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Ausgabe:

1878 Nr. 14

Spalte:

340-345

Autor/Hrsg.:

Reuter, Hermann

Titel/Untertitel:

Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des achten Jahrhunderts bis zum Anfang des vierzehnten. 2. Bd 1878

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 14.

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geficht zu Angefleht'. Verlockend ift es auch, wenn er
uns ebenda verfpricht, dafs die äufsere Gefchichte der
Kirche, Krieg und Kriegslärm, Kampf um weltlichen
ßefitz und gewaltfame Gleichmacherei und alles Derartige
uns wenig befchäftigen foll — Verfolgungen, Ketzereien,
Aberglaube, barbarifche Sitten, das ungebührliche Vorwiegen
weltlichen Einfluffes und jüdifcher Denkweife,
das zeitweife Verfchwinden geiftigen Lebens hinter dem
Rüftzeug fcholaftifcher Argumente — alles das erfcheint
uns nur als ein Weg hin zu dem kommenden Licht, als
Lectionen, welche das Chriftenthum in feiner Schulzeit
zu lernen hatte, um reif zu werden für die Pflichten und
Arbeiten fpäterer Jahre'. Leider fcheint das Chriftenthum
feine ,Lectionen' dann doch nicht gut ,gelernt'
und mit der Reformation die Mündigfprechung noch
nicht erreicht zu haben, denn diefelben Kämpfe und
Geiftesrichtungen kehren ja auch nach diefer noch
wieder, wenn auch unter anderen Verhältnifsen und Namen.

Vom fünften Capitel an entfaltet nun der Verf.
Schritt für Schritt feinen Grundgedanken, und er thut
dies in der nachdrücklichen Weife eines Homileten, der
bei jedem einzelnen Abfchnitt wieder auf den Zufammen-
hang mit dem Ganzen hinweift, nachdem er bereits vorher
die Ueberficht über das Schema gegeben hat. Dem
leidigen Grundgedanken zufolge wird hier die herrliche
Zeit der erften Liebe und der erften Märtyrer als in-
fancy nnd cliildhood qualificirt, und rathlos bleibt der auf-
merkfame Lefer, wenn er z. B. dem religiöfen Genius
von Tarfos hier feine Stelle anweifen foll. Aber noch
fchlimmer ift ein anderes Moment. Ein Werk wie das
vorliegende, wenn man auch den Verf. von durchgreifendem
, alle Theile gleichmäfsig berührendem Quellen-
ftudium freifprechen will, foll doch um fo mehr das Facit
ziehen aus den Arbeiten und Errungenfchaften der vorangegangenen
Zeit — aber vergeblich würde der Lefer
erwarten, hier einen Niederfchlag der grofsartigen Unter-
fuchungen zu finden, welche der hiftorifch-kritifchen
Schule in Deutfchland ihre Anregung und Durchführung
verdanken. Höchft unglücklich nimmt es fich dann aus,
wenn in einem der folgenden (IX.) Capitel die Ueber-
fchrift von Jndependant Speculalions of the Child-life1 redet
und uns unter diefem Titel die Speculationen des chrift-
lich gefärbten Gnofticismus vorgeführt werden. Und fo
ift und bleibt der Gefichtswinkel ein fchiefer, und im Verlauf
des Werkes zeigt fich auch immer wieder der andere
angedeutete Mangel: dafs der Verf. den gegenwärtigen
Stand von nur zu vielen der einfchlagenden Fragen
nicht kennt, dafs er in Fällen, wo die Anflehten der
Forfcher auseinander gehen, eine Mittelftrafse wählt, auch
wo die Differenzen der Anflehten zu einer Löfung auf
diefem Wege noch nicht reif find, dafs es ihm mit Einem
Worte weniger auf Akribie in der Darlegung der
Thatfachen, als auf eine gewiffe gutmüthige Breite der
viel mit biblifchen Anklängen gefpickten Reflexionen
ankommt. Durch diefe letztere formelle Figenthümlich-
keit bekommt das Werk den Anftrich einer gewiffen
Sorte von Erzeugnifsen der englifchen Literatur, die nur
darauf berechnet find, dem gutkirchlichen Engländer
Stoff zu liefern für die nun einmal fafhionable Sitte die
Sonntagnachmittage mit religiöfer Leetüre hinzubringen.

