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Ausgabe:

1878 Nr. 15

Spalte:

359-363

Titel/Untertitel:

Codex Aureus sive quattuor evangelia ante Hieronymum Latine translata 1878

Rezensent:

Gebhardt, Oscar

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 15.

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der Diafpora ein Judenthum gab, für deffen Bewufstfein
der Cultus und das Ceremonialgefetz verhältnifsmäfsig !
von untergeordnetem Belang waren, während ihm die j
bildlofe monotheiftifche Gottesverehrung und der Glaube j
an eine künftige jenfeitige Vergeltung als die eigentlich !
wefentlichen Merkmale des Judenthums im Vordergrunde
ftanden. Nur fo erkärt es fich, dafs der Verf. bei feiner
Polemik gegen den heidnifchen Cultus ganz vergifst, !
dafs davon ftreng genommen auch der jüdifche betroffen I
würde. — Wir dürfen uns diefe Art des helleniftifchen |
Judenthums wohl als ziemlich verbreitet vorftellen: die 1
ganze fibyllinifche Literatur giebt davon Zeugnifs. Und I
es ift wichtig, fich diefe Thatfache klar zu machen.
Denn nur daraus erklärt fich die ungeheure Menge der
jüdifchen Profelyten. Wie unfere Sibylle vom Ceremonialgefetz
gänzlich fchweigt, und als die Hauptthemata
ihrer Predigt nur die Verehrung des einen wahren Gottes
und das künftige Gericht in den Vordergrund ftellt, I
wie fie von den bekehrten Heiden nicht die Befchneid-
ung, fondern nur das Reinigungsbad verlangt (V. 164),
fo wird in ähnlicher Weife auch die jüdifche Propaganda
in weiten Kreifen verfahren fein. Man nahm es mit der j
Beobachtung des Ceremonialgefetzes felbft nicht genau
und liefs es darum auch bei der propagandiftifchen Thä-
tigkeit fehr in den Hintergrund treten: die Bekehrung
zu dem einen wahren Gott und der Glaube an eine künftige
Vergeltung war die Hauptfache; vom Ceremonialgefetz
wurden nur gewiffe Einzelheiten beibehalten.
Auf diefe Weife gewann das Judenthum jene ungeheure
Maffe von Profelyten, die wir gleichfam als ein Judenthum
zweiter Ordnung bezeichnen können: ein Judenthum
ohne Beibehaltung des mofaifchen Gefetzes. —
Diefe Thatfachen verdienen aber deshalb von Seite des
chriftlichen Theologen befondere Beachtung, weil fie
vermuthlich fehr wefentlich dazu beigetragen haben,
dafs fich fchon bald nach Auftreten des Chriftenthums
gefetzesfreie chriftliche Gemeinden auch da bilden konnten
, wohin der Einflufs des Apoftels Paulus noch nicht
gelangt war, wie z. B. in Rom (vgl. Weizfäcker, Ueber
die ältefle römifche Chriflengemeinde, Jahrbb. f. deutfehe
Theol. 1876). Ja wenn, wie gegenwärtig immer mehr
anerkannt wird, die Entftehung der grofsen gefetzesfreien
Heidenkirche überhaupt nur fehr theilweife auf die Wirk-
famkeit des Paulus zurückzuführen ift, dann bedarf es
zur Erklärung ihrer Genefis eines Mittelgliedes zwifchen
ihr und dem gefetzesftrengen Judenthum. Und diefes
Mittelglied kann nur jenes Judenthum der Diafpora fein,
welches das mofaifche Gefetz mehr oder weniger in den
Hintergrund geftellt und auf den Glauben an den einen
wahren Gott und an das künftige Gericht als auf die
eigentlich wefentlichen Punkte im Judenthum das Hauptgewicht
gelegt hatte.

Leipzig. E. Schürer.

Codex Aureus sive quaüuor evangelia ante Hieronymum
Latine translata. E codice membranaceo partim pur-
pureo ac litteris aureis inter extremum quintum et
iniens septimum saeculum, ut videtur, scripto, qui in
regia bibliotheca Holmiensi asservatur. Nunc primum
examinavitatque adverbum transcripsit et ediditJoannes
B eis heim. Christianiae 1878, P. T. Mailing. (LVI,
384 S., 5 Taf. gr. 8.) M. 20. —

Obwohl fchon feit längerer Zeit als Pracht- und
Schauftück der königlichen Bibliothek zu Stockholm bekannt
, fcheint der Codex Aureus doch in Bezug auf feinen
Inhalt einer näheren Unterfuchung nicht unterzogen worden
zu fein, bis im Jahre 1875 Flerr Belsheim fich dazu
entfchlofs, den Werth diefer durch hohes Alterthum
nicht minder als durch den Glanz der äufseren Erfchei-
nung ausgezeichneten Bibelurkunde feftzuftellen. Eine
Vergleichung mit dem Texte der Vulgata ergab mehrfache
Abweichungen von diefer, dagegen öftere Ueber-
einftimmung bald mit mehreren, bald mit einem oder
dem anderen der uns erhaltenen Denkmäler vorhierony-
mianifcher Verfionen, und diefer Entdeckung verdanken
wir die vorliegende mit Fleifs und Sorgfalt gearbeitete
Publication, für welche dem Herausgeber fowohl als der
Gefellfchaft der Wifsenfchaften zu Chriftiania, welche
einen Theil der Herftellungskoften auf fich genommen,
aufrichtiger Dank gebührt.

