Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1878 Nr. 12

Spalte:

300-302

Autor/Hrsg.:

Herbst, Wilh.

Titel/Untertitel:

Johann Heinrich Voss. 2 Bde. in 3 Abtheilgn 1878

Rezensent:

Baur, Gustav

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

299 Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 12. 300

nicht unzugänglich, und die Schwächen und Einfeitig-
keiten der von diefem vertretenen Aufklärung und ihrer
utilitariftifchen Pädagogik verkennt er keineswegs. Aber
wenn Andere diefelbe Freiheit fich nehmen, geräth er
in Eifer; und fo begegnet er S. 246 den Bedenken, welche
damals von Käftner und neuerdings von Dahlmann gegen
die allzugrofse Condescendenz der philanthropiftifchen Pädagogik
erhoben worden find, mit einer kurz abfprechen-
den Antikritik, auf welche jene Beiden wohl kaum eine
andere Erwiderung gehabt haben würden, als im Sinne
von Goethe's: ,Und wer mich nicht verftehen kann, der
lerne beffer lefen!' Wir meinen, der Verf. hätte beffer
gethan, anftatt Campe auf eine Höhe zu erheben, nach
welcher diefer felbft nicht trachtete, das Vergängliche
und Bleibende in feinem Streben und Wirken klarer zu
fcheiden, und anftatt fein individuelles Leben allzufehr
auf den daraus fich bildenden Niederfchlag von allgemeinen
Grundfätzen zu beziehen, gründlicher in die Be-
fonderheit und in die vielverzweigten intereffanten und
folgenreichen Verbindungen diefes wirklich edeln und
fchönen perfönlichen und gefelligen Lebens einzugehen.
Das biographifche Denkmal würde darum nicht weniger
anfprechend und ehrenvoll ausgefallen fein; denn Campe
ift eine Perfönlichkeit, welche das volle Licht der Wahrheit
vertragen kann.

Aber der Verf. hat fich durch die ganze Anlage
feines Werkes erfchwert oder unmöglich gemacht, der
Aufgabe einer wahren Biographie gerecht zu werden.
Die individuellen Erlebnifse Campe's und feine Leiftun-
gen in einzelnen Fachern und Lebensgebieten hat er
nicht in jener lebendigen Verbindung behandelt, in welcher
beides in dem Leben eines Menfchen wirklich vorkommt
und z. B. von Haym in feiner Biographie W. v.
Humboldt's, von W. Herbft in feiner Biographie Vofsens
auf mufterhafte Weife dargeftellt worden ift; fondern er
hat beides getrennt. Die fechs Abfchnitte, in welche
der 1. Band zerfällt, führen die Ueberfchriften: I. Bio-
graphifches (S. 3); 2. Zur Religion und Theologie (S. 91);
3. Die Pädagogik (S. 135); 4. Der Jugendfchriftiteller (S.227);
5. Zur Reinigung und Bereicherung der deutfchen Sprache
(S. 259); 6. Der Held der Geiftesfreiheit (S. 353—420).
Indem fo der wefentliche Ertrag diefes Lebens aus dem
Rahmen der eigentlichen Biographie herausgefetzt wird,
mufste diefe nothwendig zu dürftig gerathen; dagegen ift
die Darftellung der Fachleiftungen, durch die ftete Beziehung
auf die concreten Lebensverhältnifse, mit welchen
jene zufammenhängen, nicht mehr eingefchränkt, vielfältig
zu breit geworden. Insbefondere ift der Bericht
über die Art und Weife, in welcher Campe an der
Sprache Wieland's, Herder's, Goethe's, Vofsens und
Kant's herumgefchulmeiftert hat (S. 266—336), in diefer
Ausführlichkeit um fo mehr ein hors d'oeuvre, als diefe
pedantifche Kritik gröfstentheils gar nicht von Campe
felbft, fondern von feinen Mitarbeitern herrührt und zugleich
die allerfchwächfte Seite feiner literarifchen Thä-
tigkeit bildet. Uebrigens zeigen die den 7. Abfchnitt
(den 1. des 2. Bandes, S. i—55) bildenden ,Poetifchen
Verfuche', dafs Campe der Sinn für Poefie, deren kühneren
Flügen er zu folgen verfchmähte, keineswegs
fehlte, wenn auch in der dünnen Luft der Aufklärung
das Gefühl dafür fich verflüchtigt hatte, dafs die paro-
diftifche Behandlung zweier unferer trefflichften Kirchenlieder
ein ethifche wie äfthetifche Gefchmacklofigkeit ift.
Der 8. Abfchnitt (S. 57—412) bringt dann zu gutem
Schlufs den brieflichen Nachlafs, oder vielmehr aus mehr
als vierhundert Briefen, welche Campe's Nachlafs um-
fafst, eine Auswahl von etwa hundert. Eine Notiz
über diejenigen Correfpondenten, welche in diefer Auswahl
keine Berückfichtigung gefunden haben, wäre doch
wünfchenswerth gewefen; und verwunderlich ift, wie in
der Biographie keiner eingehenderen Bemerkung über J.
N. Böhl von Faber, fo hier keinem Briefe von ihm zu
begegnen. Diefer hochbegabte Zögling Campe's, der

