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Ausgabe:

1878

Spalte:

297-300

Autor/Hrsg.:

Leyser, J.

Titel/Untertitel:

Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. 2 Bde 1878

Rezensent:

Baur, Gustav

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297

Theologifche Literaturzeitung. 187S. Nr. 12.

298

lieh wohl begnügt, über die von diefer Stellung feines
Autors unabtrennbaren Mängel der Auffaffung eine zu-
fammenfaffende Kritik zu geben, nicht aber Schritt für
Schritt an deffen Ausführungen einen Mafsftab angelegt,
dein gegenüber fie eben incommenfurabel fein müffen.
Calvin behandelt die Gegenftände der Ethik nicht als
theoretifcher Ethiker, fondern als belehrender Seelforger
und rechnet darum überall mit gegebenen Gröfsen des
inneren Lebens, ohne fie pfychologifch zu unterfuchen.

Diefe Ausftellung hebe ich hervor, weil ich auf dem
eingefchlagenen Wege nicht die erwünfehte Eörderung
gefchichtlicher Kunde erwarten kann. Indem ich auf
die weitere Erwähnung einzelner Anftände fowie einzelner
fchätzenswerther Belehrungen verzichte, wiederhole ich
den Dank für die Emfigkeit, mit welcher von dem Verf.
jedem die Wege gebahnt find, der fich durch eigene
Befchäftigung mit Calvin's Schriften eingehender über
feine fittlichen Anfchauungen unterrichten will.

Halle a. S. M. Kahler.

Leyser, Dr. J., Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild
aus dem Zeitalter der Aufklärung. Mit Portrait (in
Lichtdr.). 2 Bde. Braunfchweig 1877, Vieweg & Sohn.
(IX, 420 u. 412 S. gr. 8.) M. 14. —

Je mehr die Kirche aufgehört hat, ein abgefchloffe-
ner und fertiger Organismus zu fein, deffen Bedeutung
und Recht als felbftverftändlich allgemein anerkannt wird;
je mehr fie beftrebt fein mufs, alle durch ihr Wefen
geforderten und geftatteten Mittel zu fammeln und zu
gebrauchen, um im Zufammenwirken mit unterftützenden
und im Kampfe mit widerftrebenden anderweiten Kräften
des focialen Lebens als der kräftigfte Factor der fittlichen
Cultur fich zu behaupten und geltend zu machen: defto
weniger darf auch die kirchliche Wiffenfchaft innerhalb
der herkömmlichen Schranken einer abgefchloffenenFach-
gelehrfamkeit fich halten, vielmehr mufs fie, eingedenk
des apoftolifchen Wortes ,Alles ift euer', mit allen in der
menfehlichen Gefellfchaft wirkenden Mächten in lebendiger
Fühlung bleiben und vor allem den an fie zunächft
angrenzenden Gebieten des geiftigen Lebens, wie der
Literatur und der Pädagogik, eine thätige Aufmerkfam-
keit widmen. Und fo wird es ja wohl nicht als Contre-
bande angefehen werden, wenn Befprechungen von lite-
rarifchen Erzeugnifsen aus folchen Gebieten in den Spalten
der Theologifchen Literaturzeitung erfcheinen.

