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Ausgabe:

1878

Spalte:

438-439

Autor/Hrsg.:

Böhl, Ed.

Titel/Untertitel:

Die alttestamentlichen Citate im Neuen Testament 1878

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Litcraturzeitung. 1878. Nr. 18.

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plare getrennt fein kann als eine Handfchrift des 2.
Jahrh., während die andere mehr Stufen durchlaufen
haben mag als etwa eine Handfchrift des 10. oder II.
Jahrh. IH es doch ebenfowohl denkbar, dafs zur Her-
ftellung einer Abfchrift ein nur um wenige Decennien
älteres Exemplar, als dafs ein folches gewählt wurde,
deffen Entftehung um 4—5 Jahrhunderte weiter zurück
lag. Hiernach follte man meinen, dafs es ein grofser
Gewinn wäre, die Genealogie jeder einzelnen Handfchrift
zu kennen. In Wahrheit hülfe uns auch das nicht viel.
Denn eine einzige nachläffige Abfchrift kann mehr neue
Fehler eingeführt haben als drei oder vier forgfältige zu-
fammengenommen, und andererfeits mögen Schreiber,
welche fich ganz befondere Mühe gaben und in zweifelhaften
Fällen mehrere andere Exemplare zu Rathe
zogen, ihre unmittelbare Vorlage an Correctheit noch
übertroffen haben. Man fieht, die Schwierigkeiten find
keineswegs unerheblich. Glücklicher Weife darf man
überzeugt fein, dafs die erwähnten Unregelmäfsigkeiten
fich in der Maffe gegenfeitig neutralifiren, und wirklich
ift hiermit der Faden gefunden, welcher aus dem fchein-
bar unentwirrbaren Labyrinthe herausführt. Es fteht
nämlich nun frei, ein Durchfchnittsmafs von Abirrungen
von der urfprünglichen Reinheit des Textes für je ein
ganzes oder halbes Jahrhundert anzunehmen, woraus
fich dann der Werth der einzelnen Zeugen durch ein
einfaches Rechenexempel ergiebt. Nennen wir das Verhältnifs
der Textesverderbnifs zu dem unverfehrt gebliebenen
Theil in den Abfchriften eines Jahrhunderts
etwa r, fo Hellt fich das Verhältnifs für n Jahrhunderte
wie Ii (I 4- r) "—1, und die Zeugenwerthe find log. r
und log. (1 + r) "—1 (S. 28).

Das Verfahren wäre nun (mit Anwendung der Logarithmentafel
; fehr einfach, wenn man vorausfetzen
dürfte, dafs die Abirrung von der urfprünglichen Reinheit
zu allen Zeiten fich gleich geblieben. Dem ift jedoch
keineswegs fo. Vielmehr lehrt uns die Gefchichte
des Textes, dafs es in der allererften Zeit damit am
fchlimmften beftellt gewefen ift, und man wird nicht
irren, wenn man annimmt, dafs der Zeitraum von Ab-
faffung der Evangelien und Epifteln bis zum Jahre 100
in Anfehung der Textesverderbnifs mindeftens zwei
vollen Jahrhunderten, und dafs ferner vom Jahre 100 bis
2CK) jedes Vierteljahrhundcrt einem vollen Jahrhundert
der fpäteren Zeit gleichkommt. So ergiebt fich alfo als
Index (») für das Jahr ICO: 2, für 200: 6, für 300: 10.
Von hier ab zeigt fich eine Verbefferung des Textes
(eine Nachwirkung namentlich der Bemühungen des Ori-
genes) durch zwei und ein halbes Jahrhundert, fo dafs
wir folgende Scala gewinnen: Für das Jahr 250 ift n —
8, für 300 = 10, für 350 = 94, für 400 = 9, für 450 =
8£,, für 500 und bis 650 = 8, für 700 (feit 650 geht es
wieder bergab) = 8!, , für 750 = 9, für 800 = 9J , für
850 = 10, u. f. w. bis 1550 = 17 (S. 61).

Der Werth von r bleibt fchwankend, je nachdem
man, den dritten Theil eines Verfes (3 Wörter) als Einheit
angenommen, den Procentfatz der Abirrungen für
ein Jahrhundert mit 2j-, 4 oder 5 anfetzt; doch hat er-
ftere Zahl die gröfste Wahrfcheinlichkeit für fich, während
letztere die äufserfte denkbare Grenze darfteilt.
Da aber auch noch Schwankungen zwifchen diefen
Sätzen vorkommen können, fo find die auf zwei Tafeln
die verfchiedenen Zeugenwerthe darfteilenden Logarithmen
je für 1, 2, 2, 3, 3$, 4, 4! und 5 Procent ausgerechnet
.