Johannes im Robinfon, war und blieb ihm und feinem
Haufe am allerinnigften verbunden, auch nachdem er
1813 zur fömifchen Kirche übergetreten war — wohl
nicht obgleich, fondern eben weil er in feiner Jugend
keinen anderen Religionsunterricht als den der philanthropiftifchen
Aufklärung empfangen hatte. Die Lebens-
fkizze von ihm, welche eine geiftvolle und edle Frau aus
der Campe'fchen Familie ,nach feinen eigenen Briefen'
verfafst hat (Hamburg 1858), hätte wenigftens für die
Biographie das erforderliche Material geboten, falls in
dem Nachlafs keine Originalbriefe von Böhl fich mehr
vorfanden. Sonft wäre zu den kurzen biographifchen
Notizen, welche Leyfer den Briefen der einzelnen Brief-
fteller vorausgefchickt hat, hie und da ein Notabene zu
fetzen. Es klingt doch fonderbar, wenn es in einem Buche
von beinahe 1000 Seiten, deffen Abfaffung zur Sicher -
ftellung bibliographifcher Bemerkungen wahrlich Zeit
genug liefs, II, 117 von Herder heifst: ,Die ,Briefe zur
Beförderung der Humanität' erfchienen unferes Wiffens
zu Riga 1793 bis 1797'. Den S. 130 erwähnten Franz
Ferdinand von Kleift (1769—1797) mit dem bekanntlich
1759 bei Cunnersdorf gefallenen Dichter des Frühlings zu
verwechfeln, der mit dem damals erft dreizehnjährigen
Campe fchwerlich correfpondirt haben kann, war keine
Gefahr; eher noch wäre vor der Verwechslung mit
Heinrich von Kleift (1767 —1811) zu warnen gewefen.
Der Freiherr von Knigge aber würde fich gewifs felbft
höchlich verwundert haben, wenn er fich wegen feines
ftürmifchen und ruhelofen Aufklärungseifers mit Hutten
verglichen gefehen hätte, wie S. 157 gefchieht- —, Ab-
gefehen davon, dafs I, S. 339, Anm. i: VII ftatt VIII
zu lefen fein wird, find mir Druckfehler nicht aufgeftofsen,
und was ich in Erfüllung der Recenfentenpflicht auszuftellen
hatte, foll die Anerkennung nicht ausfchliefsen, dafs der
Verf. durch das dargebotene Material wie durch deffen
Verarbeitung über eine in ihrer Zeit hervorragende und
bis heute fortwirkende Perfönlichkeit mannigfaltige Belehrung
giebt, die nur noch ausgiebiger und erfreulicher
fein würde, wenn Manches, was jetzt vereinzelt dafteht,
lebendig verbunden wäre und wenn durch ferneres Eindringen
in die damaligen Zeitverhältnifse wie in Campe's
Lebensbeziehungen die Darftellung einen tieferen Hintergrund
und einen belebteren Vordergrund gewänne, wozu
eine neue Auflage Gelegenheit geben möge. Die mufterhafte
Ausftattung, welche man an den Erzeugnifsen der
Verlagshandlung gewohnt ift, durfte bei diefem Werke
am wenigften fehlen, und ein vortreffliches photographi-
fches Portrait des Ahnherrn dient ihr zur befonderen
Zierde.

Leipzig. G. Baur.

Herbst, Wilh., Johann Heinrich Voss. 2 Bde. in 3 Ab-
theilgn. Leipzig 1872—76, Teubner. (XI, 342; VII,
364 u. VI, 357 S. gr. 8.) M. 22. -
Was wir in der Biographie Campe's von Leyfer zu
defideriren hatten, das ift in dem vorliegenden Werke ge-
leiftet, deffen Verf. fich fchon durch feine vor Kurzem
in 4. Auflage erfchienene Lebensbefchreibung des Wandsbecker
Boten (Gotha, F. A. Perthes, 1878) als ein Mei-
fter in diefem Fache bewährt hat. Ueberau merkt man,
dafs der Verf. feine bezüglichen Studien nicht erft ad
hoc gemacht hat, fondern dafs er in der Zeit, aus welcher
er uns eine bedeutende Perfönlichkeit vorführt,
längft heimifch geworden ift und darum aus dem Vollen
fchöpft und feinen Stoff vollftändig beherrfcht. Das
überaus reiche gedruckte und handfchriftliche Quellenmaterial
ift auf das forgfältigfte zufammengetragen und
benutzt. Niemals wird eine Lücke im Zufammenhang
der Thatfachen durch allgemeine Redensarten verhüllt,
fondern überall fühlt man den feften Boden urkundlicher
Begründung unter den Füfsen, und von Band zu
Band macht fich die im Einzelnen forgfam ergänzende