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Ausgabe:

1878

Spalte:

476-477

Autor/Hrsg.:

Spurgeon, C. H.

Titel/Untertitel:

Vorlesungen in meinem Prediger-Seminar, oder, Ausgewählte Vorträge, gehalten vor den Studenten des ‘Metropolitan College’ zu London 1878

Rezensent:

Nestle, Eberhard

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Incommenfurabilität der Kategorien unfres Denkens, und
man könnte dann den Inhalt folcher Beftimmungen lediglich
auf das ethifch bedingte Selbftgefühl beziehen und fo
darauf verzichten, die Allgemeingültigkeit der betreffenden
Gedanken auch für diejenigen zu behaupten, welche
den Werth des chriftlich Guten nicht anerkennen.

Völlig unberechtigt erfcheint endlich dem Ref. das
mehrfach wiederkehrende Bedenken, ob denn auch nur
eine formale Syftematifirung des religiöfen Bewufstfeins
ohne Willkür möglich fei, da die religiöfen Gefühle nur
ruckweife und atomiftifch vereinzelt ins Bewufstfein träten
: es ift eine Einficht, die hauptfächlich Schi, zu danken
ift, dafs jede Religion kein Quantum von Einzelheiten
ift, fondern ein eigenthümliches Quäle, eine or-
ganifche Einheit, die jeder correcten Einzelbethätigung
immanent ift.

Die gewünfchte Anerkennung, dafs diefe feine ,Frucht
geniefsbar', hat Verf. durch die Geschraubtheit feines
Stils fehr erfchwert.

Torgau. J. Gottfchick.

Zezschwitz, Prof. Dr. Carl Adf. Gerh. v., System der
praktischen Theologie. Paragraphen für academifche
Vorlefungen. 3. Abtheilung: Seelforge und Kirchen-
verfaffung. Leipzig 1878, Hinrichs' Verl. (VIII u. S.
473—718. 8.) M. 3. 60.

Der vorliegende Band bildet den Abfchlufs und die
Krone eines Syftems, auf deffen hervorragende Bedeutung
wir bereits früher hingewiefen haben. Denn ftatt
traditionelles Wiffen und engbegrenzte Paftoralweisheit
in fcheinbar neuer Form darzubieten, verarbeitet der Verf.
den kritifch gefichteten hiftorifchen Stoff zu einem grofs-
artigen Syftem, in dem keine Behauptung vereinzelt und
willkürlich hervortritt, fondern in einem feiten und un-
zerreifsbaren Gefüge ihre nothwendige Stelle findet. Die
eine Welt von Potenzen zufammenfaffende Theorie entfremdet
fich doch nirgends der Aufgabe, die praktifche
Durchführung der Idee mit Kraft und Zielgewifsheit zu
befeelen.

Die vollendete Durchdringung einer allumfaffenden
und zugleich das Einzelne und Kleinfte mit überlegenem
Urtheil erfaffenden Betrachtungsweife ftellt fich uns dar,
wenn wir die Erörterungen des Verf.'s über Gemeinde,
Amt und Privatfeelforge, über die Idee und Gefchichte
der Beichte, über die chriftliche Weihe der Ehe, über
Begräbnifs und Leichenverbrennung, ferner über die dis-
ciplinar-reconciliatorifche Seelforge, über die innere Mif-
fion und den Guftavadolfverein, endlich die Abhandlungen
über Begriff und Principien der verfaffenden Kirchen-
thätigkeit überblicken.

Hiebei empfinden wir es mit tiefer Befriedigung, dafs
eine auf academifcher Gedankenarbeit fich aufbauende
praktifche Theologie einen freieren und klareren Einblick
in das Reich der Wirklichkeiten gewährt, als jener enge
dumpfe Gedankenraum, in dem manche ,praktifche'
Geiftliche und von den Tagesfragen in unklare Aufregung
verfetzte Kirchenzeitungsfchreiber fich aufzuhalten
pflegen. Auch längft bekannte und fall zum Ueberdrufs
befprochene Dinge gewinnen hier durch den fyftemati-
fchen Zufammenhang eine neue, ihr innerfies Wefen treffende
Beleuchtung. Ref. kann das dem Werke beigegebene
59 Seiten umfaffende fyftematifche Inhaltsver-
zeichnifs nicht überblicken, ohne mit dankbarer Freude
fich der fchönen Stunden zu erinnern,- in denen ihm
diefes gedankenreiche, ausgereifte und alle Kräfte des
Menfchen anregende Werk Licht und Klarheit, manch-
fache Belehrung und Ermuthigung verlieh.

