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Ausgabe:

1878 Nr. 16

Spalte:

399-400

Autor/Hrsg.:

Wiese, L.

Titel/Untertitel:

Ueber den sittlichen Werth gegebener Formen. Ein Vortrag 1878

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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399

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 16.

400

Lehre fleht und fällt. Wird trotzdem die Verbalinfpi-
1 ation fchliefslich abgelehnt, was nach dem vorangehenden
in Staunen verfetzt, fo kommt doch die vom Verf.
beliebte künftliche Ineinanderfchiebung des göttlichen
und menfchlichen Factors auf dasfelbe hinaus. Gott ift
der Verfaffer der Schrift, und jeder Irrthum daraus aus-
gefchloffen.

Es ift demnach überflüffige Mühe, hier über den
Inhalt der Schrift im Einzelnen zu berichten. Nur eins
erwähne ich, welches das rechte Licht auf das ganze
Buch wirft. Die heilige Schrift ift kein wiffenfchaftliches
Lehrbuch, dennoch ift ihre Sprache oft wiffenfchaftlich
genau zum Beweis, dafs die heil. Schriftfteller entweder
mit den Entdeckungen der Wiffenfchaft bekannt oder
durch eine höhere Intelligenz geleitet waren. Z. B. ift
Deut. 32, 24 von einem Verbrennen durch Hunger die
Rede. Und der berühmte Liebig hat 3CXX3 Jahre, nachdem
Mofes diefe Worte fchricb, entdeckt, dafs mit dem
Hungertod eine langfame Verbrennung des Körpers eintritt.
Hiob 26, 7 wird in der erften Vershälfte eine mögliche Beziehung
auf die Bewegung der Erde um die Sonne und in
der zweiten eine fichereBeziehung auf das von Newton entdeckte
Gravitationsgefetz gefunden. Oder wenn es Hiob
28, 25 von Gott heifst, er mache das Gewicht für die
Winde, fo ift darin unverkennbar der Barometer vorgedeutet
u. dergl. mehr. Diefe Art Apologetik ift vielleicht
gut gemeint, kann aber nur dazu dienen, die Würde
der Schrift herabzufetzen und das Anfehn des Chriften-
thums zu fchädigen. Diefe ganze Verquickung aber des
chriftlichen Glaubens mit der Infpirationslehre ift eine
Verfälfchung der chriftlichen Religion. So baut man
nicht, fondern zerftört, indem man zu bauen meint.
Bafel. J. Kaftan.

Wiese, Dr. L., Ueber den sittlichen Werth gegebener Formen
. Ein Vortrag. Berlin 1878, Wiegandt & Grieben.
(48 S. 8.) M. — 75.

Der Titel dicfes Vortrages erweckte im Ref. die
Erwartung, dafs fich derfelbe auf die Bedingungen der
allgemeinen und der häuslichen Gefelligkeit befchränken
werde. Der Redner hat aber auch die Ordnung des
Staates und der Kirche unter fein Thema fubfumirt.
Dadurch wird nicht nur ein in der Kürze unüberfehbarer
Stoff vor die Anfchauung geftellt, fondern auch Ver-
fchiedenartiges unter Einen Gefichtswinkel gerückt. Denn
bei Staat und Kirche handelt es fich nicht blos um gegebene
Formen, fondern um gefetzliche Normen. Weil
diefe Abftufung als folche nicht beachtet wird, fo kommt
zunächft die fittliche Beurtheilung der Gefelligkeit nicht
zu den feften Grundfätzen, welche gefunden werden
müffen, auch indem der gefellige Verkehr bei verfchie-
denen Völkern und in den wechfelnden Gefchichtsepochen,
wie auch bei verfchiedenen Ständen abweichende Formen
hervorbringt. Bei dem kurzen Blicke, welchen der Verf.
auf den Staat, nämlich unfern deutfchen Staat des letzten
Menfchenalters wirft, hebt er mit Recht hervor, dafs
die Unficherheit, welche hier erreicht ift, daher rührt,
dafs ein fremdes Mufter gegen die früher erreichte Ver-
faffung und innerhalb derfelben zur Geltung gebracht
ift. Bei feinen Erörterungen über die Kirche würde es
fich empfohlen haben, wenn er denfelben Gefichtspunkt
für die hier eingeriffene Unordnung genommen hätte. In
der deutfch-lutherifchen Kirche werden die gegebenen
Formen verkannt, weil feit 200 Jahren der Pietismus das
fremde Mufter der calviniftifchen Freikirche, weiterhin
das fremde Mufter einer asketifchen Vollkommenheit zur
Geltung gebracht hat. Und war nicht die amerikanifche
Freikirche das Ideal Schleiermacher's, welches jetzt den
meiften Kirchenmännern im Blute fteckt? Der Pietismus
ferner hat zuerft am kirchlichen Bekenntnifs gerüttelt.
Das dient freilich nicht zur Entfchuldigung derjenigen,
welche den aufgeklärten Individualismus zur Macht in

der Kirche erheben wollen. Diefelben find darin fchon
fo weit gekommen, dafs fie die religiöfe Gefelligkeit, als
welche fie die Kirche taxiren, nicht einmal mehr den gegebenen
Formen anzufchmiegen bedacht find. Allein
wer hat zuerft die religiöfe Gemeinfchaft in die Gefelligkeit
der übereinftimmenden Individuen aufgelöft, und
um die gegebenen Formen fich nicht gekümmert?

