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Ausgabe:

1878 Nr. 18

Spalte:

448-450

Autor/Hrsg.:

Oosterzee, J. J. van

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Ein Handbuch für junge Theologen. 1. Bd. 1. u. 2. Lfg 1878

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 18.

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ungsgefetz verfteht und ob oder wie fich eigentlich jene
,mehr geiftigen' Kräfte bei feinen darwiniftifchen Vor-
ausfetzungen von den phyfifchen — mechanifchen und
organifchen — fpecififch unterfcheiden? Denn S. 19
fordert er doch ,die Berückfichtigung der befonderen
inneren Triebfedern' beim menfchlichen Handeln. Und
S. 23 will er fogar im Anfchlufs an K. E. von Baer ein
,zielfetzendes Hineinwirken einer göttlichen Weltfub-
ftanz' (!) vorausfetzen; und S. 45 redet er felbft — (hört,
hört!) — von dem ,ungeheuren Abftand der treibenden
geiftigen Kräfte' felbft in der niedrigften Entwickelungs-
ftufe der menfchlichen Gefellfchaft gegenüber dem
Heerdenieben gefellfchaftlicher Thiere.

Fragen wir aber, worin denn diefer Unterfchied
befteht, fo lautet bei Schäffle die Antwort nicht: in
der gebietenden , fittlich gefetzgebenden Norm , in dem
Glauben an einen perfönlichen Gott und feinen gefetz-
geberifchen Willen oder an fittliche Auctoritäten, in der
Freiheit der Selbftbeftimmung, in der Selbftbethätigung
des Geiftes durch Wort und Handlung, durch Kunft und
Wiffenfchaft, durch Recht und Sitte. Dies Alles follen
vielmehr nur ,höhere' Formen (Gradationen, Integrationen
etc.) des Kampfes ums Däfern, Refultate naturnoth-
wendiger Entwickelungsgefetze fein, wie fie bereits in der
Atomenwelt und namentlich im Zellengewebe angelegt
find. — Als das ,ethifch' berechtigte Hauptmotiv wird,
bei aller focialen Gefellfchaftsbewegung im Anfchlufs
an Spinoza oder in Analogie mit dem Darwinismus (vgl.
Jäger, Carneri, R. Schmidt u. A.) — der Selbfterhal-
tungstrieb bezeichnet. Diefer foll allen ,myfhfchen'
Theorien gegenüber der einzig ,reale' Boden menfeh-
licher Rechts- und Sittenentwickelung fein. Wo bleibt
bei diefem utilitarifchen oder eudämoniftifchen Princip
die Möglichkeit eines Nachweifes für die höhere Nöthig-
ung zur Selbftaufopferung, zur Selbfthingabe für die
Idee, für die Gemeinfchaft, für Gott? Exiftirt Gott als
fchöpferifche und fittlich gefetzgebende Macht? Kennt
oder anerkennt der Verf. den Gott der Liebe als die
auch fittlich den Menfchen erneuernde und regenerirende
Macht? Ja oder Nein? — Ich weifs es beim beften Willen
nicht zu beantworten. Schäffle ift trotz feiner antima-
terialiftifchen Gefinnung in die Evolutionstheorie fo ein-
gefponnen, dafs der Bann der darwiniftifchen Doctrin
auf ihm laftet. Und darin fcheint mir eine weit gefährlichere
,Myftik' verborgen zu liegen ," eine unklare , im
Zwielicht fich ergehende Myftik, welche die ,naturgefetz-
liche Entwickelung' anbetet und den Unterfchied von
Idee und Wirklichkeit, von Geift und Materie, von Sitten-
und Naturgefetz, von Freiheit und Nothwendigkeit allüberall
verwifcht und nur in ,realem' Empirismus fich
zu bewegen meint!

Vielleicht bedarf der Verf. der ,Hypothefe' eines
Schöpfergottes bei feiner Erklärung der Gefellfchaftsbewegung
ebenfowenig als ein Laplace bei feiner ,Mechanik
des Himmels'. Dafs Schäffle diefen bekannten
Ausfpruch des berühmten Mathematikers gegenüber
Napoleon —• (Sire, je n'avais pas besoin de cette Hypothese
— einem frommen Manne wie Pascal in den Mund
legt (vgl. S. 24 im Text und in der Anm. 4) und dem-
gemäfs auch feinerfeits ,fich aller Teleologie entfchlagen
zu müffen' glaubt, ift doch wohl nicht ein blofser lapsus
calavii, fondern ein verhängnifsvolles Symptom der durch
diefes fchrecklich geiftreiche Buch fich hindurchwälzenden
— Confufion.

Dorpat. AI. v. Oettingen.

Oosterzee, J. J. van, Practische Theologie. Een Hand-
boek voor jeugdige Godgeleerden. 1. deel. Utrecht
1877, Kemink & Zoon. (VIII, 447 S. gr. 8.) M. 6. 50.

