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Ausgabe:

1878 Nr. 12

Spalte:

295-297

Autor/Hrsg.:

Lobstein, P.

Titel/Untertitel:

Die Ethik Calvins in ihren Grundzügen entworfen. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Ethik 1878

Rezensent:

Kähler, Martin

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295

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 12.

296

Edicts von Nantes aufhört und fowohl der Camifarden-
aufftand wie die Neubildung der proteftantifchen Kirche
durch Antoine Court, deffen inftructive Biographie von
Edm. Hugues wenigstens von Seite des Herausgebers
zu erwähnen gewefen wäre, mit Stillfchweigen übergangen
find. — In der zweiten Abtheilung, welche im
Ganzen unftreitig zu dem Beften und Eigenthümlichften
des Werkes gehört und nicht blofs für das vom Verf. in
feiner fchriftftellerifchen Thätigkeit vorzugsweife behandelte
calixtinifche Zeitalter, fondern fchon für die Lehr-
ftreitigkeiten des 16. Jahrh. auf der eingehendften und
felbftändigften Quellenforfchung beruht, ift es einerfeits
die Beurtheilung von Männern wie Flacius, die Ref. bei
aller principiellen Uebereinftimmung mit dem Verf. doch
beanftanden möchte; fie verdienten es doch wirklich,
auch ihrerfeits nicht mit der fpäteren fo viel kleinlicher
und unfelbftändiger gewordenen Orthodoxie zufammen-
geworfen, fondern aus ihren eigenen, zum Theil echt
proteftantifchen Motiven heraus und in ihrem bei aller
Schroffheit und Rohheit der Aeufserung doch theilweife
fo grofsartigen Wefen gewürdigt zu werden — fei's auch
nur um den Gegenfatz derfelben zu diefen ihren Nachfolgern
zum Bewufstfein zu bringen. Andererfeits erfcheint
dem Ref. die Genefis der pietiftifchen Bewegung zu aus-
fchliefslich von der Wirkfamkeit Spener's hergeleitet und
ihr Zufammenhang mit der myftifch asketifchen Diafpora
und der durch fie verbreiteten Zeitftimmung, wie derfelbe
doch fchon von Göbel und durch andere fich ihm an-
fchliefsende Arbeiten ins Licht geftellt worden ift, zu
wenig berückfichtigt; Perfönlichkeiten wie Gichtel und
Jane Leade, Peterfen und Gottfried Arnold haben nachweisbar
auf die Entftehung und die Eigenart deffen, was
urfprünglich Pietismus hiefs, einen kaum geringeren Ein-
flufs ausgeübt als Spener, und die hohe Bedeutung des
Letzteren wird wahrlich nicht verringert, wenn man ihn
allmählich ftatt als den Urheber der ganzen Bewegung
vielmehr als den anzufchauen fich gewöhnt, der fie durch
fein befonnenes, anerkennendes Eingehen auf ihre Forderungen
und Beweggründe für die Kirche in Dienft
genommen und damit zugleich gefundern, dem Reiche
Gottes wirklich angehörenden Zielen entgegengeleitet hat.

Ueber den Abfchlufs des ganzen Werkes, wie ihn
ein kürzerer dritter Band mit der Gefchichte des letzten
Jahrhunderts zu bringen hätte, erklärt der Herausgeber
noch nichts Beftimmtes fagen zu können. Hoffentlich
bleibt er uns, da ohne ihn in der That dasfelbe den
Charakter des Unvollftändigen an fich tragen würde,
doch nicht lange vorenthalten und bringt neben einem
Gefammtregifter, deffen vorläufige Entbehrung den Gebrauch
der vorliegenden Bände doch einigermafsen
erfchwert, auch noch die bis jetzt in denfelben fehlende
Gefchichte der orientalifchen Kirchen nach, für deren
Redaction ja wiederum der bisherige Herausgeber als
der denkbar zuverläffigfte und willkommenfte Führer
dürfte begrüfst werden.

Bafel. R- Stähelin.

Lobstein, Privatdoc. Lic. P., Die Ethik Calvins in ihren
Grundzügen entworfen. Ein Beitrag zur Gefchichte
der chriftlichen Ethik. Strafsburg 1877, Schmidt.
(152 S. gr. 8.) M. 3. -

Von neuem wird die Frage nach ,der moralifchen
Nutzbarkeit' des Chriftenthumes lebhaft erörtert; in
folcher Zeit gehört der Gefchichte der Ethik eine be-
deutfame Stimme. Ehe indefs ein befriedigendes Gefammt-
bild derfelben entworfen werden kann, bedarf es noch
fehr der einzelnen ,Beiträge'; daher hat man es dem
Verf. aufrichtig zu danken, dafs er das obige Seitenftück
zu Luthardt's Schrift über den deutfchen Reformator
dargeboten hat.