Der Text der vier Evangelien (vollftändig bis auf
Luc. 21, 9—30) ift mit Worttrennung, aber mit Beibehaltung
der Columnen und Zeilen der Handfchrift wiedergegeben
. Voraus gehen Prolegomena, welche auf 18
Seiten (p. V—XXII) von der äufseren Geftalt, der Schrift,
Diction, Orthographie, den Schickfalen, dem Vatcrlande
und dem Alter der Handfchrift handeln. Daran fchliefst
fich (p. XXIII—LVI) eine Vergleichung des Textes mit
dem der Vulgata, unter Berückfichtigung der bekannten
,Itala'-Refte und hier und da auch einiger Handfchriften
des Urtextes. Den Schlufs (S. 383 f.) macht ein Ver-
zeichnifs der im Hinblick auf die häufigen Verftöfse gegen
Orthographie und Grammatik nicht eben zahlreichen
Correcturen verfchiedener Hände. Beigegeben find endlich
fünf wohlgelungene Tafeln Facfimile, welche die
Miniaturen und Verzierungen, die Schrift und die Farbe
des Pergaments zur Anfchauung bringen.

Für das Alter der Handfchrift ergiebt fich aus einer
altenglifchcn Auffchrift (fol. 11) nur foviel, dafs fie nicht
nach der Mitte des 9. Jahrh. entftanden fein kann; dem
Schriftcharaktcr nach fcheint fie etwa dem 6. oder dem
Anfang des 7. Jahrh. anzugehören. Ueber den Ort der
Herftellung hat fich nichts Sicheres ermitteln laffen. Für
angelfächfifchen oder irifchen Urfprung Rheinen Figuren
und Ornamente (nicht auch das Zeichen h'=autem?) zu
fprechen, für italifchen namentlich die grofsen runden
Züge der Schrift. Beides fände feine Erklärung, wenn
man den Schreiber und Zeichner etwa in dem von Co-
lumban geftifteten Klofter Bobio fuchen dürfte, in welchem
Falle dann die Abfaffungszeit dem 6. Jahrh. entrückt
und auf den Anfang des 7. befchränkt würde.

Der Anficht des Herausgebers, dafs wir in der
Stockholmer Evangelienhandfchrift eine vorhieronymia-
nifche Ueberfetzung vor uns haben, fcheint auf den
erften Blick die Verbindung derfelben mit der Epistulü Hie-
ronymi adDamasum, der Eufebianifchen Canonentafel und
den bekannten Prologen zu den einzelnen Evangelien
(nur der Prolog zu Matthäus fehlt) zu widerfprechen.
Wenigftens giebt fich B. alle mögliche Mühe den Nachweis
zu führen, dafs diefe Stücke, den Prolog zu Lucas
und die Canonentafel allein ausgenommen, dem Codex
Aureus erft von fpäterer Hand einverleibt wurden. Die
dafür geltend gemachten Gründe (Verfchiedenhcit des
Pergaments und der Schrift) machen diefe Vermuthung
allerdings fehr wahrfcheinlich. Nur ift der Beweis dadurch
unvollftändig geblieben, dafs er nicht auch an
einer näheren Unterfuchung der Pergamentlagen, aus
welchen die Handfchrift zufammengefetzt ift, die Probe
beftanden hat. In der That ergeben fich, bei einer Zu-
fammenftellung der erhaltenen und mit abgedruckten
] Quaternionenzahlen, an allen in Betracht kommenden
Stellen mehr oder weniger auffallende Unregelmäfsig-
keiten, welche fich vielleicht unter der obigen Voraus-
fetzung in befriedigender Weife erklären laffen. Doch
müfste man, um ficher urtheilen zu können, die Handfchrift
felbft darauf hin genauer anfehen. Was der Herausgeber
p. VI beibringt, reicht nicht einmal aus, die
auffallende Erfcheinung zu erklären, dafs die ,Quater-
nionen' hier zum gröfsten Theil (18 von 26; fo ift p. VI
ftatt 25 zu lefen) aus 7 (alfo 2 >< 3 Vi ?) Blättern beliehen.
Dem fei aber wie ihm wolle. Gefetzt, der Beweis für
fpätere Einfchaltung der incriminirten Stücke wäre vollftändig
geführt, fo wäre damit doch fchlechterdings
> nichts gewonnen. Denn da der Prolog zu Lucas, wie