Bei dem Namen J. H. Campe denken wohl die
meiften gleich an RoSinfon Crufoe und find verfucht,
den Verfaffer diefer und anderer Kinder- und Jugend-
fchriften, weil er ihnen eben nur in diefer Eigenfchaft
bekannt ift, zu unterfchätzen. Das vorliegende Werk
dagegen beweift, dafs der Mann unter feinen Zeitgenoffen
eine höchft bedeutende, einflufsreiche und ehrenvolle
und dabei wohlverdiente Stellung einnahm. Am fchla-
gendften wird dies durch den faft den ganzen 2. Band
einnehmenden Briefwechfel bezeugt, welcher in einer
grofsen Zahl meift bisher ungedruckter Briefe eine fehr
werthvolle Gabe bietet und in welchem beifpielsweife
neben vielen Gröfsen zweiten und dritten Ranges,
Kant und mit Ausnahme Goethe's fämmtliche Heroen
unfercr neueren claffifchen Literatur, Klopftock, Wieland,
Leffing, Herder und Schiller, vertreten find. Befonders
zahlreich find die Briefe der beiden Humboldt, welche
dem Lehrer ihrer Kindheit ihr Leben lang ein pietätsvolles
und dankbares Andenken bewahrten. Aber auch
Correfpondenten fürftlichen Standes, wie Carl Wilhelm
Ferdinand von Braunfchweig, Friedrich Wilhelm II. und
Prinz Louis von Preufsen, der edle Leopold Friedrich
Franz von Deffau u. a., fehlen nicht. Diefes und anderes
handfehriftliche Material wurde dem Verf. durch Campe's
Nachkommen zur Verfügung geftellt, welche ,ein mög-
lichft genaues und vollftändiges Lebensbild ihres Ahnherrn
zu befitzen und damit ein Denkmal kindlicher
Liebe am Grabe eines guten und vielgeliebten Menfchen
aufzurichten' wünfehten. Leyfer war auf feine Arbeit durch
feine Schrift über Bahrdt vorbereitet (Karl Friedrich
Bahrdt, der Zeitgenoffe Peftalozzi's, fein Verhältnifs zum
Philanthropinismus und zur neuern Pädagogik. Ein Beitrag
zur Gefchichte der Erziehung und des Unterrichts.
Zweite verbefferte Auflage. Neufladt a. d. H. 1870),
und nachdem er hier das ,cnfant terrible' der Aufklärung
und des mit ihr zufammenhängenden Philanthropinismus
behandelt hatte, war ihm die erfreulichere Befchäftigung
mit dem edelften Vertreter jener Richtung und Beftreb-
ung wohl zu gönnen. Denn als folchen dürfen wir
Campe neben Salzmann unbedenklich bezeichnen: jener
hat vorzugsweife als pädagogifcher Schriftfteller, wie
diefer vorzugsweife als praktifcher Erzieher den Grund-
fätzen der philantropiftifchcn Pädagogik den befonnenften
und reinften und darum auch fruchtbarften Ausdruck
gegeben. Dafs nun in der fpäteren Schrift manche, zum
Theil wörtliche Reminifcenzen aus der früheren vorkommen
, mag man natürlich finden; aber die in der Schrift über
Bahrdt (S. 4) gebrauchte Bezeichnung der Xenien von
Goethe und Schiller als ,der Blitzftrahlen des jovifchen
Doppeladlers' kommt uns doch nicht fo fchön und treffend
vor, dafs wir mit dem Verf. das Bedürfnifs empfänden, fie
in dem Buch über Campe I, S. 337) wörtlich wiederholt
zu fehen. Ueberhaupt ift es dem Verf. nicht durchweg
gelungen, feine Diction von phrafenhafter Ueber-
fchwenglichkcit frei zu halten. Es hängt dies mit dem
allzu panegyrifchen Charakter feiner Darfteilung zufam-
men, welcher fich theils aus der Freude erklärt, nach der
früheren Befchäftigung mit einem wenig lobenswerthen
Subject es nun mit einem Manne zu thun zu haben, an
welchem wirklich viel zu loben ift, theils aus der Be-
ftimmung des Buches, zugleich ein Denkmal der Familienpietät
zu fein. Schon das oft gebrauchte und mifs-

I brauchte ,He was a man1 u. f. w., welches Hamlet feinem
Vater nachruft, ift nicht die richtige Unterfchrift unter

I dem Bilde eines Mannes, zu deffen vorherfchenden Charakterzügen
eine leicht erregbare FImpfänglichkeit gehört,
eine nervöfe Reizbarkeit, welche ihn eben die Arbeit

! mit der Feder dem unmittelbar in das Leben eingreifenden

| praktifchen Handeln vorziehen liefs, und bei aller Klarheit
und Fintfchiedenheit, womit er feinen Standpunkt vertrat,
doch eine vorfichtige Milde. Noch weniger aber pafst
es zu Campe's Wefen, wenn er im Schlufsabfchnitte des
1. Bandes als ,der Held der Geiftesfreihcit' präconifirt
wird. Das mag von Leffing gelten, denn zum Heldenthum
gehört einmal ein grofses und umfaffendes Ziel,
dann ein mächtiger Widerftand und endlich eine gewaltige
Kraft in deffen fiegreicher, oder doch trotz aller

I Gefahren ausdauernder Bekämpfung. Campe aber hat,
abgefehen von feiner vorübergehenden Schwärmerei für
die franzöfifche Revolution, gegenüber den grofsen Be-

| ftrebungen fchöpferifcher Genialität fich wefentlich ernüchternd
verhalten und einen befchränkten Kreis für
fein Intereffe und Wirken fich abgegrenzt, fo dafs er zu

I Goethe in Karlsbad einmal fagen konnte: ,Ich habe vor

| den Fähigkeiten Ihres Geiftes allen Refpect! Sie haben
in verfchiedenen Fächern eine erftaunliche Höhe erreicht.

I Aber, fehen Sie, das find alles Dinge, die mich nichts
angehen, und auf die ich gar nicht den Werth legen
kann , den andere Leute darauf legen'. In dem Wirk-
ungskreife aber, welchen er als feine eigentliche Domäne
anfah, begegnete ihm kaum ein Widerftand, fondern all-
feitige Zuftimmung. Und in den Anfechtungen, welche

! ihm feine Begeifterung für die Prefsfreiheit und die franzöfifche
Revolution zuzog, fand er an der wirklich hel-
denmüthigen Ehrenhaftigkeit und Gerechtigkeit feines
Herzogs einen fo kräftigen Halt, dafs er feines durch
eigene Tüchtigkeit erworbenen Anfehens und Wohl-
ftandes bis an fein Ende fich erfreuen konnte. Uebrigens
ift Leyfer einer nüchterneren Betrachtung feines Helden