Göttingen. A. Ritfchl.

Erdmann, Prof. Dr. Joh. Ed., Grundriss der Geschichte
der Philosophie. 2 Bde. 3. verb. Aufl. Berlin 1878,
Hertz, gr. 8. M. 24. —

Inhalt: I. Philofophie des Alterthums und des Mittelalters. (XII.
620 S.) M. 10. —. — 2. Philofophie der Neuzeit. (XII, 872 S.)
M. 14. —

Dafs diefer Grundrifs im Verlauf von reichlich zehn
Jahren bereits zum dritten Mal erfcheint, beweift am
bellen, dafs er einen grofsen Leferkreis gefunden hat
und von vielen gefchätzt wird. Die Erweiterungen der
neuen Auflage betreffen vorzüglich einzelne beftimmte
Punkte, die in der Vorrede angegeben find. Daneben
ift natürlich durchgehends eine gröfsere Vollftändigkeit
und Abrundung erftrebt. Der Verfaffer felbft äufsert fielt
unzufrieden über den zweiten Theil des Anhanges, weichet
die neueren Verfuche zum Wiederaufbau der Philofophie
behandelt. Er felbft vermifst die Vollftändigkeit darin;
zum Weglaffen des Abfchnittes habe er fich aber nicht
entfchliefsen können, weil das Publikum ein Recht auf
das Buch in feiner alten Geftalt habe. Die Erweiterung
deffelben zu einem dritten Band fei dagegen durch die
Rückficht auf den Verleger verboten gewefen.

Eine ins einzelne gehende Recenfion ift weder bei
einer dritten Auflage am Platz, noch gehört fie bei einer
Gefchichte der Philofophie an diefen Ort, da fie Sache
des Fachmanns und der Fachzeitfchriften ift. Hier fei
es geplattet, durch Erinnerung an die Vorzüge des Buchs
daffelbe auch in diefer neuen Auflage zur Benützung zu
empfehlen. Als Vorzug des Erdmann'fchen Grundriffes
erfcheint mir ein dreifaches. Erftens wird hier der Ver-
fuch gemacht, die Gefchichte der Philofophie felbft philo-
fophifch darzuftellen. Es wird ein Zufammenhang zwi-
fchen allen diefen Erfcheinungen des Geifteslebens auf-
gefucht und, wie bei einem folchen Vorhaben unvermeidlich
ift, conftruirt. Freilich bleibt es ein Vcrfuch, und man
kann über das Gelingen deffelben verfchieden urtheilen.
Da es fich aber in aller Philofophie der Gefchichte um
die letzte und höchfte Aufgabe der Wiffenfchaft handelt,
fo ift es kein Tadel, dafs er nicht fchlechtweg als gelungen
bezeichnet werden kann; der Verfuch felbft, mit

I nicht gewöhnlichen Mitteln gemacht, bleibt ein Vorzug,
weil er, was heute fo nöthig wie je, an jene letzte höchfte
Aufgabe erinnert und fie namentlich auch dem Schüler,

i der durch das Buch in die Philofophie eingeführt wird,
zum Bewufstfein bringt. Als ein Vorzug mufs weiter
gelten, dafs überall der Zufammenhang eines philofo-
phifchen Syftems mit den übrigen gefchichtlichen Fac-
toren, unter denen es entftanden ift, in Betracht gezogen
wird. Dadurch wird beides: die Darftcllung lebendiger
und das Verftändnifs allfeitiger. Die Philofophie erfcheint
nicht als ein einzelnes Stück des geiftigen Lebens,

j als Domäne des abftract-theoretifchen Denkens, fondern,
wie fie es ift, von überall her beeinflufst, als umfaffender
Verfuch, über die Welt zu orientiren und das Leben zu
ordnen. Endlich ift es ein Vorzug, dafs nicht blofs die
bahnbrechenden Geifter, fondern auch die Gröfsen zweiten
Rangs eine eingehende Berückfichtigung finden, was
namentlich bei einem Grundrifs befonders anzuerkennen ift.

Freilich haben diefe Vorzüge auch ihre Schattenfeiten
. Die Conftruction der Uebergänge und Zufammen-
hänge ift oft reichlich gewagt. Die Vergleiche und Paral-

| lelifirungen beftimmter philofophifcher Syfteme mit an-