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Ausgabe:

1878 Nr. 16

Spalte:

395-397

Autor/Hrsg.:

Baumgarten, M.

Titel/Untertitel:

Lutherus redivivus od. die kirchliche Reaction, ihre Gefahr und ihre Ueberwindung 1878

Rezensent:

Plitt, Gustav Leopold

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 16.

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rEvang. des Hebreux ou sc/on /es Hebreux, l'Evang. des
chretiens des Nazareens, VEvang. des Ebionites, ne sont que
/es divers noms d'un Evang., qui fut le meme au commen-
cement. Es find Bearbeitungen des vom Apoftel Matthäus
aramäifch gefchriebenen und fpäter von ihm felbft
oder doch unter feinen Augen griechifch überfetzten
Evangeliums. In dem zweiten Cap. foll die Gefchichte
der apocr. Ew. im Orient vorgeführt werden. Die Ausführungen
find aber fehr ungenügend. In dem 3. Cap.
endlich folgt die Gefchichte der apocr. Ew. im Abendlande
(S. 413—458). Ref. hat aus diefem Abfchnitte
manches gelernt; er ift ihm der werthvollfte des ganzen
Buches gewefen. Aber damit ift weder gefagt, dafs die
vom Verf. gegebenen Nachweifungen irgend vollftändig
wären, noch dafs auch Andere jedenfalls aus ihnen
Neues erfahren müfsten. In einem Epiloge (S. 459—493)
fafst der Verf. feine Refultate zufammen. Dabei tritt
das apologetifche Intereffe, die Glaubwürdigkeit der ka-
nonifchen Ew. durch die Betrachtung der apocryphifchen
zu ftützen, welches das ganze Buch durchzieht, noch
einmal unverhüllt hervor. Wer aber noch in der Vor-
ftellung befangen ift, die Unterfuchungen über das evang.
tnfantiae, den descensus etc. trügen zur Apologie der
kanonifchen Ew. irgend etwas bei, der beweift, dafs
ihm die elementarften Einfichten über den Urfprung und
Charakter beider Schriftgruppen noch fehlen und dafs
er trotz Forfchungen über die Worte ,apocryph' und
,Evangelium' noch unter dem Banne diefer Wörter fleht.
Leipzig. Ad. Harnack.

Baumgarten, Prof. D. M., Lutherus redivivus od. die kirchliche
Reaction, ihre Gefahr und ihre Ueberwindung. Frankfurt
a/M. 1878, Heyder & Zimmer. (256 S. gr. 8.)
M. 4. —

Was Baumgarten fchreibt, ift meift anregend und
packt den Lefer; aber gewöhnlich erweckt es auch Bedenken
und ruft fJen Widerfpruch hervor. So ift es auch
bei diefer feiner neueften Schrift, die nicht wiffenfchaft-
liche, fondern praktifche Ziele verfolgt, und fich allerdings
an die evangelifchen Theologen, aber eben fo fehr
auch an andere evangelifche Männer wendet, welche
Chriftum und ihr deutfches Vaterland lieb haben.

B. geht davon aus, dafs jetzt diejenige Frage, welche
am tiefften die Geifter in deutfchen Landen aufrege,
heifse: ift Luthers Wirken ein titanifcher Frevel an der
Chriftenheit und an der deutfchen Nation gewefen, oder
foll es fich erfüllen, was der Reformator wiederholt in
Ausficht geftellt, dafs der todte Luther vollenden werde,
was der lebendige angefangen? Luthers Seele, Wirken,
Kämpfen, Leiden, fagt er, war getragen von dem Gegen-
fatz zwifchen Chriftus und dem Papfte. Diefer Gegen-
fatz befteht auch jetzt noch in vollfter Schärfe, denn
das Papftthum hat nichts von feiner Art aufgegeben,
vielmehr fich nur in demfelben verfertigt. Leider aber
ift der Proteftantismus mattherzig geworden, indem er
nicht alles papiftifche Wefen von fich abgeftreift hat.
Es gilt alfo hiergegen zu zeugen, dies zu beffern. Soll
nicht die Errungenfchaft der Reformation unferm Volke
verloren gehen, fo müffen wir Lebende von dem todten
Luther lernen und der kirchlichen Reaktion entgegen
treten. — B. will die drohende Gefahr zeigen in dem:
,die Spuren einer zwiefachen noch nicht vergeffenen Vergangenheit
' überfchriebenen Abfchnitt. Er fchildert den
unheilvollen Bund der politifchen Reaktion mit dem offiziellen
Kirchenthum nach den Freiheitskriegen und nach
dem Jahre 1848 und geht hier in ein fcharfes, aber nur
zu gerechtes Gericht mit der Kreuzzeitung. Dafs die
Gefahr jetzt gefteigert fei, entwickelt der nächfte Abfchnitt
: ,Die durch den Vatikanismus verfchärfte Krifis
der Gegenwart'. Er bringt den Nachweis, dafs der Angriff
von Rom und nicht vom Staate ausgegangen fei,
und dafs zwifchen dem Staate und dem vatikanifchen