Oosterzee, J. J. van, Praktische Theologie. Ein Handbuch
f. junge Theologen. Autorifirte deut. Ausg. v. Pfr.
Ad. Matthiä u. Pfr. Alb. Petry. I. Bd. 1. u. 2. Lfg.
Heilbronn 1878, Henninger. (112 S. gr. 8.) ä 60 Pf.

Ein Buch von Ofterzee läfst immer etwas Gutes erwarten
, befonders, wenn es das eigenfle Gebiet des
Verfaffers, die praktifchc Theologie, betrifft. Bekannt -
j lieh hat Oofterzee, ehe er zur akademifchen Thätigkeit in
Utrecht berufen wurde, eine lange Reihe von Jahren
ein Pfarramt bekleidet und fich als Prediger einen bedeutenden
Ruf erworben. Seiner Praxis reiht fich die
Theorie würdig an. Mit warmer religiöfer Empfindung,
feinem äfthetifchem Gefchmack und einem feelenkundi-
gen Blick verbindet der Verfaffer wiffenfehaftliche Klar-
; heit und Beftimmtheit. Wir finden die letztere vorzüg-
j lieh in den gründlich durchdachten Paragraphen, welche
nach Schleiermacher's Vorbild der weiteren Ausführung
des Stoffes voraufgehen, während diefe felbft fich einer
gewiffen behaglichen, einem niederländifchen Theologen
wohl zu Geficht flehenden Breite erfreut. Auch fehlt
nicht jener köftliche Plumor unferer nur fcheinbar fteifen
und trockenen Nachbaren, durch den die Abfchnitte: Dis-
pofition, Stil und Vortrag der Predigt ($ 31—33) angenehm
gewürzt find.

Bis jetzt liegt nur der erfte Band, nach der Einleit-
1 ung die Homiletik enthaltend, vor. Ein zweiter Theil
wird die übrigen Disciplinen der praktifchen Theologie
behandeln und wahrfcheinlich noch im Laufe diefes Jahres
erfcheinen. Damit wird dies Handbuch für junge
Theologen {Handboek voor jeugdige Godgeleerden) abge-
fchloffen fein. Es beginnt mit einer Einleitung (S. 1—23),
in welcher der Begriff diefer Wiffenfchaft, ihre Gefchichte
und ihre Behandlung beleuchtet wird. Es folgt dann
als erftes Kapitel {Jioofdstuk) das geiftliche Amt im Allge-
1 meinen (S. 24—74). Das zweite Kapitel (S. 75-447,
1 enthält die Homiletik felbft und zwar fo, dafs der Verf.
in einem vorbereitenden Theil (S. 80—211) über Begriff
und Wichtigkeit (begrip en belang), über ihre Gefchichte
und Literatur {gejcluedenis en Litteratuur), fowie auch über
ihren gegenwärtigen Zuftaüd und die an fie zu Hellenden
Anforderungen (ioesland en eisch fpricht, fodann in
dem entwickelnden Theil (S. 211—447) die principielle
(S. 211—256), die materielle (S.257—394) und die formelle
(S. 395—447) Homiletik darftellt.

Die in dem eben erwähnten vorbereitenden Theile
der Homiletik enthaltene Ueberficht über Gefchichte und
Literatur derfelben ift mit Geift und Sachkenntnifs ge-
fchrieben und fchliefst manches Urtheil in fich, dem auch
: wir beipflichten können. In Betreff Schleiermacher's
i aber mag allerdings zugeftanden werden, dafs er auch
I auf der Kanzel vor allen Dingen ,Dialektiker und Theologe
' war, doch keineswegs in dem Mafse, wie der ver-
! ehrte Verf. es auf S. 166 behauptet. Gerade die Feft-
predigten, von denen eine Weihnachts- u. eineCharfreitags-
predigt in Anfpruch genommen werden, athmen jenen
dem Begründer der neueren Theologie eigenthümlichen
Geift einer das Gemüth fo wohlthuend berührenden chrift-
lichen Herzenswärme. Dasfelbe thun auch die Predigten
über den chriftlichenHausftand, während feine,patriotifchen
Kanzelvorträge zeigen, wie unmittelbar in der Zeit liegende
und durch fie dargebotene Motive zur fegensreichen
Erbauung der Gemeinde verwendet werden können.

In der principiellen Homiletik (S. 211—256) wird
Wefen und Charakter der Predigt nach der Seite hin,
dafs jede ,Lehrrede {leerrede) eine Anfprache an die Gemeinde
von chriftlich-religiöfem Inhalt [van Christelijk
godsdienstigen inlioud)' fein foll, fehr gut präcifirt, wenn
O. fchreibt: ,Nicht an ein Auditorium, eine Schule, eine