Die vorliegende 3. Abtheilung bietet uns zunächft.
eine Poimenik, fofern es gilt, die Gemeindeglieder auf
der Höhe des Communionlcbens zu erhalten und bei
der die Selbfterziehung der Gemeindeglieder einfchliefsen I

j den Seelforge fowohl prophylaktifch als progreffiv zu
verfahren. Letzteres Moment ergiebt fich dem Verf.
aus der Aufgabe, die Cultusglieder auch zu derjenigen
Formerfcheinung des Kirchenwefens zu bereiten, in der
fich die Eigenthümlichkeit focialen Kirchenlebens von
dem focial geformten Weltleben unterfcheidet. Denn
die Gemeinden als folche pflegen fich faft nur noch als
bürgerliche Localgemeinden zu fühlen, wenn nicht auch
ein organifch gegliedertes Verfaffungsleben in denfelben
das kirchliche Zulämmenhangsgefühl lebendig erhält.
Nur wenn Sinn für Selbftregierung und heilfame Selbsthilfe
in den Gemeinden fich findet, wenn die Einzelgemeinde
als lebendig gegliederter Organismus jedem
reifen Gliede entfprechende Aufforderungen und Gelegenheiten
zur Mitarbeit am kirchlichen Gemeinleben gewährt,
da erwacht in den Gemeindegliedern jenes lebendige,
dem kirchlichen Gemeinwefen zugewandte Intereffe, das
durch einfeitige pfarramtliche Bevormundung der Gemeinde
nicht zu erzeugen ift.

Hier tritt einer der Punkte hervor, wo der Verfaffer
mit feiner tiefeindringenden, in kirchlich-praktifcher Thä-
tigkeit gereiften Erkenntnifs einfetzt, um die Ziele der
Gegenwart in klares Licht zu Stellen und einfeitige Bestrebungen
in grofsem Zufammenhang zu erraffen.

Dresden. Löber.

Spurgeon, C. H., Vorlesungen in meinem Prediger-Seminar
, oder, Ausgewählte Vorträge, gehalten vor den
Studenten des ,Metropolitan College' zu London.
Hamburg [1878], Koch. (VII, 269 S. 8.) M. 2. -

Von Spurgeon's ,Lectures to my Student?, auf die ich
gelegentlich in diefer Zeitfchrift aufmerkfam machte (I.
620), ift jetzt eine deutfehe Ueberfetzung erfchienen. Ich
fetze die Ueberfchriften der 13 Vorlefungen her: Des
Predigers Achtfamkeit auf fich felbit; der göttliche Ruf
zum Predigtamt; des Predigers Gebet im Kämmerlein;
unfer öffentliches Gebet; der Inhalt der Predigt; über
die Wahl des Textes; über geiftliche Ausdeutung {sfri-
ritualizing); über die Stimme; .Achtung' {attention, über
die Mittel, die Aufmerkfamkeit der Gemeinde zu wecken
und zu erhalten, worüber Sp. in keiner der gewöhnlichen
Homiletiken Auffchlufs zu finden beklagt); die Fähigkeit
des Redens aus dem Stegreif; des Predigers Ohnmachts-
Anfälle; des Predigers gewöhnlicher Unterhaltungston
{ordinary conversation); für Solche, die mit unzureichendem
Werkzeug 'slender apparatns, d. h. einer gar zu
befcheidenen Bibliothek) arbeiten müffen. Es mag in
diefen Vorlefungen manches fein, was unferer deutfehen
Art nicht ganz zufagt und mit unfern theologifchen An-
fchauungen fich nicht verträgt; ficher ift aber viel mehr
in denfelben enthalten, was die vollfte Beachtung von
angehenden und fchon im Amte flehenden Geiftlichen
verdient. Die Ueberfetzung ift, foweit ich fie verglichen
habe, correct, vielleicht etwas zu wörtlich; eine fo originelle
Sprache wie die Spurgeon's büfst aber durch
Ueberfetzung mehr als eine andere viel von ihrem Reize
ein; daher ich alle, die das Original benutzen können, an
diefes weifen möchte. Der ungenannte Ueberfetzer hat
einige Anmerkungen hauptfächlich biographifcher Art
beigefügt; auch die in Klammern gefetzten Worte S. 3.
,die ärminianifche (oder lutherifche) Anficht' find fein
Zufatz ; auf S. 115 fcheint mir die Anmerkung den richtigen
Sinn nicht ganz zu treffen. Einem Diakonen foll
Sp. über Luc. 16, 22 ,Es begab fich aber, dafs der Arme
ftarb', die Leichenrede gehalten haben; beggar ift das
englifche Wort, das zwar die Nebenbedeutung ,Lump'
hat, wie die Anmerkung fagt; die Pointe der Erzählung
beruht aber, wie mir fcheint, auf der eigentlichen Bedeutung
des Wortes .Bettler', indem die Beforgung der Col-
lecten für die Armen etc. eine Hauptaufgabe der Diakonen
ift.