Ref. bedauert, dafs fein Urtheil, was den Eindruck
des Werkes im Ganzen und Grofsen angeht, nur auf:
verfehlt — lauten kann. Denn einzelne anziehende Ausführungen
fehlen dem Buche mit nichten. So ift die
politifche Lage zur Zeit Pipin's (B. II, Cap. 23) und die
Geftalt und Bedeutung Karls des Grofsen gut gezeichnet
; auch die Perfönlichkeit Gregor's VII. und fein
Kampf mit dem deutfehen Kaifer ift in das rechte Licht
gerückt, obwohl man eine Auseinanderfetzung mit gewiffen
Gefichtspunkten, welche neuere Darftellungen bezüglich
Heinrich's IV. einnehmen, vergeblich fuchen
würde. So wird ferner im 32. Cap. die von Manchen
überfehene epochemachende Bedeutung von Philipp's

des Schönen Parlament (1302) fehr klar dargelegt —
als der Anfang einer neuen Zeit, mit welcher die geiftige
Führerfchaft an Frankreich übergeht. Endlich wird in
dem 37. Cap. die hohe und eigenthümliche Bedeutung
der mittelalterlichen Kunft für die Entwickelung des
religiöfen Gedankens zwar wortreich, aber doch recht
anfprechend und in grofsen Zügen nicht ohne Originalität
nachgewiefen. Daneben finden fich aber auch wieder
ganz haltlofe Ausführungen: fo wird bei Befprechung
der Inquifition die Ranke'fche Anficht von dem ftaat-
lichen Charakter diefes Inftituts in its Spanish or most
malignant form, übertrieben und dadurch auf den Kopf
geftellt, wenn es Bd. II, S. 149 heifst: [the Inquisition)
. . . passed front the hands of the Church into those of the
State and was thenceforth regarded by the Papacy as an
object of aversion. (!) Woraus die Inquifition hervorgegangen
fei, foll durch das wunderliche Dictum S. 153
erklärt werden: The I. sprang front the revival of the
pagan idea that force is the test of greatness and that
strength is identical with virtue. Lieft man die darauf
folgende halbe Seite, fo wird man in etwa verftchen,
was damit gefagt fein foll: dafs nämlich die Inquifition
den weltlichen Herrfchern dazu dienen follte, jede
Oppofition zu unterdrücken. Dazu hat fie ja in der That
fpäter auch dienen müffen, allein ihre Entftehung erklärt
fich daraus nicht. Der Verf. ift felbft (Bd. II. S. 151)
auf der richtigen Fährte , wenn er diefelbe auf einen
Papft zurückführt — nur, dafs die Inquifition ,its germs
in tlie brain of Innocent ///.'gehabt habe, ift falfch, wie
fchon das bekannte Decret Lucius' III. vom Jahre 1184
; (Manfi XXII, 476) zeigt.

Bonn. Benrath.

Reuter, Herrn., Geschichte der religiösen Aufklärung im

Mittelalter vom Ende des achten Jahrhunderts bis zum.
Anfange des vierzehnten. 2. Bd. Berlin 1877, Hertz.
(IX, 391 S. gr. 89 M. 8. -

Der erfte Band diefes bei mäfsigem Umfang die Re-
fultate ausgebreitetfter und tiefgehendfter Unterfuchungen
knapp zufammenfaffenden Werks hatte die Darftellung
in Abälard gipfeln laffen. Von den Nachwirkungen
diefes Namens ausgehend macht der Verf. im 2. Bande
den Uebergang zum 13. Jahrhundert durch Hinweifung
fowohl auf das Auftreten einer von den kirchlichen Vor-
ausfetzungen unabhängigen (Bernhard Sylvefter) und diefelbe
bedrohenden (Wilhelm v. Conches) philofophifchen

j Weltanficht, als namentlich auf die am ftärkften durch
Gilbertus Porretanus repräfentirte virtuofe Dialektik,
welche trotz aller Verwahrungen für den Glauben durch

! die Zuverficht auf ihre Allmacht die neologifchen Ten-

I denzen ftärkt, wie im neuen Adoptianismus und Nihi-
lianismus fich zeigt, endlich im keckften Uebermuth der
Dialektik bei Simon von Tournay. Wenn R. bei Bernhard
Sylvefter (v. Chartres), für welchen er bereits die
Publication der 2 B. de mundi universitate durch Barach
und Wrobel benutzen konnte, mit Recht das Bedeut-
fame einer aus claffifchen und philofophifchen Elementen
gefchöpften Weltanficht hervorhebt, welche zum Dogma
der Kirche gar kein ausdrückliches Verhältnifs fucht, fo
möchte ich doch faft bezweifeln, ob der von Barach S.

. XV citirte Ausfpruch si theologis fidem praebeas argumen-
iis wirklich die Tragweite habe, welche R. S. 5 unten

ihm beilegt, wenn er daraus fchliefst, Bernhard mifstraue
aller Theologie. Der Zufammenhang, in welchem jene
Worte flehen, (II, 5 S. 40;, fcheint mir wenigftens dazu
noch nicht zu berechtigen. In den folgenden Erörterungen
über Gilbert fowie namentlich über den fog. Adoptianismus
und Nihilianismus erkennt R. bereitwillig die Ver-
dienfte Bach's (Dogmengefch. des Mittelalters) an, erklärt
fich aber (S. 312 Anm. 8), wie mir fcheint mit
Recht, gegen deffen Annahme, dafs es auf dem Lateran-