Das Endrefultat, welches vermöge der zwingenden
Logik, die zu demfelben geführt, als unerfchütterlich
gelten darf (S. 124), ift kurz diefes: Die jüngeren Hand-
fchriften, vom 9. Jahrh. abwärts gerechnet, übertreffen
zufammengenommen an Zeugenwerth fämmtliche Väter,
Ueberfetzungen und Uncialen entweder (je nachdem
man 2 , 4 oder 5 Procent Abirrungen auf ein Jahrhundert
rechnet), 4mal oder 3mal oder 2mal (S. 81). Im

Einzelnen Hellt fich das Verhältnifs fo, dafs (im wahr-
fcheinlichHen Falle, d. h. bei 2 Procent) eine Handfchrift
des 4. Jahrh. von zweien des 11. (oder dreien des
15., S. 31) aufgewogen wird u. f. w. Was die alten Ver-
fionen anbetrifft, fo Hellt jede von ihnen einer Handfchrift
des Jahrhunderts, welchem fie angehört, ungefähr
gleich, dagegen wiegt ein Kirchenvater durchfehnittlich
5 oder 6 alte Handfchriften auf (S. 62).

Der Verfaffer des Buches, deffen Inhalt den Lefern
der Literaturzeitung in kurzen Zügen vorzuführen Ref.
fich nicht hat verfagen können, nennt fich ,Knightbridge
Profeffor, Cambridge, and Hon. Canon of Ely'. Diefer
UmHand, fowie der bittere ErnH, von welchem das Ganze
getragen iH, und die offen am Tage liegende Tendenz,
im Hinblick auf die im Werk begriffene Revifion der
englifchen Bibelüberfetzung den texttis reeeptus wiffen-
fchaftlich zu rechtfertigen, laffen den Gedanken an eine
etwa beabfichtigte Myftification gar nicht auf kommen.
Halle. O. Gebhardt.

Böhl, Prof. Dr. Ed., Die alttestamentlichen Citate im

Neuen TeHament. Wien 1878, Braumüller. (XXVIII,
352 S. gr. 8.) M. 6. —

Die Beobachtung, dafs die altteHamentlichen Citate
im N. T. häufig fowohl der Form als dem Sinne nach
vom Texte des A. T.'s differiren, hat den Vertretern
der alten Infpirationslehre fchon manches Kopfzerbrechen
verurfacht und zu allen möglichen Verfuchen geführt,
die fraglichen Differenzen durch exegetifche Kunfi zu be-
feitigen. Neu und originell aber iH das Radicalmittel,
durch welches Böhl die Hermeneutik des N. T.'s endlich
,von diefem fchweren Uebel' befreit hat (S. V.). Er
hat nämlich, wie man bereits aus feinen ,Forfchungen
nach einer Volksbibel zur Zeit Jefu' (Wien 1873)
weifs, eine ,Volksbibel' erfunden, welche den Text des
A. T.'s an allen fraglichen Stellen fchon genau fo enthielt
, wie er im N. T. citirt wird. Diefe Volksbibel war
im Wefentlichen nichts anderes als eine Uebertragung
derSeptuaginta in's Aramäifche. Doch war auch der Septua-
gintatext hier wieder mannigfach abgeändert und umge-
ftaltet. Nämlich an allen denjenigen Stellen, an welchen
das NT1. Citat nicht mit den LXX übereinHimmt, iH anzunehmen
, dafs der Wortlaut desfelben aus der Volksbibel
entnommen iH. Diefe Volksbibel war nun der
eigentliche textus reeeptus zur Zeit Jefu ChriHi. Aus ihr
haben Jefus und die ApoHel citirt. Daraus erklärt es
fich, dafs auch die Citate Jefu fo vielfach mit den LXX
übereinHimmen, während doch Jefus die LXX felbH ge-
wife nicht benützt hat. Daraus erklärt und rechtfertigt
es fich aber ferner, dafs manche Citate weder mit dem
Grundtext, noch mit den LXX übereinHimmen. Denn
diefe find eben aus der Volksbibel entnommen. Und
fo kann denn unfer Verf. mit Holzer Zuverficht fich
deffen rühmen, durch feine Entdeckung ,mit einem Schlage
hundert und mehr Steine des AnHofses auf dem Boden
der neutefiamentlichen Exegefe weggeräumt' (S. VIII),
und ,die neuteHamentliche Kritik von einem drückenden
UebelHande auf die Dauer befreit' zu haben (S. XV).—
Man könnte dem Verf. feine Freude gönnen, wenn es
nur nicht fo überaus betrübend wäre, dafs ein Theologe
heutzutage wirklich noch meinen kann, dem ChriHenthum
und der Kirche Jefu ChriHi durch ein folches Mittelchen
einen apologetifchen Dienfl erwiefen zu haben. Jedermann
fieht ja — und der Verf. felbH verräth S. VIII—IX
eine Ahnung davon —, dafs ein falfches Citat durch Ein-
fchiebung eines folchen Mittelgliedes an Richtigkeit nicht
gewinnt. Das vermeintlich AnHöfsige, die Abweichung
vom ATI. Texte, bleibt nach wie vor beflehen. Zwar
werden die NTlichen Autoren von dem Vorwurf der
,Willkür' befreit; aber flatt deffen mit dem eben fo
fchweren der Benützung eines anHöfsigen Hilfsmittels be-
laHet (infofern nämlich die Abweichung vom Grundtext