Grieben.
(96 S. 8.) M. 1. 25.
Dafs in der Kirche nur das ,Bekenntnifs', das volle,
ganze und ungetheilte, herrfchen dürfe, d. h. die orthodoxe
Dogmatik, ift dem Verf. der fefte Punkt, von dem
er ausgeht. Für die Kirche gilt es nicht mehr, die
Wahrheit zu fuchen, denn fie befitzt die Wahrheit, näm-

! lieh eben in ihrem Bekenntnifs. Von Lehrfreiheit oder
Grenzen derfelben in irgend einem Sinne kann nicht
die Rede fein. Abweichungen vom Bekenntnifs ent-
fpringen allemal aus fittlichen Wurzeln; die letzten
Fragen, um die es fich bei dem Streite um das Bekenntnifs
handelt, find fittlicher Art: ,Bufse und Wiedergeburt
oder nicht? Natur oder Gnade? Erlöfung oder
Selbfterlöfung?' (S. 93). Indeffen begreift der Verf., dafs
unter den heutigen Verhältnifsen von denen, die fich
um den Eintritt ins geiftliche Amt bewerben, die volle
Zuftimmung zu dem Bekenntnifs nur in feltenen Fällen
wird erwartet werden können. Er will deshalb das
Minimalmafs deffen beftimmen, was als Bedingung der
Aufnahme in den Kirchendienft von den Candidaten zu
fordern wäre. Die theoretifche Zuftimmung zur bekennt-
nifsmäffsigen Lehre, führt er aus, macht Einen noch
nicht zu einem rechten Geiftlichen; hinzukommen mufs
die lebendige, innere Heilserfahrung. Auf diefem Ge-

! biete fucht er denn auch jenes Minimalmafs der Befähigung
zum geiftlichen Amte. Es müffe bei dem Candidaten
, wenn nicht der volle Heilsglaube, doch der ,Bufs-
glaube', wie er's nennt, vorhanden fein, d. h. die per-
fönliche Erkenntnifs der Heilsbcdürftigkeit mit der Ge-
wifsheit, bei Chriftus das Heil finden zu können. Bei
einem Anfänger, der in diefem Glauben flehe, möge
mancherlei Heterodoxie vorläufig geduldet werden: die
Erfahrungen des Amtslebens werden ihn von felbft zur
vollen inneren Klarheit und damit auch zur bekenntnifs-
m äfsigen Lehre hinführen. Für einen folchen fei es auch
keine Unwahrheit, wenn er in der Erwartung jenes
wünfehenswerthen Refultates bei der Ordination bereits
das Gelöbnifs bekenntnifsmäfsiger Lehre ablege. Sei er
vorläufig noch nicht im Stande, demfelben in vollem
Umfang zu entfprechen, fo verftehe es fich dagegen von
felbft, dafs er nichts gegen das Bekenntnifs vortragen
werde und dürfe, d. h. dafs er feine Abweichungen ftill-

| fchweigend für fich behalte, bis er fich im Stande fühle
denfelben den Abfchicd zu geben. Hierauf zum minderten
zu halten, fei Sache des Kirchenregiments. Einen
Candidaten aber, welcher dem bezeichneten Minimalmafs
nicht entfpreche, müffe die Kirchenbehörde auch bei
wohlbeftandener wiffenfehaftlicher Prüfung abzuweifen
befugt fein, weshalb zu dem herkömmlichen Examen
noch eine feelforgerliche, fozufagen beichtväterliche
Erforfchung der Einzelnen treten müffe. Selbftverftänd-
lich könnte diefe nicht in bureaukratifcher Weife durch
eine Commiffion, fondern nur im Einzelverkehr durch
,geiftes- und glaubensmächtige Perfönlichkeiten' vorgenommen
werden.

Eine unwandelbare Kirchenlehre ift nur denkbar als
eine unfehlbare, und diefe fetzt wieder nothwendig eine
unfehlbare Lehrautorität voraus. Jene von unferem Verf.

I mit nichts zu wünfehen übrig laufender Schärfe verkün-

I digte Bekenntnifstreue ift und bleibt eine Halbheit, fo
lange man nicht den Muth hat, bis zu diefer letzten Con-
fequenz vorzugehen — und das würde den Bruch mit
der Reformation bedeuten. Dafs die Befähigung zum
geiftlichen Amte nicht lediglich an rechtlich-gefetzlichen
Mafsftäben gemeffen werden dürfe, vielmehr an erfter
Stelle die rechte perfönliche Stellung deffen, der das

j Evangelium verkündigen will, zu dem Gegenftande feiner

I Verkündigung vorausfetze, ferner dafs es heutigen
Tages dem Theologen nur allmählich, in der Regel unter
den Kämpfen und Erfahrungen des Amtslebens, gelingen
könne, fich zu einer haltbaren Gefammtanfchauung durchzuarbeiten
, und dafs man daher von dem Anfänger noch
kein Fertigfein in diefer Beziehung fordern dürfe, —■ dem
ift völlig beizuftimmen. Aber es ift falfch, dafs lebendige
Erkenntnifs der Heilsbedürftigkeit ohne Chriftus
und des Heiles durch Chriftus nur möglich fei auf dem
Boden des orthodoxen Dogmas oder mit innerer Nöthig-
ung zu diefem hindränge: diefem nqwtov fpsvdng des
Confeffionalismus mufs beftimmterWiderfpruch entgegen-