Rom die Möglichkeit eines ehrlichen und aufrichtigen
Friedens gar nicht beftehe. Mit Recht werden diejenigen
fcharf getadelt, welche nach noch nicht zehnjährigem
Kampfe fich für müde erklären. Wenn fie die Bedeutung
des Streites nicht beffer erkannt hätten, feien fie
gar nicht berechtigt gewefen, in denfelben einzutreten.
Vielmehr gelte es auszuharren, und vorwärts zu gehen
auf dem von Luther bezeichneten, wenn auch nicht innegehaltenen
Wege. Und nun, in dem Abfchnitt: ,die
weltliche Korrektur eines verjährten kirchlichen Irrthums',
kommt er erft recht auf Luther zu fprechen. Seinen Ausgang
nimmt er von der bekannten Stelle in der Gottes-
dienftordnung von 1526, wo Luther von der rechten
chriftlichen Sammlung oder Gemeinde redet, eine Stelle,
zu welcher B. Parallelen gefunden hätte in zwei etwas
früheren Predigten Luthers. WW. 2. Aufl. Bd. II, 205 ff.,
211, u. 15, 168, 179. Er zeigt, wie die da lieh kundgebende
Anfchauung von der chriftlichen Gemeinde ganz zur Schrift
ftimme und wie fie von dem Reformator niemals aufgegeben
, vielmehr durch feine Klagen über die kirchliche
Gegenwart und durch fo manche andere Ausfprüche immer
wieder beftätigt fei. Aber leider habe man bald, wenn
auch nicht mit Luthers Willen, fo doch unter feinem Ge-
fchehenlaffen in die Bahnen des ftaatskirchlichen Wefens
eingelenkt und dadurch die Kraft der evangelifchen
Kirche in Deutfchland gelähmt. ,Die fcheinheilige Lüge
des Staatskirchenthums', wie B. ganz mit Recht fagt,
; habe das Chriftenthum unfäglich gefchädigt und bringe
; ihm noch alle Tage Schaden. Da müffe man es alfo
mit Freude und Dank begrüfsen, dafs endlich der Staat
angefangen habe, diefem fchlimmen Zuftande, der nach
I Luther nur ein ungehöriges Proviforium fei, ein Ende zu
! machen, indem er die Buchführung über feine Angehörigen
in die eigne Hand nahm, den Austritt aus der Kirche
ohne bürgerlichen Nachtheil ermöglichte und Tauf- und
Trauzwang befeitigte. B. thut wohl daran, dafs er fich
i jener vielbefchrieenen Gefetze freut und dem Jubel feines
1 Herzens Luft macht; denn fie find in der That eine
Wohlthat für die Kirche. Aber freilich werden fie noch
von Vielen nicht als folche angefehen, fondern als fchäd-
lichc beklagt und bekämpft. Das giebt ihm Anlafs zu
einem neuen Abfchnitt: ,Die Gefahr eines Rückfalls
durch geiftlichen Unverftand', in welchem er dem feit
Konftantin eingeriffenen Staatskirchenthum und dem
Papftthum noch fchärfer zu Leibe geht, die Mattherzigkeit
derer beklagt, die den dadurch angerichteten Schaden
erkennen und doch nur fchweigen, und den Unverftand
derer rügt, die in einem Rütteln an dem bisherigen
Zuftand fchwere Gefahr für die Kirche erblicken. Man
kann ihm nicht Unrecht geben, wenn er befonders den
Widerftand gegen das Civilehegefetz tadelt und einfach
1 und rund verlangt, dafs man feitens der evangelifchen
Kirche das ,Zufammenfprechen' jetzt aufgebe und fich
; auf das Segnen und Weihen mit dem Worte Gottes und
Gebet befchränke. Das ift es, was Luther gemeint und
gewollt hat; fordert man mehr, fo verlangt man zuviel
und befördert Unklarheit und Irrthum. — Wie fich die
Zukunft Deutfchlands und der evangelifchen Kirche in
ihm geftalten könne, wenn man dem von Luther Erkannten
Raum gebe und darnach handle, was demgemäfs von
den Evangelifchen zu thun fei, und wie davon die Kirche
fowohl wie der Staat den gröfsten Vortheil erwarten
dürfen, entwickelt der letzte Abfchnitt: ,Die Ausficht der
Hoffnung'.

Dies ift in kurzen Zügen der Gedankengang des
Buches, das leider in einer ermüdenden Breite gefchrie-
ben ift, die manchen Lefer frören wird. Aber anderer-
feits merkt man doch überall den heiligen Eifer für die
Sache, um die es dem Verf. zu thun ift, und glühende
Liebe zur Kirche und zum Vaterlande, die ihn erfüllt;
und das hilft über Vieles hinweg. In den gefchicht-
lichen und dogmatifchen Einzelheiten giebt es gar Manches
, was zu beanftanden wäre, wie auch manche Vor-