In der Einleitung berichtet er über die benützten

Quellen und fogleich an diefer Stelle fei es hervorgehoben
, wie fchätzenswerth die reichliche Herbeiziehung
der exegetifchen und praktifchen Schriften Calvin's ift.
Das einzelne Gebiet auszufchöpfen und dann in Ueber-
ficht für die zufammenfaffende Arbeit zugänglich zu
machen, ift ja die Aufgabe der gefchichtlichen Monographie
. — Daran fchliefst fich der Bericht über die Art,
wie Calvin die philofophifche und die chriftliche Sittenlehre
unterfcheidet, und die vorläufige Mittheilung der
befolgten Ordnung der Stoffe, welche Calvin nicht an
einer Stelle zufammenfaffend behandelt hat. Als Gegen-
ftand wird ,das neue Leben des Chriften' beffimmt und
dann im einzelnen deffen Princip Cap. 1—3, deffen Merkmale
, Formen und Grundfätze Cap. 4—7 und deffen Ziel
Cap. 8 behandelt. Und zwar näher 1. die obj. Grundlage
oder die Erwählung, 2. das fubj. Princip oder der
Glaube, 3. die Bedingung und Vorausfetzung oder die
chriftl. Freiheit. Ferner 4. die Norm oder der Dekalog,
5. die Entftehung und die Entwicklung oder die poeni-
tentia, 6. die Bewährung oder die Selbftverleugnung,
7. die Bethätigung in der Gemeinfchaft, Familie und
Gefelligkeit, Staat und Kirche. Endlich 8. das Ziel oder
die chriftliche Vollkommenheit. Der Schlufs giebt eine
klar gefafste Ueberficht der Ergebnifse, und in ihr tritt
fcharf heraus, was auch der Verf. anderwärts felbft betont
, dafs diefe gefchichtliche Darfteilung eigentlich eine
Darlegung ift, wie weit die erörterten Gedanken Calvin's
der Theologie Alb. Ritfchl's entfprechen oder nicht.
1 Selbltverftändlich ift die in enge Grenzen gewiefene
1 Anzeige einer anwendenden Schrift nicht der Ort zur
Auseinanderfetzung mit jenen Grundfätzen, oder zu einer
Unterfuchung darüber, wie weit diefelben mit den Ge-
i danken der Reformatoren übereinftimmen oder fich an
I diefe anknüpfen laffen; daher begnüge ich mich mit
diefer Charakteriftik des theologifchen Verfahrens.

Am lehrreichften erfcheinen die Ausführungen über
den Dekalog, die poenitentia und die Selbftverleugnung;
zumal der Nachweis, dafs Calvin die Giltigkeit des Ge-
fetzesandeutungsweife durch das Heilsbewufstfein begründet
, und die mortificatio mit dem Evangelium verknüpft.
Doch bleibt auch hier der Eindruck, dafs es zu keinem
Bilde der Anfchauung Calvin's aus deren innerftem Zuge
heraus und aus einem Guffe kommt, weil er auf ihm
fern liegende Gefichtspunkte hin verhört wird. Calvin
hat, wie mir Rheinen will, nicht nur -,die Abzweckung
der erften Tafel (des Dekal.) auf die zweite nirgend
klar beffimmt', fondern feine theologifche Grundanfchau-
ung fordert eher das umgekehrte Verhältnifs; und von
I der Zufammengehörigkeit der Religion und Sittlichkeit
! hat ihm die Erkenntnifs nicht nur ,vorgefchwebt', fondern
I fie beffimmt deutlich alle feine Ausfagen; nur hat er
freilich die heute beliebte Verhältnifsbeftimmung beider
nicht geahnt. Am auffälligften ift jenes Auseinanderklaffen
des angewandten Schema und der behandelten
Denkweife bei der Erörterung des ,Zieles'; vergeblich
wird bei Calvin nach einer hohen Schätzung des Begriffes
,Vollkommenheit' gefucht; derfelbe ift den Reformatoren
ein untergeordneter, ihnen nur durch die Polemik gegen
die perfectio evangelica d. h. die katholifche Vollkommenheit
nach'Mafsgabe der concilia evangelica an die Hand
gegebener. Dagegen vermifst man in der Darftellung
eine Behandlung der Hoffnung, welche in Calvin's Erörterungen
eine bedeutfame Stelle einnimmt und dahin
weift, wo er das Ziel des neuen Lebens fuchte. (Das
in die zu Grunde gelegte Partie der institutio eingefügte
Cap. de meditatione fnturae vitae findet, fo weit ich fehe,
z. B. keine Verwerthung.)

Der Verf. hat doch wohl in der Durchführung wie
in der Fragftellung S. 5 überfehen, dafs es für Calvin
,einen Gegenftand der Ethik' deshalb überhaupt nicht
gab, weil er eine Ethik in beftimmter Unterfcheidung
von der Dogmatik nicht kannte; weil ihm die methodi-
fchen Gefichtspunkte dafür abgingen. Sonft hätte er